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Predigten von Prädikant Thomas Leichum: Lukas 18, 9-14 Gott nötig zu haben, ist des Menschen größte Vollkommenheit

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Das Bild 'Pharisäer und Zöllner', 2009, Johannes Böckh & Thomas Mirtsch, Mrilabs, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht.

11. Sonntag nach Trinitatis

Gott nötig zu haben, ist des Menschen größte Vollkommenheit Lukas 18, 9-14

Predigt gehalten von Prädikant Thomas Leichum am 23. August 2009 in der Dreikönigskirche

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen. Amen.

Der Predigttext für den heutigen 11. Sonntag nach Trinitatis steht im 18. Kapitel des Evangeliums nach Lukas, die Verse 9 bis 14.

Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis. Es gingen zwei Menschen hinaus in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, dass ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten, von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig.
Ich aber sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.

Liebe Gemeinde,

Zwei ganz verschiedene Menschen gehen in den Tempel zu Jerusalem, um zu beten. Der eine dankt Gott dafür, dass er so ist wie er ist und hebt dabei hervor, wie vorbildlich er sich doch verhält, nicht wie ein Räuber oder Ehebrecher oder eben der Mensch neben ihm. Er lobt sich selbst, seine Leistungen beim Fasten und beim Geben des Zehnten und sieht keinen Anlass, sich vor Gott als Sünder zu bekennen. Der Andere hingegen schlägt sich gegen seine Brust, wagt dabei nicht aufzusehen und bittet Gott darum ihm, dem Sünder, gnädig zu sein.

Der eine ist ein Pharisäer, der Zweite ein Zöllner. Der Pharisäer ist mit sich und seinem Leben vollkommen zufrieden, vergleicht sich voller Hochmut mit seinem Mitmenschen. Der Zöllner dagegen ist sich seiner Sündhaftigkeit bewusst und voller Demut.

Aber als sie nach Hause gehen, ist vor Gott nicht der Pharisäer gerechtfertigt, sondern der Zöllner. Denn nach den Worten Jesu wird der erhöht, der sich erniedrigt und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht.

Der Sinn dieses bekannten Gleichnisses scheint recht klar. Hochmut kommt vor dem Fall, so sagt es schon der Volksmund. Und bei Gott ist es nicht anders. Gott widersteht den Hochmütigen, aber den Demütigen gibt er Gnade.

Klar erscheint uns das auch deswegen, weil das Wort Pharisäer bei uns sofort negative Gefühle auslöst. Der Pharisäer ist sprichwörtlich geworden für den Heuchler. Jemanden als Pharisäer zu bezeichnen, das ist heute eine schlimme Beleidigung. Da halten wir es lieber spontan mit dem Zöllner. Er steht offenbar auf der richtigen Seite, da, wo auch wir immer stehen möchten. Und schon blicken wir selbst hochmütig auf den Pharisäer herab und fühlen uns besser als er.

Wir dürfen aber nicht übersehen, dass dies zur Zeit Jesu genau umgekehrt war. Die Pharisäer waren hoch angesehene Vertreter ihres Volkes, die stärkste Partei Israels. Sie waren wirklich ausgesprochen fromme Leute, eine religiöse Laienbewegung, die im Gegensatz zu vielen anderen das Gesetz und die Überlieferungen der Väter in hohen Ehren hielten und auf die Verheißungen Gottes vertrauten. Sie versuchten wirklich tugendhaft zu leben und setzten sich mit leidenschaftlichem Eifer für die pünktliche Beobachtung des Gesetzes bis in die Kleinigkeiten des täglichen Lebens ein. Selbst vom Ertrag der kleinsten Gartenkräuter gaben sie den Zehnten (Matthäus 23,23), also eine 10%ige Steuer an den Tempel, zum Dank für das, was Gott ihnen im Jahr "geschenkt" hatte. Der Pharisäer, von dem hier erzählt wird, und der sich gerade darauf beruft, dass er immer diesen Zehnten gegeben hat, war also ein typischer Vertreter seines Standes.

