Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Röm 8, 12 –17 „Was versäumen sie sonst?“

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14. Sonntag nach Trinitatis: Röm 8, 12 –17 „Was versäumen sie sonst?“

Gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

'Joshua Bell Indiana University', 2008

So sind wir nun, liebe Brüder, nicht dem Fleisch schuldig, dass wir nach dem Fleisch leben. Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, so werdet ihr sterben müssen; wenn ihr aber durch den Geist die Taten des Fleisches tötet, so werdet ihr leben. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba, lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi, wenn wir denn mit ihm leiden, damit wir auch mit zur Herrlichkeit erhoben werden.

Röm 8, 12 –17

An einem Freitagmorgen im Januar 2007 ging ein junger Mann zu einem Bahnhof in der US-Hauptstadt Washington. Er öffnete einen Violinenkasten, nahm sein Musikinstrument heraus und warf einige Münzen in den leeren Kasten – als Ermutigung an die Passanten, etwas Ähnliches zu tun. Allerdings war dieser Musiker kein gewöhnlicher Straßenmusiker. Sein Name war Joshua Bell, einer der besten Violinisten der Welt. Drei Tage vorher hatte er in der Boston Symphony Hall gespielt und wer ihn hören wollte, musste zwischen $100 und $200 bezahlen. Jetzt spielte er kostenlos auf einem Bahnsteig auf einer Stradivarius-Violine, die mehrere Millionen Euro wert war. Er spielte zuerst „Chaconne“ von Bach, Partita Nr. 2 in D-Moll. Dieses Stück gilt als eines der schönsten und schwierigsten Solostücke für Violine, das jemals geschrieben wurde. Hier war also einer der besten Musiker der Welt, der eines der schönsten Werke spielte - auf einem Instrument, das unvorstellbar wertvoll war. Er spielte 43 Minuten lang. 1072 Personen gingen an ihm vorbei. Wie viele von diesen 1072 hielten an, um zuzuhören? Die Antwort lautet: 2.

Diese Begebenheit ist wie ein Gleichnis. Ein Kommentator sagte dazu folgendes: „Wenn Menschen nicht in der Lage sind, einen Moment anzuhalten, um einem der besten Musiker dieser Erde zuzuhören, der die schönste Musik spielt, die je geschrieben wurde, wenn Menschen blind und taub sind, weil sie so völlig mit sich selbst beschäftigt sind, dass sie nicht merken können, was sie versäumen, ergibt sich die Frage: Was versäumen sie sonst?“
„Was versäumen sie sonst?“ – das ist wie eine Überschrift für das Thema des heutigen Römerbrieftextes.

Es ist bekannt, dass heutzutage grundsätzlich alle Menschen im Stress sind. Wir leben in einem Zeitalter, in dem Schulkinder und Rentner volle Terminkalender haben. Aber trotz aller Zeitknappheit finden Menschen Zeit für das, was ihnen wichtig ist.

'Bauernhaus an der Kirchgass in Kloten, dahinter ein Baukran', 2009, Abderitestatos

In diesem Zusammenhang denke ich an einen Vorgang, der vor einigen Jahren im Hainer Weg vorkam. Ein großer Kran war aufgestellt, weil eine neue Häuserreihe gebaut wurde. Von dem Fenster meines Arbeitszimmers konnte ich diesen Kran sehen. Eines Tages gab es eine Panne, und der Kran drohte umzukippen. Einige Personen, die in der Nähe des Krans wohnten, mussten ihre Häuser evakuieren. Obwohl es sich um ein Ereignis handelte, das relativ unauffällig war, sammelten sich sofort Mengen von Schaulustigen. Stundenlang hielten sich Katastrophentouristen im Hainer Weg auf, die gebannt auf den Kran starrten, bis spät in den Abend hinein. Ich fragte mich: haben diese Leute alle Urlaub? Müssen sie nicht arbeiten oder Termine wahrnehmen oder sonst etwas erledigen? Es waren keine Spuren von Stress oder Zeitknappheit zu sehen. Solange der Kran drohte umzukippen und einige Häuser zu zerschmettern, hatten Duzende von Personen alle Zeit der Welt.

