Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Matthäus 28, 16 – 20 Jesus ist der Urmissionar

« Predigten Home

'Irina Ratushinskaya', Mikhail Evstafiev, 2006

6. Sonntag nach Trinitatis

Jesus ist der Urmissionar Matthäus 28, 16 – 20

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. Und Jesus trat herzu und sprach zu ihnen: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des heiligen Geistes und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Matthäus 28, 16 – 20

Es gibt eine russische Dichterin mit dem Namen Irina Ratushinskaya. In den 80er Jahren wurden Ihre Gedichte von dem damaligen Regime als antisowjetische Diffamierung verurteilt. Im Jahre 1982 wurde sie verhaftet - und verbrachte 4 Jahre in sowjetischen Gefängnissen und Arbeitslagern. Sie erlitt in dieser Gefangenenzeit bittere Kälte, ungenügende Kleidung und karge Mahlzeiten. Aber in dieser Zeit erlebte sie zwei Sorten von Wärme. Sie sprach von einer inneren, emotionalen Wärme der Freude und erlebte auch eine umfassende körperliche Wärme - trotz eiskalter Temperaturen. Sie ist davon überzeugt, dass dieses Phänomen, das auch von anderen Gefangenen erlebt wurde, eine direkte Antwort auf Gebet war. Sie schrieb dazu folgendes:

„Glauben Sie mir, es kam oft vor in Isolationshaft in Winternächten: ein plötzliches Erlebnis von Freude und Wärme, von einer deutlichen Erfahrung der Liebe. In solchen Momenten, als ich schlaflos an einer eisigen Mauer kauerte, wusste ich, dass jemand in diesem Moment an mich denkt und vor dem Herrn für mich bittet.“

Diese Erfahrung veranschaulicht, was der heutige Matthäustext verkündet. Dieser Text bezeugt die Allmacht und die Allgegenwärtigkeit Jesu Christi. Jesus Christus kann jede Mauer überwinden, er kann jede Person jederzeit mit seiner Wärme aufsuchen.

Diese göttliche Allgegenwärtigkeit Jesu Christi wird in dem Matthäustext durch das Wort „alle“ betont. Viermal kommt das Wort „alle“ vor:

  • Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden
  • gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker
  • lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe
  • siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende

Christus Pantokrator in der Apsis der Kathedrale von Cefalu auf Sizilien, Gun Powder Ma, 2007.

Das Wort „alle“ ist hier ein göttliches Wort, denn nur Gott darf so reden, wie Jesus hier redet. Dementsprechend wurde Jesus vorher angebetet; denn wie es heißt: „Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder.“ Wortwörtlich heißt es: sie warfen sich vor ihm auf den Boden – die Körpersprache der Anbetung Gottes.

Was dieser Matthäustext bezeugt, ist, dass es ab jetzt keinen Ort auf dieser Erde geben wird, an dem Jesus - als die Konkretisierung der Gegenwart Gottes - nicht anwesend sein wird. Mission ist in erster Linie nicht etwas, was die Jünger machen werden, sondern Jesus selbst ist der Urmissionar. Mission ist seine Tätigkeit. Er ist es, der in alle Welt geht und alle Völker aufsucht. Er ist allgegenwärtig. Er kann in jede Gefängniszelle dieser Erde eindringen. Er kann so anwesend sein, dass man es körperlich spürt. Er kann den abgemagerten Körper einer gefangenen Frau, die mitten im Winter in einer Einzelzelle eingesperrt ist, so erwärmen, dass ihr ganzes Wesen mit Freude und Liebe erfüllt ist.

Aber es gibt dabei menschliche Beteiligung. Die russische Frau spürte, dass jemand für sie betet. Durch Gebet und Zeugnis können sich Christusanhänger an der Allgegenwärtigkeit Jesu Christi beteiligen. Christus besitzt zwar alle Macht im Himmel und auf Erden, aber es hat ihm gefallen, seine Anhänger als Boten einzusetzen, damit sie seine Allgegenwärtigkeit realisieren.

