Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Matthäus 21, 28 – 32 Erneuerungsbewegungen sehen immer bedenklich aus

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'Guamá River', 1837-1857, Alexander Andreyevich Ivanov

11. Sonntag nach Trinitatis

Erneuerungsbewegungen sehen immer bedenklich aus Matthäus 21, 28 – 32

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005

Was meint ihr aber? Es hatte ein Mann zwei Söhne und ging zu dem ersten und sprach: Mein Sohn, geh hin und arbeite heute im Weinberg. Er antwortete aber und sprach: Nein, ich will nicht. Danach reute es ihn, und er ging hin. Und der Vater ging zum zweiten Sohn und sagte dasselbe. Der aber antwortete und sprach: Ja, Herr! und ging nicht hin. Wer von den beiden hat des Vaters Willen getan? Sie antworteten: Der erste. Jesus sprach zu ihnen: Wahrlich, ich sage euch: Die Zöllner und Huren kommen eher ins Reich Gottes als ihr. Denn Johannes kam zu euch und lehrte euch den rechten Weg, und ihr glaubtet ihm nicht; aber die Zöllner und Huren glaubten ihm. Und obwohl ihr's saht, tatet ihr dennoch nicht Buße, so dass ihr ihm dann auch geglaubt hättet. Matthäus 21, 28 – 32

Es wird von einem Floß erzählt, das vor der Küste Brasiliens lag. Durch eine Strömung wurde dieses Floß von der Küste weggetrieben. Die Menschen auf diesem Wasserfahrzeug hatten seit einigen Stunden kein Wasser mehr und drohten zu verdursten, denn Meereswasser, wie jeder weiß, ist salzig und ungenießbar. Aber was sie nicht wussten, war, dass der Strom, der sie ins Meer hinausgetrieben hatte, die Fortsetzung eines Flusses war. Um sie herum war frisches Wasser – und sie merkten es nicht.

Aber Einige auf diesem Floß waren so verzweifelt, dass sie das vermeintliche Salzwasser getrunken und entdeckt hatten, dass es sich um süßes Wasser handelt. Sie freuten sich und merkten, dass sie gerettet waren. Die anderen betrachteten das und meinten: die sind wohl verrückt; sie werden jetzt noch schneller verdursten als wir, weil sie Salzwasser getrunken haben. Dass sie meinen, gerettet zu sein, kann wohl nur eine Einbildung sein. Und diese zweite Gruppe weigerte sich, das Wasser auszuprobieren, denn sie wusste ganz genau, dass es mitten im Meer kein Süßwasser geben kann.

Diese Begebenheit entspricht der Vorhaltung, die Jesus an die Hohenpriester und Ältesten des Volkes richtete. Sie hatten gesehen, dass Johannes der Täufer eine rettende Wirkung hatte: die sogenannten Huren und Zöllnern hatten seine Botschaft gehört und sind für ein Leben mit Gott befreit worden. Sie sind vergleichbar mit den Menschen auf dem Floß, die frisches Wasser entdeckt hatten und dadurch vor dem Verdursten gerettet worden waren. Die Hohenpriester und die Ältesten sind vergleichbar mit den Skeptikern auf dem Floß, die meinten, dass die Trinkenden verrückt geworden und sich nur einbildeten, dass sie vor dem Tod gerettet worden waren. Sie weigerten sich, das Wasser der Geretteten auszuprobieren, denn ihr Stolz oder ihre Sturheit ließen es nicht zu. Sie waren zu stolz oder zu stur, um zuzugeben, dass sie sich getäuscht hatten und dass ihr Wissen nicht so lückenlos war, wie sie dachten.