Diese zwei Begebenheiten - der Musiker am Bahnhof und die Schaulustigen am Hainer Weg – sind Veranschaulichungen, was Paulus meinte, als er von einem Leben nach dem Fleisch sprach. Eine Person, die „nach dem Fleisch“ lebt – wie Luther übersetzte -, ist ein Mensch, der total mit sich selbst beschäftigt ist, der alles ausgeblendet hat, was für ihn nicht sofort relevant ist. Es ist, als ob ein solcher Mensch Scheuklappen trägt. Auf der einen Seite kann er ahnungslos an einen der besten Musiker der Welt vorbeilaufen, und auf der anderen Seite trägt er so etwas wie Schadenfreude in sich und kann alles stehen und liegen lassen, um eine Katastrophe oder einen Rufmord zu genießen. Der gemeinsame Nenner ist, dass ein sogenanntes Leben nach dem Fleisch eine beschränkte Perspektive hat. Ein Mensch, der nach dem Fleisch lebt, hat kein Auge und kein Ohr für die ewigen Dimensionen des Lebens. Die Perspektive ist allein auf das beschränkt, was dieses irdische Leben hier und jetzt zu bieten hat.

In dem Römerbrieftext nennt Paulus eine Ursache für diese beschränkte Sichtweise. Er spricht das Thema Zugehörigkeit an. Es geht um die Frage: zu wem gehörst du? Oder genauer gefragt: „Zu wem gehörst du in Ewigkeit?“

Es gibt ein altes Gospellied, in dem es heißt: „Manchmal komm ich mir vor wie ein mutterloses Kind, das weit weg von zu Hause ist.“ Ein Mensch, der „nach dem Fleisch lebt“, hat eine mutterlose, heimatlose Seele, die nicht weiß, wohin das Leben zielt. Deswegen ist ein solcher Mensch stark mit sich selbst beschäftigt, hat eine beschränkte Perspektive und kennt keinen Lebensinhalt, der über das Grab hinaus Bestand hat.

Den Gegensatz zu einem sogenannten „Leben nach dem Fleisch“ beschreibt Paulus mit den folgenden Worten:

Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder. Denn ihr habt nicht einen knechtischen Geist empfangen, dass ihr euch abermals fürchten müsstet; sondern ihr habt einen kindlichen Geist empfangen, durch den wir rufen: Abba (aramäischer Begriff für „Papa“), lieber Vater! Der Geist selbst gibt Zeugnis unserm Geist, dass wir Gottes Kinder sind. Sind wir aber Kinder, so sind wir auch Erben, nämlich Gottes Erben und Miterben Christi

Der Gegensatz zu einem Leben nach dem Fleisch ist ein Leben als Kind Gottes. Gott ist nicht nur wie ein Vater, er ist wie ein „Papa“ – wie es im Text heißt. Wer zu Gott gehört - wie ein Kind zu einem Vater - oder zu einer Mutter -, der kann sich auf eine Erbschaft freuen, die über dieses irdische Leben hinausgeht.