Es gibt z. B. eine Frau, die mit einer Hasenscharte geboren ist, einer angeborenen Spaltung der Oberlippe; bei solchen Menschen ist die Nase schief, die Zähne sind unförmig und die Sprache undeutlich. Sie hat folgendes erlebt:

„In der Kindheit wusste ich, dass ich andersartig war, und ich hasste es. In der Schule haben meine Mitschüler mich immer wieder daran erinnert, dass ich missgebildet war. Ich war überzeugt, dass niemand außerhalb meiner Familie mich lieben konnte. Aber in der zweiten Klasse lernte ich eine Lehrerin kennen, Frau Leonard, die enorm beliebt war. Einmal im Jahr gab es in der Schule einen Hörtest. Wir mussten an der Tür stehen und ein Ohr abdecken: die Lehrerin saß an ihrem Schreibtisch und flüsterte einen Satz, den wir wiederholen sollten. Es ging um Sätze wie z. B. „Der Himmel ist blau“ oder „Hast du neue Schuhe?“ Als ich dran war, hörte ich einen Satz, von dem ich annehmen muss, dass Gott ihn in den Mund von Frau Leonard gelegt hatte, denn dieser Satz änderte mein Leben grundlegend. Er lautete: „Ich wünsche, Du wärest mein Kind.“

Diese Begebenheit veranschaulicht, wie die Gegenwart Jesus Christus verwirklicht wird. Gott kann zwar einer Person direkt ins Herz sprechen, aber trotzdem sind wir Menschen auf gesprochene Worte angewiesen, damit das Wort Gottes eine hörbare und eindeutige Gestalt annimmt. Alle Christusanhänger sind dazu beauftragt, die Stimme Gottes zu sein – so wie die Lehrerin die Stimme Gottes für das Kind mit der missgebildeten Lippe war. Jeder von uns kann für Gott so sprechen, dass seine bedingungslose Liebe vermittelt wird, damit ein Mensch merkt, dass er ein Kind Gottes ist.

Und in diesem Rahmen ist die Taufe zu verstehen. Die Taufe vermittelt die Botschaft: Du bist ein Kind Gottes. Du bist von Gott bedingungslos geliebt und deshalb bist du in ihm geborgen in Ewigkeit. Die Handauflegung bei der Taufe veranschaulicht die Botschaft, dass Jesus Christus, der alle Macht im Himmel und auf Erde besitzt, immer bei dir ist und dich nie verlassen wird. Er ist dir so nahe wie die segnende Hand, die deinen Körper bei der Taufe berührt hat. Die Folgerung lautet: Diese Erkenntnis von der allumfassenden und dauerhaften Gegenwart Jesu Christi soll dein Leben grundlegend prägen, so dass dein Leben ein Zeugnis für andere wird.

'A woman being baptised in Benin', Arnhem, Holland, 2007

Aber kann die Taufe eine solch große Wirkung haben, wenn wir sie nicht bewusst erleben? Kaum jemand von uns kann sich an seine Taufe erinnern, denn die meisten Taufen werden im Säuglingsalter vollzogen. Aber das Entscheidende ist nicht, ob die Taufe bewusst erlebt wird, sondern ob die dauerhafte Anwesenheit Jesu Christi erlebt wird.

Am Anfang wurde die russische Dichterin erwähnt, die so eindeutig die Anwesenheit Gottes in einer Gefängniszelle spürte. Was sie erlebte, ist zwar nicht einmalig, sondern kommt viel öfter vor, als wir ahnen können. Aber es gibt Millionen von Christen, die ein solches dramatisches Erlebnis von der Gegenwart Jesu Christi vielleicht nie bekommen.

Aber wenn Jesus Christus, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, seit der Taufe wirklich dauerhaft bei uns ist, müssten wir das irgendwie spüren. Und tatsächlich: es ist nicht möglich, in Christus eingetaucht zu sein, ohne dass es eine fühlbare Wirkung gibt. Diese Wirkung muss nicht überwältigend sein, sondern kann unauffällig sein.

