Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 2. Mose 20, 1 – 17 Die zehn Gebote - nicht Gesetz, sondern Gnade

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Offenbarung der zehn Gebote auf dem Berg Sinai

18. Sonntag nach Trinitatis

Die zehn Gebote - nicht Gesetz, sondern Gnade 2. Mose 20, 1 – 17


Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2007

Und Gott redete alle diese Worte: Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht!
Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.
Du sollst den Namen des HERRN, deines Gottes, nicht missbrauchen; denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht. Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt.
Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn. Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird. Du sollst nicht töten. Du sollst nicht ehebrechen. Du sollst nicht stehlen. Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.
Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat. 2. Mose 20, 1 – 17

In meiner Heimat, Kalifornien, sind viele exotische Dinge entstanden. Dazu gehören die Hell´s Angels: die Höllenengel. Die Höllenengel sind eine legendäre Motorradbande, die den Ruf hat, wild und gesetzlos zu sein. Und die Mitglieder dieser Bande haben auch den Ruf, dass sie nie baden.

'Hells Angels Rally, New York City, Tompkins Square Park', 2008, SliceofNYC

Folgende Begebenheit soll vorgekommen sein: Zwei Hell´s Angels waren mit ihren Motorrädern in einer Kleinstadt unterwegs, als sie an einer Fußgängerüberquerung anhielten, weil eine Nonne über die Straße ging. Die Nonne hatte ihren Arm in einer Schlinge. Einer von den Höllenengeln rief zu der Nonne: „Hey, Schwester, was ist mit dir passiert?“ Die Nonne erwiderte: „Ich bin in der Badewanne ausgerutscht und habe dabei meinen Arm gebrochen.“ Die Motorradfahrer sind anschließend weitergefahren und einer fragte den anderen: „Was ist eine Badewanne?“ Die Antwort lautete: „Wie soll ich das wissen? Ich bin nicht katholisch!“

Diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen. Wenn es um die sogenannten zehn Gebote geht, ist die Christenheit vergleichbar mit diesen zwei Motorradbandenmitgliedern. So wie sie eine Badewanne nicht einordnen konnten, so ist es der Christenheit nie gelungen, die zehn Gebote richtig einzuordnen. Die zehn Gebote sind uns so fremd geblieben, wie eine Badewanne für die Höllenengel.

Diese Fremdheit lässt sich an einem einfachen Beispiel deutlich machen. Die Gebote von Sinai schreiben vor, am 7. Tag der Woche zu ruhen: denn am Samstag, der nach biblischer Zeitrechnung mit dem Freitagabend beginnt, soll nicht gearbeitet werden. Es geht darum, Gott nachzuahmen, der am 7. Tag ruhte und es geht darum, die ewige, himmlische Ruhe vorwegzunehmen. Wir Christen halten uns nicht an dieses Gebot. Wir haben uns seit Jahrhunderten nicht daran gehalten. Und es ist uns nicht gelungen, das Ruhegebot auf den Sonntag konsequent zu übertragen. Warum nicht?

Ich möchte an dieser Stelle eine kühne Behauptung machen. Wir Christen halten uns nicht an das vierte biblische Gebot, weil wir überhaupt nicht begreifen, worum es bei den Geboten geht. Wir Christen haben nie gelernt, wie die zehn Gebote gemeint sind. Die zehn Gebote sind für uns so unverständlich wie eine Badewanne für einen Höllenengel.

Der Grund, weshalb wir Christen die Gebote nicht richtig einordnen können, hängt damit zusammen, dass wir das erste Gebot amputiert haben.

Denn was ist das erste Gebot? Schon diese Frage stimmt nicht, denn der Ausdruck „zehn Gebote“ kommt in dem biblischen Text nicht vor. Nur in den Überschriften, die nachträglich von Übersetzern eingefügt wurden, wird man den Ausdruck „zehn Gebote“ finden. Die Bibel kennt keine zehn, sondern 613 Gebote. Die Bibel redet allerdings von „zehn Worten“. Und das erste Wort – nach jüdischer Auslegungstradition - lautet: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe.“ Das zweite Wort lautet – wortwörtlich übersetzt: „Du wirst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die zehn Worte sind nicht befehlend, sondern zusagend formuliert. Es heißt nicht: „Du sollst“ oder „Du sollst nicht“, sondern wortwörtlich übersetzt: „Du wirst“ oder „Du wirst nicht“.

