Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Thomas Sinning: Römer 11, 25-32 Erbarmen Gottes

« Predigten Home

Paulus

Paulus

10. Sonntag nach Trinitatis

Erbarmen Gottes Römer 11, 25-32

Predigt gehalten von Pfarrer Thomas Sinning am 27.07.2008

25 Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist;
26 und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob.
27 Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.«
28 Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen.
29 Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen.
30 Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams,
31 so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen.
32 Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Römer 11, 25-32

Liebe Gemeinde!

Was Paulus hier schreibt, sind keine einfachen Worte. Aber es sind letztlich doch Worte voller Hoffnung. Hoffnung für Israel, das mag einem schwer vorstellbar sein angesichts der so hoffnungslos verfahrenen politischen Lage im Nahen Osten. Wie soll es Hoffnung geben, wenn Gewalt, Rache und Unversöhnlichkeit das Gesetz des Handelns auf Seiten der Israelis wie der Palästinenser und deren Verbündeten bestimmen? Wie kann es da Hoffnung geben?

Nach rationaler Logik ist die Geschichte der Juden eigentlich überwiegend eine Geschichte gewesen, die Grund zur Hoffnungslosigkeit gäbe. Angefangen bei der Zeit in ägyptischer Sklaverei, später die mehrfache Eroberungen und Zerstörung der Hauptstadt, über die in vielen Jahrhunderten immer wieder spürbare Benachteiligung, war es eine Geschichte, die Grund zur Hoffnungslosigkeit gäbe. Und in besonderer Weise spitzte sich dies zu in der Zeit der Judenverfolgung während der Nazi-Diktatur. Wo kann sich da Hoffnung festmachen?

Jochen Klepper, der Schriftsteller und Liederdichter, der mit einer jüdischen Frau verheiratet war, schrieb 1938 in sein Tagebuch:
„Ich klammere mich an Römer 11. An der Seite der leidenden Juden müssen wir unsere eigene Gottesfeindschaft bekennen.“

'Services at a reform synagogue', Goodoldpolonius2, 2005

Feindschaft gegenüber den Juden bedeutet nicht nur, Menschen Unrecht zu tun, sondern auch, die Verheißungen zu bestreiten, die Gott ihnen gegeben hat. Darum ist es richtig, dass unsere Kirche in ihren Grundartikel folgendes Bekenntnis aufgenommen hat: Aus Blindheit und Schuld zur Umkehr gerufen, bezeugt sie neu die bleibende Erwählung der Juden und Gottes Bund mit ihnen. Das Bekenntnis zu Jesus Christus schließt dieses Zeugnis ein. Wir können unseren Glauben an Jesus Christus nicht ablösen von dem Glauben Israels. Wir sind durch Jesus, der selber Jude war, hinein genommen in Gottes Heilsgeschichte, die mit der Erwählung Abrahams beginnt, und die, wie Paulus schreibt, für alle, Juden wie Nichtjuden, eine heilvolle Zukunft verheißt.

Paulus schreibt von einem Mysterium, einem Geheimnis, das ihm Grund zur Hoffnung gibt. Ein Geheimnis ist etwas, das erschließt sich einem nicht durch scharfes Nachdenken wie ein Rätsel. Ein Geheimnis kann nur da erkannt werden, wo Gott es offenbart. Paulus hat dieses Geheimnis in der Heiligen Schrift entdeckt, in jenem Buch, das für Juden wie für Christen Gottes Wort ist: in der hebräischen Bibel. Hier, bei den Propheten Jesaja und Jeremia, ist die Verheißung zu finden, dass Gott sein Volk am Ende erlösen wird, dass er mit ihnen einen Bund schließt, der alle Schuld überwindet.

Vor dieser Erkenntnis bekommt auch die Zeit der getrennten Wege von Juden und Christen einen Sinn: Denn Paulus ist überzeugt, dass am Ende, wenn alle Völker das Evangelium von Jesus als dem Christus gehört haben, dass dann auch die Juden gleichermaßen an der Barmherzigkeit Gottes Anteil haben werden. Darum hat er, Paulus, sich ja auch zum Ziel gesetzt, das Evangelium von Jesus in ferne Länder zu fremden Völkern zu bringen. Denn das Ziel steht ihm vor Augen: Dass Gott sich aller erbarme.

Judaica - candlesticks, etrog box, shofar, Torah pointer, Tanach, natla

Es kann nicht darum gehen, dass eine Religion über die andere triumphiert, wie es das Christentum gegenüber den Juden in der Vergangenheit oft getan hat. Paulus warnt ausdrücklich vor solcher Überheblichkeit. Denn wir leben ausschließlich von der Gnade und Barmherzigkeit Gottes, seien wir Christen oder Juden. Gott hat alle beschlossen unter den Unglauben, auf dass er sich aller erbarme. Das ist das Geheimnis der Erlösung.

