Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 6, 36 – 42 Die höhere Gerechtigkeit

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'Head of shepherd beduins', circa 1880s., Félix Bonfils

4. Sonntag nach Trinitatis

Die höhere Gerechtigkeit Lukas 6, 36 – 42

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch wieder messen. Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? Der Jünger steht nicht über dem Meister; wenn er vollkommen ist, so ist er wie sein Meister. Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr? Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst! Lukas 6, 36 – 42

Es gibt eine Erzählung, die aus der Tradition der Beduinen stammt. Beduin ist übrigens ein aramäisches Wort und bedeutet „Wüstenbewohner“. Diese arabischen Wüstenbewohner leben auch heute noch nach Sitten, die so alt wie die Bibel sind.

'Arabs Crossing the Desert', 1870, Je Gérôme

Es wird berichtet, dass es zwischen zwei Freunden einen Streit gab, der so eskaliert ist, dass einer den anderen erschlug. Der Täter musste jetzt damit rechnen, als Vergeltung hingerichtet zu werden. Seine einzige Rettung bestand darin, den Stammesführer aufzusuchen. Im Schutz der Dunkelheit rannte er durch die Wüste und erreichte das schwarze Zelt des obersten Fürsten. Der Stammesführer nahm den Flüchtenden auf und versicherte ihm, dass er unter seinem Schutz stand – bis die Angelegenheit auf eine gerechte Weise geregelt werden könnte. Am nächsten Tag kamen die Zeugen der Bluttat und forderten die Auslieferung des Schuldigen. Sie wollten eine gerechte Vergeltung an dem Täter vollziehen. Der Fürst antwortete: „Ich kann ihn nicht ausliefern; ich habe mein Wort gegeben; er steht unter meinem Schutz.“ Die Verfolger erwiderten: „Aber Sie wissen nicht, wen er getötet hat.“ Der Stammchef wiederholte: „Ich habe mein Wort gegeben.“ Dann sagte jemand in der Menge: „Er hat Ihren Sohn getötet.“

Der Fürst war erschüttert und eine Zeitlang sprachlos. Er beugte seinen Kopf und überlegte, was er machen sollte. Alle schauten ihn an und warteten gespannt. Würde es Gerechtigkeit geben? Schließlich schaute der Fürst hoch und sagte: „Dann soll er mein Sohn werden, und eines Tages wird er alles bekommen, was mir gehört.“

Diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen. Diese Begebenheit veranschaulicht die Art der Gerechtigkeit, die Gott verwirklichen will: diese Gerechtigkeit besteht nicht aus Vergeltung, sondern aus reiner Gnade. Menschen haben den Sohn Gottes getötet, und die Erwiderung Gottes war nicht eine Abrechnung. Sondern es ist seine Absicht, alle Täter dieser Erde als Söhne und Töchter aufzunehmen, damit sie ewig unter seinem Schutz stehen. Er hat sein Wort gegeben, vermittelt durch die biblische Geschichte.

'Marco Polo at the Kublai Khan', 1298-1999

Im 13. Jahrhundert besuchte Marco Polo, ein Händler aus Venedig, den mongolischen Herrscher Kublai Khan. Es wird von einem Gespräch berichtet, bei dem Marco Polo von Jesus erzählte. Er berichtete, wie Jesus zuletzt verraten, verhört, verurteilt, verspottet, gegeißelt und gekreuzigt wurde. Der Khan war von dieser Geschichte tief bewegt und wurde immer intensiver aufgewühlt. Und als Marco Polo erzählte, wie Jesus sein Leben am Kreuz beendete, indem er seinen Kopf neigte und seinen Geist aufgab, konnte Kublai Khan nicht mehr schweigend zuhören. Er schrie eine Frage: „Und was hat der Gott der Christen danach getan? Hat er Tausende von Engeln geschickt, um diejenigen zu schlagen und zu vernichten, die seinen Sohn töteten?“

Wie wir alle wissen, hat Gott nicht so reagiert, wie ein orientalischer Gewaltherrscher reagiert hätte. Gott hat in Jesus die ganze perverse Bösartigkeit der Menschen einfach schweigend angenommen. Er hat alles erduldet und eingesteckt, was die Menschen ihm angetan hatten. Anstatt Vergeltung, hieß es: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Und jeder von uns ist hier angesprochen. Denn jedes Mal wenn wir eine andere Person verletzen, ist es, als ob wir den Sohn Gottes persönlich verletzt hätten. Wie Jesus sagte: „Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan.“ Deshalb sind wir alle auf Barmherzigkeit angewiesen.

Nur vor diesem Hintergrund ist der Lukastext, der für heute vorgesehen ist, verständlich. Es heißt:

Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. Gebt, so wird euch gegeben.

Bei diesen Worten muss man auf eine Unterscheidung achten. Es geht hier nicht um Moral oder Ethik. Sehr häufig wird christlicher Glaube mit Moral gleichgesetzt oder auf ethische Werte reduziert. Jesus will hier nicht verkündigen, dass es tugendhaft ist, wenn man barmherzig, tolerant, vergebungsbereit und großzügig ist. Im Gegenteil: was Jesus hier fordert, ist – moralisch gesehen – bedenklich. Denn wenn jeder Mensch diese Worte Jesu konsequent verwirklichen würde, würden wir eine Welt haben, in dem es für Fieslinge und für rücksichtslose Egoisten keine Grenzen mehr gibt. Denn es klingt so, als ob Jesus eine Welt einrichten will, in der es keine ethische Ordnung mehr gibt. Es klingt so, als ob alles automatisch vergeben wird, als ob alles zugelassen wird, denn es gibt scheinbar keine Kritik und keine Vergeltung mehr.