Nach dem Katechismus von Martin Luther lautet das erste Gebot: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ Dieser Satz ist eine Verstümmelung. Denn die vollständige Aussage lautet: "Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft, geführt habe. Du wirst keine anderen Götter haben neben mir.“ Die Verkürzung und Verdrehung des ersten Wortes von Sinai ist verhängnisvoll. Denn aus einer Beschreibung der Heilstätigkeit Gottes ist ein unbegründeter Befehl gemacht worden. Die Amputierung des biblischen Textes an dieser Stelle vermittelt eine völlig falsche Darstellung Gottes. Diese Verstümmelung verwandelt die zehn Wegweisungen in zehn Gesetze, die ohne Begründung da stehen. Aus dem Gott der Befreiung, der in die Geschichte eingegriffen hat, um seine Gnade zu offenbaren, ist ein Gebieter-Gott gemacht worden, der in einem Kommando-Ton den Menschen von oben herab Befehle erteilt. Die Deformation des ersten Wortes von Sinai hat als Folge gehabt, dass wir Christen nie in der Lage waren, einen richtigen Zugang zu den zehn Geboten zu bekommen.

Es gibt eine christliche Klischeevorstellung, dass Judentum eine kaltblütige Gesetzesreligion ist, die einen strafenden Gott verkündet, während wir Christen eine innige Beziehung zu einem gnädigen Gott haben. Aber in Wirklichkeit sind unsere verstümmelten zehn Gebote reine Gesetze – ohne Beziehung zu der Gnade Gottes – während die zehn Worte von Sinai, so wie sie in der Bibel stehen, eine innige Beziehung zwischen Gott und seinem Volk bezeugen, die durch Gnade allein geprägt ist.

Aber wie gesagt - alles hängt davon ab, wie das erste Wort von Sinai verstanden wird. In dem ursprünglichen hebräischen Text gibt es eine verblüffende Zweideutigkeit. Ein Rabbi übersetzte die entscheidende Stelle noch wortwörtlicher als Luther; da heißt es:„Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Lande Ägypten geführt hat, aus dem Sklavenhaus.“ Aber er weist darauf hin, dass es eine zweite Übersetzungsmöglichkeiten gibt: es kann heißen „der dich herausgeführt hat“, oder es kann heißen „ich bin mit dir herausgeführt worden.“ Vielleicht sind sogar beide gleichzeitig gemeint.

'Pharaoh's army engulfed by the Red Sea', 1900, Frederick Arthur Bridgman

Bei diesen zwei Übersetzungsmöglichkeiten geht es nicht bloß um Wortklauberei sondern um eine grundlegende biblische Wahrheit. Israel hat Gott so erlebt, dass er das Schicksal seines Volkes geteilt hat. Er war mit ihnen in dem Sklavenhaus Ägyptens: indem er Israel herausführte, führte er sich selbst heraus. Als Israel später nach Babylon in die Gefangenschaft verschleppt wurde, ist Gott mit seinem Volk ins Exil gegangen; als Israel heimkehrte, kehrte Gott mit ihnen zurück. Und von den Konzentrationslagern bezeugte ein Jude: Gott zeltete dort mit uns. Oder Psalm 139 bezeugt: wenn ein Mensch begraben wird, geht Gott mit ihm in das Grab. Denn es heißt: „Bettete ich mich bei den Toten, siehe, so bist du auch da“. Die Vollendung kam, als Jesus am Kreuz starb: Gott war mit ihm am Kreuz und ging mit ihm in das Totenreich, um das Totenreich von allen Gefangenen zu befreien und den Tod zu vernichten. Solche Glaubensinhalte sind der Hintergrund zu den zehn Worten von Sinai, auch für uns Christen, denn das Volk, das Gott aus Ägypten befreite, sind unsere Vorfahren im Glauben. Als Gott die hebräischen Sklaven aus Ägypten führte, führte er stellvertretend mit Ihnen die ganze Menschheit von der Sklaverei in die Freiheit hinein. Auch wir Christen wurden aus Ägypten befreit.