'cumin seeds', 2008, Sanjay Acharya

Es gibt eine Erzählung, die beschreibt, was diese Lebensweise beinhaltet. Es geht in dieser Erzählung um eine Frau, die enttäuscht und desillusioniert war. Sie wollte in einer friedlichen Welt leben und eine verantwortliche Person sein. Aber jedes Mal wenn sie Fernsehnachrichten anschaute oder die Zeitung las, wurde sie depressiv, denn sie merkte, dass sie es nie schaffen würde, diese heillose Welt auf irgendeine Weise besser zu machen. Eines Nachts hatte sie einen Traum. Sie war in einem Einkaufszentrum und merkte, dass es ein Geschäft gab, das sie noch nie gesehen hatte. Aber noch merkwürdiger war, dass der Verkäufer an der Kasse wie Jesus aussah. Sie fasste ihren Mut zusammen und ging auf den Bediensteten zu und fragte ihn direkt: „Sind Sie Jesus?“ Die Antwort lautete: „Du sagst es!“ Die Antwort kam dieser Frau bekannt vor, aber sie wagte nicht nachzufragen, sondern fragte etwas anderes : „Was ist das für ein Laden hier?“ Der Bedienstete lud sie dazu ein, sich einfach um zu schauen. Er sagte: „Laufen Sie durch die Gänge. Schauen Sie nach, was alles da ist und machen Sie eine Liste von den Dingen, die Sie haben möchten.“ Als die Frau durch die Gänge des Geschäftes ging, konnte sie ihren Augen nicht trauen. Es gab Verkaufsangebote, die hießen: „Abschaffung aller Brutalität und Gewalt“, „Sättigung aller Hungernden“, „Befreiung von allen Ängsten“, „die Schöpfung, gereinigt von allen Vergiftungen“, „Harmonie in allen Familien“, „umfassender Frieden“, „unvergängliches Leben in ewiger Gemeinschaft mit Gott“, „Heilung aller Wunden“, „Befreiung von allen Versklavungen“, „Vergebung aller Schuld“, „Sühnung aller Ungerechtigkeit“. Die Frau schrieb eine lange Liste auf und brachte die Liste zur Kasse mit der Bemerkung: „Hoffentlich habe ich nicht zu viel bestellt.“ Der Mann an der Kasse schaute auf den Zettel und sagte dazu: „Kein Problem“. Er verschwand in einen Nebenraum und brachte kleine Tüten zurück, die er der Frau aushändigte. Sie fragte: „Was soll ich mit diesen Tüten“. Der Verkäufer sagte: „Das sind Samenkörner. Sie pflanzen diese Samen und pflegen das, was entsteht. Sie werden das Endergebnis zu Ihrer Lebzeit nicht sehen, aber eines Tages – irgendwo und irgendwann jenseits der jetzigen, sichtbaren Wirklichkeit – werden Sie die Vollendungsernte mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Händen anfassen können.“ Die Frau war enttäuscht. Das war ihr zu wenig. Und sie verließ das Geschäft. Ende des Traums.

Ein Mensch, der nach dem Fleisch lebt, will sich nicht auf eine Verheißung einlassen, die erst jenseits des Grabs in Erfüllung geht. Er will etwas haben, was ihm hier und jetzt etwas bringt. Aber ein Mensch, der als Kind Gottes lebt, gibt sich zufrieden mit kleinen Aufgaben der selbstlosen Liebe, die wie Samenkörner sind, die erst nach seinem Tod zu einer Vollendung beitragen werden, auf die er warten muss. Ein solcher Mensch ist nicht wie eine mutterlose Seele, die ohne Heimat ist, sondern ein solcher Mensch lebt davon, dass Gott wie ein Papa ist, der seinen Kindern eine umfassende Geborgenheit bietet.

'Watchman Nee'

Es gab in China einen Laienprediger und Schriftsteller mit dem Namen Watchman Nee. Einmal kam eine Person zu ihm, die gerade mit dem christlichen Glauben angefangen hatte. Diese Person machte sich Sorgen und sagte: „Egal wie intensiv ich bete oder egal wie sehr ich mich anstrenge, habe ich das Gefühl, dass ich Gott gegenüber versage. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er mich in Ewigkeit annehmen wird.“ Der Prediger antwortete, indem er auf sein Haustier deutete: „Sehen Sie meinen Hund hier. Er ist mir eine Freude. Er ist haustrainiert, er hinterlässt keinen Dreck, er ist gehorsam, er ist nie ein Problem. In der Küche ist mein Sohn, ein Säugling. Er schmeißt alles um sich, er ist viel zu laut, er macht seine Kleider schmutzig, er ist völlig chaotisch. Aber wer wird mein Erbe sein? Nicht mein Hund, sondern mein Sohn. Sie sind durch Gnade ein Kind Gottes, deshalb werden Sie erben. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.“

Möge Gott uns helfen, als Kinder Gottes zu leben, die wissen, zu wem sie in Ewigkeit gehören: dass wir mit Zuversicht für eine Zukunft leben, die jenseits der jetzigen, sichtbaren Welt liegt. Wie es im Römerbrieftext heißt: weil wir das Leiden Christi kennen, werden wir mit ihm (mit Christus) zur Herrlichkeit erhoben werden.

Die Photographie 'Joshua Bell Indiana University', 2008' ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Die Photographie 'Bauernhaus an der Kirchgass in Kloten, dahinter ein Baukran', 2009, Abderitestatos, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Die Photographie 'cumin seeds', 2008, Sanjay Acharya, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Das Portrait 'Watchman Nee', ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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