Vor der Zerstörung Jerusalems haben die Jesusanhänger, die alle Juden waren, sich als Bewegung innerhalb des Judentums verstanden, auch wenn sie in Spannung standen zu dem Hohen Rat ( = die Behörde, die umstrittene Angelegenheiten des Judentums amtlich regelte).
Denn die 613 Gebote des Judentums galten nach wie vor für sie, und der Tempel war für die urchristliche Gemeinde in Jerusalem ein Anbetungs- und Verkündigungsort.
Aber kurz vor der Zerstörung Jerusalems durch die Römer sind die Judenchristen geflüchtet (nach Pella östlich des Jordans).
Weil sie sich von der heiligen Stadt abgesetzt und sie gegen die Römer nicht bis zum bitteren Ende verteidigt hatten, entstand eine Spaltung zwischen Juden und Judenchristen, die nicht mehr rückgängig zu machen war.
Die Kluft zwischen Juden und Christen wurde bei dem ersten Konzil der Christenheit in Nizäa im Jahre 325 offiziell bestätigt, als es Christen verboten wurde, den Sabbat zu halten, an Pessach ungesäuertes Brot zu essen oder sonstige jüdische Gebräuche zu befolgen. Das heißt: wenn Jesus und seine Jünger zu diesem Zeitpunkt gelebt hätten, wären sie von der Christenheit ausgeschlossen worden.
Im Laufe der Jahrhunderte wurde die Beziehung zwischen Christen und Juden durch Schuldzuweisungen und Verschwörungstheorien vergiftet:
Juden wurden als „Gottesmörder“ bezeichnet, es hieß z. B. „DIE Juden ( = alle Juden an allen Orten und aus allen Zeiten) hätten Jesus ans Kreuz gebracht.“
Juden wären „Brunnenvergifter“, „Hostienschänder“, brauchten angeblich das Blut christlicher Kinder für ihre Riten, u. s. w.
Bis zum dritten Reich gab es christliche Theologen, die die Meinung vertraten, dass das Leiden der Juden als Strafe Gottes zu verstehen war.
'Die Wurzel trägt Dich', Sieger Köder. © Sieger Köder.
Inzwischen ist eine Wende eingetreten. Es wird offenbar nicht mehr ernsthaft behauptet, dass die Erwählung Israels als Volk Gottes hinfällig ist (denn wer darf es sich anmaßen, feststellen zu wollen, wer oder was von Gott verworfen ist?), sondern es wird von Kirchensynoden amtlich bestätigt, dass der Bund Gottes mit Israel immer noch gilt (wie Paulus schon im Römerbrief betonte).
Außerdem hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass Christen das Judentum verstehen lernen müssen, wenn sie Jesus und das Neue Testament begreifen wollen, die im Judentum verwurzelt waren.
Auch gibt es jüdische Religionswissenschaftler, die das Neue Testament als jüdische Schrift auslegen, denn das Neue Testament enthält mehr als 1100 Zitate aus dem Alten Testament und ist geprägt von alttestamentlicher Symbolik und jüdischem Sprachgebrauch.
Juden und Christen brauchen einander, um den eigenen Glauben klarer zu definieren.
Und der Kreis hat sich geschlossen: wie am Anfang gibt es gläubige Menschen, die gleichzeitig Juden und Christen sind; sie nennen sich „Messianische Juden“ oder auch „Jews for Christ“.
Das Verhältnis zwischen Juden und Christen bringt Paulus auf den Punkt, wenn er zu den Heidenchristen in Rom schreibt: „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel trägt dich.“
(Römerbrief 11, 18)
Anlässlich eines Religionsgespräches in Stuttgart im Jahr 1933 gab es eine Aussage des jüdischen Philosophen Martin Buber:
„Ich lebe nicht fern von der Stadt Worms, an die mich auch eine Tradition meiner Ahnen bindet, ich fahre von Zeit zu Zeit hinüber.
Wenn ich hinüberfahre, gehe ich immer zuerst zum Dom. Das ist eine sichtbar gewordene Harmonie der Glieder, eine Ganzheit, in der kein Teil aus der Vollkommenheit wankt.
Ich umwandle schauend den Dom mit einer vollkommenen Freude. Dann gehe ich zum jüdischen Friedhof hinüber.
Der besteht aus schiefen, zerspellten, formlosen, richtungslosen Steinen. Ich stelle mich darein, blicke von diesem Friedhofsgewirr zu der herrlichen Harmonie empor, und mir ist, als sähe ich von Israel zur Kirche auf.