Es gibt einen anglikanischen Geistlichen in York, der folgendes festgestellt hat:

„Es ist möglich, einen starken Glauben an Gott zu haben, ohne dass es dramatische Erlebnisse gibt. Einige erleben die Wirklichkeit Gottes dadurch, dass sie eine ruhige Zuversicht spüren, dass sie merken, dass sie durch eine unsichtbare Präsenz „begleitet“, „geholfen“ oder „geführt“ werden – aber auch, dass sie herausgefordert werden, Taten der Liebe und des Dienstes zu leisten. Jesus hat seinen Jüngern verheißen: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Millionen von gewöhnlichen Glaubenden, die nie eine herausragende Begegnung mit Gott hatten, haben bezeugt, dass diese Worte Jesu ihre eigene Erfahrung zusammenfassen. Sie bestätigen, dass sie beim Gebet, beim Gottesdienst, bei christlicher Gemeinschaft nicht einem toten Held begegnen, sondern einer lebendigen Person.“

Was dieser Anglikaner schreibt, hat eine Allgemeingültigkeit. Jeder von uns wird irgendwo feststellen können, dass es eine unsichtbare Präsenz gibt, die uns begleitet, hilft, führt und zur selbstlosen Liebe herausfordert.

Unsere evangelische Kirche hat immer betont, dass es nicht auf Gefühle ankommt, sondern auf Wort und Sakrament. Die historische Haltung der evangelische Kirche lautet: Gott ist mit uns durch Wort und Sakrament, egal was unsere Gefühle dazu sagen. Und diese Betonung ist richtig: Glaube ist in erster Linie eine Willensentscheidung, die von Erlebnisreichtum oder von Erlebnisarmut nicht abhängig sein darf.

Aber wir Evangelische neigen dazu, die Gefühlswelt zu vernachlässigen. Und deswegen fehlt bei uns eine missionarische Ausrichtung. Bis vor Kurzem war es sogar in theologischen Kreisen der evangelischen Kirche verpönt, über die Wirkung Gottes im eigenen Leben zu sprechen. Über die segensreiche Wirkung Gottes im eigenen Leben zu sprechen, galt als unsachlich. Es ist ein typisch protestantischer Fehler, die Gegenwart Jesu Christi in dem eigenen Leben zu übersehen. Und es ist ein typisch protestantischer Fehler, den Glauben zu privatisieren. Beide Fehler hängen zusammen. Wo die Gegenwart Jesu Christi nicht wahrgenommen wird, wird es keinen Drang geben, den christlichen Glauben nach außen hin zu bezeugen.

Jeder von uns kann überlegen: Wie werde ich von Christus spürbar begleitet, geführt, getröstet? Wie werde ich von Christus spürbar herausgefordert? Wer getauft ist, wird auf solche Fragen auf jeden Fall Antworten entdecken. Es ist ausgeschlossen, dass Jesus Christus, dem alle Macht im Himmel und auf Erden gegeben ist, mit uns ist bis ans Ende der Welt, ohne dass wir seine Anwesenheit irgendwo und irgendwann erleben. Und nicht nur schwach erleben, sondern tiefgründig und einflussreich. Möge Jesus Christus uns helfen, wahrzunehmen, dass er bei uns ist, dass er alles im Griff hat, dass es ihm um alle Völker dieser Erde geht, dass er uns als seine Vertreter einsetzen will, damit wir seinen Willen verwirklichen, heute und in Ewigkeit. Amen.

Die Photographie 'Irina Ratushinskaya', Mikhail Evstafiev, 2006, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.5.
Christus Pantokrator in der Apsis der Kathedrale von Cefalu auf Sizilien. Gun Powder Ma, 2007. Diese Datei ist lizenziert unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported.
Die Photographie 'A woman being baptised in Benin', Arnhem, Holland, 2007, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.

^ Zum Seitenanfang

PSch