'Charismatiker', 2006, Mohan

Diese Sturheit ist etwas typisch Menschliches, auch in der Kirche. So wie die Hohenpriester und die Ältesten nicht in der Lage waren, anzuerkennen, dass Johannes der Täufer eine Erneuerungsbewegung eingeleitet hatte, die von Gott stammte, so ist die Kirchengeschichte voll von Beispielen solcher Blindheit. Zum Beispiel als Martin Luther eine Erneuerung einleitete, glaubten viele Menschen, dass diese Abweichung nur vom Teufel sein konnte. Oder als John Wesley in England anfing zu predigen, bekam er überall Kanzelverbot. Er wurde verspottet und Steine wurden nach ihm geworfen. Aber er leitete eine Erneuerungsbewegung ein, die auf eine wirkungsvolle Weise die Arbeiterklasse erfasste und Menschen verwandelte, und aus dieser Erweckungsbewegung ist die methodistische Kirche entstanden. Im 20 Jahrhundert ist die charismatische Bewegung explosivartig gewachsen, so dass heute, weltweit gesehen, ¼ der Christenheit zu dieser Bewegung gehören. Überall in der Welt ist es erwiesen, dass Menschen, die von dieser Bewegung erfasst worden sind, anständiger leben als vorher. Aber gleichzeitig gehören Charismatiker zu den verfolgtesten Christen dieser Erde.

Und wo ist die Christenheit heute dabei, sich zu erneuern? Die Erneuerungsbewegung, die heute schneller wächst als alles andere, wird mit dem Begriff „unabhängige Christen“ bezeichnet. Keine Gruppierung der Christenheit wächst so schnell, so dass plötzlich etwa 1/5 der Christenheit aus sogenannten „unabhängigen Christen“ besteht. Es handelt sich um ein Christsein ohne Bevormundung durch vorgegebene Autoritäten. Es ist ein Merkmal dieser Erneuerungsbewegung, dass Menschen zusammenkommen, um die Bibel zu lesen und auszulegen – ohne Rücksicht auf Bekenntnisse, Lehrämter oder wissenschaftliche Methoden. Es geht darum, das Wort der Bibel direkt auf die eigene Situation zu übertragen – ohne klerikale Bevormundung. Es geht auch darum, die Kraft Gottes zu enthüllen und einen wirksamen Lebensstil zu finden, welcher der einheimischen Kultur entspricht. In Afrika z. B. gibt es sogenannte „Geist Kirchen“, in denen Mehrehe erlaubt wird, weil sie in der afrikanischen Kultur und in der Bibel vorkommen. Diese Christen suchen Anweisungen für ihr Leben durch Träume und Visionen, weil dieses Anliegen auch in ihrer Kultur und in der Bibel vorkommt.

Wenn evangelische Christen von solchen Bewegungen hören, ist die erste Reaktion, so etwas als „Sekte“ abzustempeln. Es fällt auf, dass Evangelische sehr schnell bereit sind, alles was ihnen fremd vorkommt, als „Sekte“, als „evangelikal“ als „fundamentalistisch“ oder als „fanatisch“ abzustempeln.

Aber der Matthäustext für den heutigen Sonntag sollte uns bescheidener machen. Denn die Hohenpriester und die Ältesten zur Zeit Jesu haben in der Johannes-der-Täufer-Bewegung eine abartige Sekte gesehen. Und auch die christliche Urgemeinde in Jerusalem war eine jüdische Sekte: die ersten Anhänger dieser Abspaltung waren unter der Bezeichnung „Nazoräer“ bekannt“. Wenn wir evangelische Christen damals in Jerusalem gelebt hätten, dann hätte diese jüdische Sekte uns als Mitglieder nicht aufgenommen. Und wir hätten damals in diesen Nazoräern nicht den Anfang einer Weltreligion erkennen können, zu der wir heute gehören.

Mit anderen Worten: wir sollten überlegen, ob wir nicht genauso schwerfällig sind wie die Hohenpriester und Ältesten zur Zeit Jesu. Wir sollten für die Möglichkeit offen sein, dass Gott immer wieder etwas Neues vorhat mit seiner Christenheit. Wir sollten für die Möglichkeit offen sein, dass Erneuerung zuerst befremdlich und abartig aussehen kann. Wir sollten für die Möglichkeit offen sein, dass Erneuerung von unten anfängt.