Es kann auf der anderen Seite aber auch nicht darum gehen, zu sagen: „Es ist doch alles einerlei und gleichgültig, auf welche Weise man an Gott glaubt. Hauptsache man glaubt irgendwie.“ Die Frage nach der Wahrheit des je eigenen Glaubens bleibt unaufgebbar. Sie ist notwendig im jüdisch-christlichen Dialog, wie im interreligiösen Dialog überhaupt. Die Frage bleibt unverzichtbar: Worauf gründe ich meine Glaubensgewissheit? Was kann für mich letzte Gültigkeit über mein Leben beanspruchen? Es geht hier nicht um Rechthaberei, sondern um Gewissheit, Gewissheit, die der Hoffnung Grund geben kann.

Hier ist Paulus eindeutig, wenn er von dem Erlöser spricht, der kommen und alle Schuld wegnehmen wird. Und die Kirche ist in ihren Bekenntnissen ebenso eindeutig: „Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir zu hören und dem wir im Leben und im Sterben zu gehorchen haben.“ So ist es in der Barmer Erklärung von 1934 formuliert. Das ist der Kern unseres Glaubens, für den nicht nur Paulus, sondern jeder Christ leidenschaftlich werben müsste. In Jesus begegnet uns die Wahrheit als Liebe; als Liebe, die Schuld und Tod überwindet.

Die Frage nach der Wahrheit Jesu ist gewiss der entscheidende Punkt, wenn wir in das Gespräch mit Menschen jüdischen Glaubens eintreten. Ist der Jude Jesus nun der in der Bibel verheißene Messias oder nicht? Der Streit darum ist notwendig. Aber er wird nur dann fruchtbar geführt werden können, wenn man sich einerseits gegenseitig respektiert als Adressat von Gottes Verheißungen, und wenn man sich andererseits seines eigenen Glaubens gewiss ist. Dabei wird es wichtig sein, Jesus auch von seiner jüdischen Identität her zu verstehen und sich seiner eigenen Beziehung zu ihm zu vergewissern. Gerade in der Frage nach Jesus könnten wir vielleicht auch jene Nähe zueinander entdecken, die Jesus ja auch im eingangs gehörten Evangelium dem Schriftgelehrten zuspricht (Mk. 12,28-34).

Der jüdische Theologe Pinchas Lapide hat einmal bei einem Vortrag hier in Frankfurt vor einigen Jahren gesagt:

„Ob Jesus der Messias ist? Ich weiß es nicht. Wenn er kommt, werden wir es sehen.“

Wir bleiben auf dem Weg des Glaubens, der – noch! – ein anderer ist als der Glaubensweg der Juden. Doch wir dürfen diesen Weg voller Hoffnung gehen. Voller Hoffnung darauf, dass Gott sich darauf festgelegt hat, allen mit Erbarmen zu begegnen, ganz gleich, wie der Glaubensweg zuvor verlaufen ist. Gottes Erbarmen gibt uns Hoffnung, Christen wie Juden, ja, Gottes Erbarmen gibt dieser ganzen Welt Hoffnung. Trotz der Unversöhnlichkeit und Unbarmherzigkeit, die heute noch an der Tagesordnung ist.

Es ist ein hoffnungsvoller Weg, wenn wir das Erbarmen zum Maßstab machen. Barmherzigkeit gegenüber Andersdenken und Andersglaubenden; barmherzig sein heißt ja nicht, seinen eigenen Glauben preiszugeben, sondern ihn konsequent anzuwenden. Wir sind zur Barmherzigkeit gerufen, weil wir selber von der Barmherzigkeit Gottes leben, jeden Tag.

Es mag nicht der bequemste Weg sein, sich an Gottes Erbarmen zu orientieren. Aber es ist ein hoffnungsvoller Weg, denn es ist der Weg, den Jesus uns gezeigt hat. Er hat gesagt: „Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.“

Amen.

Die Photographie 'Judaica - candlesticks, etrog box, shofar, Torah pointer, Tanach, natla', Gilabrand, 2006, Diese Datei ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Namensnennung 2.5.
Der Urheberrechtsbesitzer erlaubt es jedem, dieses Bild 'Services at a reform synagogue', Goodoldpolonius2, 2005, für jeglichen Zweck, inklusive uneingeschränkter Weiterveröffentlichung, kommerziellen Gebrauch und Modifizierung, zu nutzen.

^ Zum Seitenanfang