Da unten hat man nicht ein Quentchen Gestalt; man hat nur die Steine und die Asche unter den Steinen. Man hat die Asche, wenn sie sich auch noch so verflüchtigt hat. Man hat die Leiblichkeit der Menschen, die dazu geworden sind. Man hat sie.
Ich habe sie. Ich habe sie nicht als Leiblichkeit im Raum dieses Planeten, aber als Leiblichkeit meiner eigenen Erinnerung bis in die Tiefe der Geschichte, bis an den Sinai hin.
Jüdischer Friedhof in Worms
Ich habe da gestanden, war verbunden mit der Asche und quer durch sie mit den Urvätern. Das ist Erinnerung an das Geschehen mit Gott, die allen Juden gegeben ist. Davon kann mich die Vollkommenheit des christlichen Gottesraumes nicht abbringen, nichts kann mich abbringen von der Gotteszeit Israels.
Ich habe da gestanden und habe alles selber erfahren, mir ist all der Tod widerfahren: all die Asche, all die Zerspelltheit, all der lautlose Jammer ist mein; aber der Bund ist mir nicht aufgekündigt worden. Ich liege am Boden, hingestürzt wie diese Steine. Aber aufgekündigt ist mir nicht.“
Sieger Köder hat diesen Text von Martin Buber gekannt. Sein Bild "Die Wurzel trägt dich" ist eine Auslegung des Buber-Zitats. Zu sehen ist eine Anspielung auf den Dom in Worms und auf den dortigen jüdischen Friedhof; ein alter Mann liegt wie hingestürzt am Boden unter den Steinen.
Drei Juden im Feuerofen (Daniel 3)
Während der babylonischen Gefangenschaft geschah folgendes:
Der König von Babylon, Nebukadnezar, ließ ein goldenes Götzenbild anfertigen und aufstellen. Alle Amtsträger mussten vor dem Bild erscheinen und bei dem Klang von Musikinstrumenten sofort niederfallen und das goldene Bild anbeten. Wer sich weigerte, sollte in einen Feuerofen geworfen werden.
Drei Juden, Schadrach, Meschach und Abed-Nego, weigerten sich, das Götzenbild anzubeten und wurden zum König gebracht. Sie sagten:
'Drei Männer im Feuerofen', PSch
Wenn unser Gott, den wir verehren, will, so kann er uns erretten; aus dem glühenden Ofen und aus deiner Hand, o König, kann er erretten. Und wenn er's nicht tun will, so sollst du dennoch wissen, dass wir deinen Gott nicht ehren und das goldene Bild, das du hast aufrichten lassen, nicht anbeten wollen.
Nebukadnezar wurde zornig und befahl, man sollte den Ofen siebenmal heißer als vorher machen. Die drei Juden wurden gefesselt und in den Ofen geworfen. Das Feuer war so heiß, dass die Kriegsleute, die diesen Befehl ausführten, von der Hitze getötet wurden.
Aber als Nebukadnezar in den Ofen schaute, erlebte er eine Überraschung:
Da entsetzte sich der König Nebukadnezar und sprach zu seinen Räten: Haben wir nicht drei Männer gebunden in das Feuer werfen lassen? Ich sehe aber vier Männer frei im Feuer umhergehen und sie sind unversehrt; und der vierte sieht aus, als wäre er ein Sohn der Götter.
Diese Geschichte entspricht der Geschichte des jüdischen Volkes. Da, wo das Volk die Gebote Gottes in Treue eingehalten hat, ist seine Identität trotz Vernichtungsversuche unversehrt geblieben. (Diese Geschichte aus dem Buch Daniel wirkt wie eine Vorschau auf die Vernichtungsöfen der Nationalsozialisten).
Die vierte Person, die wie „ein Sohn der Götter“ aussieht, könnte als Christusvorlage verstanden werden. Denn die Menschheitsgeschichte ist wie ein Feuerofen, der ein Volk nach dem anderen aufgefressen hat. Gott hat sich in diesen Feuerofen begeben, indem er mit dem Volk Israel wohnte: in einem Zelt, in einem Tempel und zuletzt in der Person Jesu Christi. Dadurch, dass Gott sein Volk nicht verlassen hatte, sondern mit kompromissloser Treue bei seinem Volk geblieben ist - in der babylonischen Gefangenschaft, auf römischen Kreuzen, in Konzentrationslagern - hat er dazu beigetragen, dass das Judentum erhalten geblieben ist – bis heute.
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