Denn Erneuerung beginnt nicht bei Hohenpriestern und Ältesten, und nicht bei Kirchenleitungen. Erneuerung beginnt nicht mit einem Beschluss oder mit einer Verordnung oder mit einem neuen Kirchengesetz. Erneuerung beginnt fast immer bei kleinen Leuten. Erneuerung heute in der Christenheit fängt dort an, wo sogenannte normale Christen die Bibel lesen und unmittelbar auf ihre eigene Situation übertragen. Erneuerung fängt dort an, wo Christen die Kraft Gottes für das eigene Leben suchen. Dementsprechend fängt Erneuerung immer nur dort an, wo Menschen nach Gott hungern und dursten.

'Running european hare', 2002, Malene Thyssen

In diesem Zusammenhang können wir etwas lernen von einer Erneuerungsbewegung, die im 3. Jahrhundert anfing. Damals gingen Christen in die Wüste, um dort als Mönche zu leben; einige wurden als „Wüstenväter“ bezeichnet. Es wird von einem jungen Mönch berichtet, der einen alten Eremiten aufsuchte und fragte, warum so viele in die Wüste gingen, um Gott zu suchen, aber nach kurzer Zeit die Suche aufgegeben hatten und in die Städte zurückgekehrt sind. Der alte Mönch erwiderte folgendes: „Gestern Abend sah mein Hund einen Hasen, der in die Büsche ging, um sich zu verstecken. Er verfolgte den Hasen und bellte laut. Bald kamen anderen Hunde dazu, die auch rannten und bellten. Sie alle rannten eine längere Strecke und noch mehr Hunde nahmen an der Verfolgung teil. Als es Nacht wurde, wurden einige Hunde müde and hörten auf. Einige machten weiter bis zur Morgendämmerung. Aber zuletzt hat nur mein Hund den Hasen noch gesucht.“ Dann fragte der Wüstenvater: „Verstehst du, was ich dir sagen will?“ Der junge Mann erwiderte; „Nein, bitte sage mir, was du meinst.“ Der Alte erwiderte: “Es ist ganz einfach: mein Hund hat den Hasen gesehen.”

'Abendmahl bei einem Gottesdienst in der Dreikönigskirche'

Mit anderen Worten: eine anhaltende Suche nach Gott wird es nur dort geben, wo Menschen Gott gesehen und geschmeckt haben. In diesem Zusammenhang spielt das Abendmahl eine Rolle. Es ist kein Zufall, dass wir die Austeilung des Abendmahls mit den Worten einleiten: „Schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist.“ In der Abendmahlsfeier wird die Freundlichkeit Gottes so ergreifbar, dass man sie schmecken und sehen kann. Und wer diese Gnade einmal erlebt hat, kann sich nicht zufrieden geben, bis er die Quelle dieser Gnade mit eigenen Augen gesehen hat – was uns auch verheißen ist „Wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Joh. 3, 2). Diese Sehnsucht nach Gott ist der Grund, weshalb Erneuerungsbewegungen immer wieder entstehen – und entstehen sollten.

Was Gott zu dem Propheten Jesaja sagte, gilt auch heute. Im Kapitel 43 des Buches des Propheten Jesajas heißt es: „Gedenkt nicht an das Frühere und achtet nicht auf das Vorige! Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr's denn nicht? Ich mache einen Weg in der Wüste und Wasserströme in der Einöde.“ Möge Gott uns helfen, unsere Sehnsucht nach Gott wach zu halten und offen zu sein für die Erneuerung, die Gott in seiner Christenheit und unter uns einleiten will.

Das Gemälde 'Guamá River', 1837-1857, Alexander Andreyevich Ivanov, und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Die Photographie 'Charismatiker', 2006, Mohan, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Die Photographien 'Running european hare', 2002, Malene Thyssen, sowie 'Abendmahl bei einem Gottesdienst in der Dreikönigskirche', 2007, Heptagon, wurden unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Dateien unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

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