Das ist durchaus beeindruckend. Stellen Sie sich vor, die Evangelische Kirche würde heute an Ihre Mitglieder das Ansinnen stellen, 10 % ihrer regelmäßigen Einkünfte für wohltätige Zwecke zu spenden. Die Zahl der Kirchenaustritte würde mit Sicherheit steil nach oben gehen.

Umgekehrt gehörten die Zöllner so ziemlich zu den unbeliebtesten Menschen des jüdischen Volkes. Sie wurden verachtet, da sie mit der verhassten römischen Staatsmacht zusammenarbeiteten und das Volk auspressten, um - nicht zuletzt zu ihrem eigenen persönlichen Vorteil - die Steuern für die Römer einzutreiben.

Von daher ist es schon verwunderlich, dass Jesus so hart über den Pharisäer urteilt und für den Zöllner Partei nimmt. Denn im Grunde hat der Pharisäer so unrecht nicht: sein Lebenswandel ist wirklich vorbildlich. Zumindest bemüht er sich darum. Von dem Zöllner kann man das unter keinen Umständen behaupten.

Der raffgierige Manager, der sein Unternehmen mit Aktienspekulationen gegen die Wand gefahren hat, ist gerechtfertigt, wenn er sein Tun nur bereut. Der brave Bürger, der sich vor der Tagesschau über dessen Raffgier aufregt und bei sich denkt: Gott sei Dank, bin ich bescheiden und ehrlich, mir würde so etwas nie passieren, wird von Jesus verurteilt. Wenn Jesus dass heute so sagen würde, dürften die Meinungen durchaus geteilt sein. Wie kann er uns anständige Menschen mit so jemandem vergleichen?

Aber genau so muss es auf die Zeitgenossen von Jesus gewirkt haben, wenn er die Pharisäer immer wieder außerordentlich hart und unversöhnlich angriff. So heißt es etwa sehr drastisch im Matthäus-Evangelium (Kapitel 23, Vers 23):

„Weh euch, ihr Schriftgelehrten und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben. ... Weh euch, die ihr die Becher und Schüssel von außen reinigt, innen aber sind sie voller Raub und Gier.“

Jesus sieht ganz offenbar die Gefahr, dass die von den Pharisäern praktizierte Form der Gesetzlichkeit zu selbstgerechtem Stolz und liebloser Härte führen kann. Es geht ja gar nicht um den Lebensstil des Pharisäers, den Jesus verurteilt. Es geht um den Vergleich mit dem Anderen. Es geht darum, dass sich der Pharisäer als etwas Besseres dünkt als der Zöllner. Und das ist rein äußerlich betrachtet scheinbar richtig, in Wahrheit aber falsch.

Denn wir Menschen sind nie nur gut oder nur schlecht. Wir sind eine ganz merkwürdige Mischung aus Beidem. Bei all unseren Verdiensten haben wir alle auch unsere schwachen und dunklen Seiten. Äußerlich wirken wir oft anständig.

Aber wo viel Licht ist, da ist auch immer viel Schatten. Und genau darum geht es in dieser Geschichte. Es geht darum, seinen eigenen Schatten zu suchen und anzunehmen. Jeder von uns ist ein Stück weit wie der Pharisäer und jeder ist auch etwas wie der Zöllner.

Wir Menschen sind alle Sünder. Weil wir neben unserer bewusst gelebten Anständigkeit auch immer eine andere, eine negative Seite mit uns herumtragen.

'Sketch of Søren Kierkegaard', ca. 1840, Neils Christian Kierkegaard

Gott nötig zu haben, ist des Menschen größte Vollkommenheit. Das hat der dänische Philosoph Sören Kiergegard einmal gesagt. Nicht ganz einfach zu verstehen ist dieser Satz. Er soll wohl bedeuten: Je perfekter ich mich selber sehe, um so weniger brauche ich scheinbar Gott, ja ich bin mein eigener Gott. Denn den Arzt benötigen nur die Kranken. Ich aber bin nicht krank. Ich bin gesund.