Aber es geht hier nicht um moralische Werte, sondern es geht um das, was Gott mit dieser Welt vorhat. Gott ist wie der Beduinen-Fürst, der vorhin erwähnt wurde. Er hat sein Wort gegeben, dass er in erster Linie uns Menschen Schutz und Geborgenheit geben will. Er hat uns zu seinen Söhnen und Töchtern erklärt. Wir werden eines Tages alles erben.

Wer eine solche Gnade erfahren hat, hat eine eigentümliche Betrachtungsweise. Er sieht die Menschen nicht nur so, wie sie jetzt sind, sondern er sieht, was Gott mit ihnen vorhat: er sieht die umfassende Vergebung, die Gott jedem Menschen gewähren will. Und weil er die Menschen so sieht, wie Gott sie sieht, handelt er wie Gott. Er verkörpert die Barmherzigkeit Gottes. Er verkörpert eine grenzenlose Vergebungsbereitschaft. Er verurteilt und richtet nicht, denn er wird von Gott auch nicht verurteilt. Er sieht zuallererst den Balken in dem eigenen Auge und nicht den Splitter im Auge des Nächsten.

'Statue of C.S. Lewis looking into a wardrobe', Genvessel

Die Botschaft des Lukasevangeliums hat eine besondere Relevanz für Menschen, die eng zur Kirche gehören. Der englische Schriftsteller C. S. Lewis war ein scharfsinniger Beobachter der Kirche. Und er hat festgestellt, dass Christen eine auffällige Neigung haben, verurteilend und richtend zu sein. Er schrieb folgendes: „Es gibt unter Christen öfters einen negativen Geist, einen Geist der Aburteilung, eine richtende Gesinnung. Diese Haltung befindet sich eher innerhalb als außerhalb der Kirche.“ Sie ist so weit verbreitet, dass sie sogar einen Namen trägt, meint Lewis; sie heißt „christliche Grausamkeit“.

Die Worte klingen vielleicht übertrieben. Aber die Erfahrung zeigt, dass Unbarmherzigkeit knapp unter der Oberfläche lauert. Im Urlaub habe ich von einer evangelischen Gemeinde in Mecklenburg gelesen, in der eine Familie durch heimtückische moralische Entrüstung aus der Gemeinde herausgeekelt wurde. Ob diese Entrüstung berechtigt oder unberechtigt war, spielt keine Rolle, denn es kam nie zu einem aufrichtigen Austausch der Ansichten. So etwas darf in einer Gemeinde einfach nicht vorkommen. Aber hinterhältige Aburteilung ist etwas, was unter der Oberfläche als Gefahr lauert. Und sie kann nur dort hausen, wo Menschen noch nicht wahrgenommen haben, wie sehr sie auf Gnade angewiesen sind.

Offenbar hat Jesus die sogenannte „christliche Grausamkeit“ vorausgesehen, von der C. S. Lewis schrieb. Denn er betonte:

Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und den Balken in deinem Auge nimmst du nicht wahr?

Der Theologe Helmut Thielicke, schrieb zu diesem Wort Jesu folgendes:

„Außerhalb des Reiches Gottes meint man, es liege am andern, an des andern Undank und Bosheit, wenn wir ihn nicht lieben können. Jesus dagegen richtet den Blick des Menschen auf sich selbst. Die Jünger sollen wissen, dass sie selbst sich ändern müssen, bevor sie den andern ändern können. Diese Reihenfolge ist unumkehrbar: „Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge und sieh dann zu, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst!“ Darum verwehrt er ihnen das Richten... Er meint damit nicht, dass sie sich über den andern Illusionen machen sollten; nicht auf das Beurteilen, sondern auf das Verurteilen sollen sie verzichten.“

Auf Selbstgerechtigkeit soll der Anhänger Jesu verzichten. Das ist nur möglich, wenn man eine höhere Gerechtigkeit empfangen hat. Diese höhere Gerechtigkeit wurde vorhin erwähnt: Gott erklärt uns zu seinen Töchtern und Söhnen – einfach so, ohne Begründung. Wir stehen deshalb unter seinem Schutz in Ewigkeit. Wir sind als Erben eingesetzt und werden alles empfangen, was Gott zu bieten hat. Wie es in dem Lukastext heißt:

Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.

Wer diese überwältigende Gnade wahrgenommen hat, wird barmherzig sein, wie Gott barmherzig ist; wird vergeben, wie Gott vergibt, wird die Menschen sehen, wie sie sein werden, wenn sie eines Tages vor Gott stehen und in dieser Begegnung mit ihm verwandelt werden. Möge Gott uns helfen, barmherzig zu sein, wie er barmherzig ist.

Die Photographie 'Head of shepherd beduins', circa 1880s., Félix Bonfils, das Gemälde 'Arabs Crossing the Desert ', 1870, Je Gérôme, sowie die Miniatur aus dem Buch "The Travels of Marco Polo", 'Marco Polo at the Kublai Khan', 1298-1999, sind im publicdomain, weil ihr copyright ebgelaufen ist.
Die Abbildung 'Statue of C.S. Lewis looking into a wardrobe', Genvessel, ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 2.0 Lizenz.

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