Aber was ist Freiheit? Die zehn Worte von Sinai definieren Freiheit. Heutzutage wird Freiheit so verstanden, als ob sie bedeuten würde, dass man alles tun und lassen kann, was man will. Aber eine solche Freiheit ist zuletzt eine Last. In den 60er/70er Jahren, als es antiautoritäre Kitas gab, hat ein Kind eine Erzieherin klagend gefragt: „Müssen wir heute schon wieder tun, was wir wollen?“ Die Frage dieses Kindes ist der Inbegriff der Unfreiheit. Wenn man machen kann, was man will, aber nicht weiß, was man wirklich will – das ist die schlimmste Unfreiheit. Die zehn Worte von Sinai definieren Freiheit, und zwar so, dass ein Mensch dabei entdecken kann, was sein Herz wirklich will. Man könnte die zehn Worte von Sinai so zusammenfassen:

Es ist, als ob Gott folgendes sagen würde:

"Ich habe Israel aus der Knechtschaft in die Freiheit geführt, und habe damit eine Beziehung zu allen Menschen dieser Erde eingeleitet. Versetze dich in diese Befreiungs-Geschichte. In dieser Geschichte findest du deine wahre Identität. Und indem du mit Israel durch das Schilfmeer ziehst, indem du mit ihnen durch die Wüste wanderst und siehst, wie ich für mein Volk sorgte, als ich Manna und Wachteln schickte und verborgene Wasserquellen aufbrach, dann wirst du merken, dass du dazu gehörst und eine Beziehung zu mir pflegen darfst, wenn du willst. Du wirst deshalb anderen Göttern nicht nachlaufen wollen, du wirst keine Bilder von mir machen, denn du als Mensch solltest mein Abbild sein: nicht durch ein gegossenes, gemaltes oder geschnitztes Bild, sondern durch lebendige Menschen soll sichtbar werden, wer ich bin. Deshalb wirst du auch meinen Namen mit Ehrfurcht behandeln, du wirst meinen Ruhetag nachahmen, du wirst für deine Eltern sorgen, du wirst Menschen nicht verletzten wollen, indem du Leben abtötest, oder Ehebruch, Diebstahl, Meineid begehst. Weil du innig mit mir verbunden bist, wirst du deine Gier eingrenzen wollen, damit du die Beziehung zu mir nicht betrübst, indem du durch ungezügelte Leidenschaften meine Geschöpfe verletzt.“

Ein Bibelausleger schreibt als Kommentar zu den zehn Worten folgendes:

Die zehn Worte, die mit dem Bekenntnis „Gott hat Israel aus Ägypten geführt“, beginnen, wollen die Menschen einladen, an der Befreiungsgeschichte mitzuwirken, die Gott in dieser Welt durch den Auszug aus Ägypten in Gang gesetzt hat. Die „Zehn Worte“ wollen uns einladen, durch unser Tun das Ja der Erlösung weiterzugeben.

Es gibt dazu eine kleine Erzählung aus Osteuropa. Ein Lehrmeister wurde gefragt, warum es heißt: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten führte“? Warum heißt es nicht: „Ich bin der Herr, dein Gott, der ich Himmel und Erde schuf“? Denn damit wäre deutlich geworden, dass es Gott um die ganze Menschheit geht. Die Antwort des Lehrmeisters lautete: „Wenn Gott sich als Schöpfer von Himmel und Erde vorgestellt hätte, dann wäre das für die Menschen eine Überforderung gewesen. Da hätte der Mensch gesagt: „Das ist mir zu groß, da traue ich mich nicht mitzuwirken.“ Gott aber sprach: Ich bin es, der ich dich aus dem Dreck geholt habe, nun komm heran und hilf mit, andere aus dem Dreck zu ziehen!“

So sind die Gebote gemeint. Gott hat uns aus dem Dreck gezogen und lädt uns dazu ein, andere aus dem Dreck zu ziehen. Um an die Anekdote zu Beginn anzuknüpfen: Die zehn Gebote sind – bildlich gesprochen – wie eine Badewanne für die Seele.
Möge Gott uns helfen, in den zehn Worten von Sinai unsere eigene Befreiungsgeschichte zu sehen und zu verwirklichen.

Die Photographie 'Hells Angels Rally, New York City, Tompkins Square Park', 2008, SliceofNYC, ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 2.0 Lizenz.
Das Bild 'Pharaoh's army engulfed by the Red Sea', 1900, Frederick Arthur Bridgman, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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