Aber das scheint nur so. Auch wer noch so tugendhaft erscheint, hat seine schwachen Seiten.

Daher gibt es keinen Grund, uns durch Vergleichen über andere zu erheben. In Wirklichkeit sind wir alle gleich schwach. Wir sind alle Sünder.

Der Pharisäer erscheint nach außen stark. Er hat scheinbar alles in seinem Leben richtig gemacht. Und jetzt steht er in vollem Glanze vor allen anderen und auch vor sich selbst. Der Zöllner dagegen ist schwach, er hat versagt, aufs falsche Pferd gesetzt, er ist ein verachteter und gescheiterter Mensch. Und er weiß es.

Die Starken und die Schwachen. So heißt ein Buch des Genfer Tiefenpsychologen Paul Tournier, das seit fast 30 Jahren als mittlerweile ziemlich vergilbtes Herder-Bändchen in meinem Bücherregal steht. Ob die Ausführungen noch dem heutigen Stand der Wissenschaft entsprechen vermag ich nicht zu sagen, mich hat es jedenfalls bis heute immer wieder stark beeindruckt.

Der Autor ist ein gläubiger Mann und seine Grundthese ist Folgende:

Es sei eine große Illusion, dass es zweierlei Menschen gibt: Starke und Schwache. In Wirklichkeit sind sich die Menschen viel ähnlicher, als sie glauben. Was sie unterscheidet, ist ihre äußere Maske, ihre Art nach außen stark oder schwach zu reagieren. In Wahrheit sind alle Menschen schwach, weil alle Angst haben. Sie fürchten sich davor, im Leben erdrückt zu werden. Sie haben Angst, dass man ihre inneren Schwächen entdeckt. Alle haben gewisse verborgene Makel. Sie haben Gewissensbisse wegen irgendwelcher Handlungen, die sie nicht aufgedeckt sehen wollen. Sie haben Angst vor den anderen und vor Gott, vor sich selbst, vor dem Leben und vor dem Tod.

Selbst die Begabtesten, selbst jene, die sich am selbstsichersten gebären, fühlen undeutlich, dass ihr Ruf nicht der Wirklichkeit entspricht, und sie beben bei dem Gedanken, man könne es bemerken. Der gelehrteste Professor, der brillianteste Jurist hat Angst, man werde ihn Dinge fragen, die er nicht weiß. Der redegewandteste Theologe fürchtet, man könne etwas von den ihn heimsuchenden Zweifeln merken. Sie alle fühlen, dass das Mysterium des Lebens viel größer ist, als sie zugeben, und dass der unbekannte Morgen plötzlich ihre Schwäche enthüllen kann. Was die Menschen voneinander unterscheidet, ist nicht ihre innere Natur, sondern die Art, wie sie auf das gemeinsame Elend reagieren. Und gerade die nach außen starken Reaktionen sind immer auch ein Panzer, hinter dem wir unsere Schwächen verbergen.

Gerade für denjenigen, der sich schwach dünkt, ist das ein durchaus tröstlicher Gedanke: Nicht nur ich habe mich mit vielerlei Mühen herumzuplagen. Auch den anderen, von denen man glaubt, sie kennen solche Probleme gar nicht, geht es im Grunde nicht besser.

Wenn dem aber so ist, dann ist es ein grundlegender Fehler, sich über andere zu erheben. Ich bin nicht besser als alle anderen. Ich habe genug damit zu tun, an mir selbst zu arbeiten. Wenn ich auf andere herabsehe und mich selbst besser dünke als ich bin, dann laufe ich Gefahr, mein Leben zu verfehlen. Jesus sagt das ganz deutlich. Und weil es so wichtig ist, auch so drastisch.

Und das betrifft nicht nur das Verhältnis zu unseren Mitmenschen, sondern genauso unseren Glauben, unser Verhältnis zu Gott. Das Gleichnis vom Pharisäer und vom Zöllner ist gerade an die gerichtet, die sich anmaßen, fromm zu sein.

Auch im Glauben kann zu große Selbstsicherheit und Selbstgewissheit ein großer Fehler sein.

Paul Tournier berichtet dazu aus seiner Praxis Folgendes:

„Ich bin Leuten begegnet, die ohne zu zögern erklärten: „Ich habe nie gelogen“ oder „Ich fürchte mich vor nichts“ oder „Seit ich mein Leben Gott übergeben habe, kenne ich keine Schwierigkeiten mehr. ..
Ich hörte, wie Gläubige sagten: „Der echte Christ hat keine Sünde mehr“. Und wenn ich ihnen als Antwort über meine eigenen Sünden spreche, so stellen sie diese hartnäckig in Abrede: „Sie werden mir nie einreden, dass ein Mann wie Sie einer Sünde fähig ist“.

Gewiss sind diese Leute aufrichtig, aber jeder echte menschliche Kontakt mit ihnen ist unmöglich. Und sie erdrücken die Schwachen, die sie bekehren wollen. Letztere haben ein scharfes Bewusstsein ihrer eigenen Unzulänglichkeit. In ihrer Schwachheit lassen sie sich durch jene angebliche Vollkommenheit beeindrucken. Ich begegnete einigen, die mir sagten: „Ich kann niemals ein Christ sein, ich vermag niemals frei von Sünde zu sein, wie diese Leute.“ Man braucht nur das Evangelium aufzuschlagen, um zu sehen, dass sie Christus näher sind, als jene, die ihnen das Christentum predigen.“

Ich habe dies als außerordentlich befreiend erlebt. Wir müssen nicht perfekt sein, auch nicht im Glauben, um zu Christus gehören zu dürfen. Ganz im Gegenteil: Gerade, wenn ich das Gefühl habe, wirklich alles sei perfekt und in Ordnung, dann könnte etwas nicht stimmen.

Wir müssen zum Beispiel auch nicht perfekt sein, wenn wir beten. Ganz im Gegenteil. Der Pharisäer macht viele Worte, aber sie bringen ihn nicht ans Ziel. Der Zöllner bringt nur diesen einen Satz heraus: Gott sei mir armen Sünder gnädig.

Mehr braucht es nicht. Und es braucht auch keine Vergleiche, die uns scheinbar selber größer und dafür andere kleiner machen. Vielmehr sollen wir den anderen so sehen wie er wirklich ist, ein Mensch wie ich auch einer bin, mit all seinen Stärken und Schwächen. Liebenswert, intelligent und engagiert, voller guter Absichten, aber dabei auch begrenzt, sehr begrenzt mit dunklen Seiten wie ich sie auch habe. Den anderen sehe ich nur mit dem Herzen gut, nicht wenn ich mich über ihn erhebe und mich besser dünke als er selbst.

Und dann kann ich auch meine eigenen Schattenseiten ansehen und versuchen, so gut es geht, mit mit ihnen zu leben und zu versuchen, mich zu ändern. Nicht um auf die anderen hinabzusehen, sondern um sie zu verstehen und ihnen ein guter Mitmensch zu sein.

Und weil ich das allein nicht schaffe, ist es gut, dass mir Gott zur Seite steht, ist es gut zu spüren, dass Gott mein ganzes Leben annimmt und unter seinen Schutz stellt. Zu spüren, dass nicht meine Leistungen, meine Mühen, über mich und mein Leben entscheiden. Das ich nicht zu verdrängen brauche, wenn ich wieder einmal gescheitert bin und mich schuldig gemacht habe. Denn wenn wir Gott rufen, ist kein menschlicher Abgrund zu tief, um ihn nicht zu überwinden.

„Denn Gott nötig zu haben, ist des Menschen höchste Vollkommenheit.“

Und der Friede Gottes, welcher höher ist, als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus, unserem Herrn. Amen.

Das Bild 'Pharisäer und Zöllner', 2009, Johannes Böckh & Thomas Mirtsch, Mrilabs, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht.
Das Bild 'Sketch of Søren Kierkegaard', ca. 1840, Neils Christian Kierkegaard, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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