Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 19,41-48 Unrecht ertragen

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'Der Hirt', 1974 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Abraham als Hirte', 1974 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

10. Sonntag nach Trinitatis

Unrecht ertragen Lukas 19,41-48

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist. Lukas 19,41-48

Es gibt eine jüdische Erzählung über Abraham. Abraham saß eines Abends vor seinem Zelt, als er einen alten Mann auf sich zukommen sah, der ganz offensichtlich erschöpft war. Abraham rannte zu ihm, begrüßte ihn freundlich und lud ihn dazu ein, in seinem Zelt zu verweilen. Abraham wusch die Füße des alten Mannes und gab ihm etwas zu essen und zu trinken. Der Mann fing sofort an zu essen, ohne ein Gebet oder ein Segenswort zu sprechen. Abraham fragte ihn: „Haben Sie keine Achtung vor Gott?“ Er erwiderte: „Ich bete nur Feuer an und habe keine Ehrfurcht vor irgendeiner anderen Gottheit.“ Als Abraham das hörte, war er entsetzt. Er ergriff den Mann an den Schultern und warf ihn aus dem Zelt in die kalte Nacht hinaus. Später hörte Abraham die Stimme Gottes, die nach dem Fremden fragte. Abraham erwiderte: „Ich warf ihn hinaus, denn er hat dich nicht angebetet.“ Gott antwortete: „Ich habe diesen Feueranbeter 80 Jahre lang ertragen, obwohl er mich missachtet. Konntest du ihn nicht für eine Nacht aushalten?“

Diese Erzählung zeigt einen wesentlichen Unterschied zwischen Gott und Mensch. Es geht hier um die Fähigkeit, Unrecht zu ertragen. Gott hat eine grenzenlose Fähigkeit, das Widerborstige auszuhalten und Geduld zu bewahren. Bei Menschen ist Geduld eine Mangelware.

'Templo de Jerusalén', 1998, Juan R. Cuadra

Und die mangelnde Bereitschaft, Unrecht zu ertragen, hat etwas mit dem Lukastext zu tun, der für heute vorgesehen ist. Es geht hier um die Zerstörung Jerusalems im Jahre 70. Diese Zerstörung war eine der grausamsten Katastrophen, die das Judentum erlitten hatte. Und vielleicht darf man diese Verwüstung Jerusalems auf einen Punkt bringen; nämlich – Jerusalem wurde zerstört, weil es zu viele Menschen gab, die nicht bereit waren, Unrecht zu ertragen.

Als Jesus etwa 10 oder 12 Jahre alt war, gab es in seinem Heimatland Galiläa einen Aufrührer, der bekannt wurde als „Judas von Galiläa“. Judas von Galiläa fand es unerträglich, wie die Römer als Besatzungsmacht die Juden unterdrückten. Er rief eine Widerstandsbewegung ins Leben - eine radikale Gruppierung innerhalb des Judentums -, die bekannt wurde unter der Bezeichnung „Zeloten“. Zelot heißt übersetzt „Eiferer“. Gemeinsam mit einem Pharisäer namens Sadduk, zettelte er einen Aufstand an. Es wurde berichtet, dass Zeloten bereit waren, jede Todesart zu riskieren – auch eine Kreuzigung – um die Römer mit Gewalt aus dem Land zu vertreiben. Sie waren Terroristen, die Mordanschläge ausführten. Sie überfielen nicht nur Römer, sondern auch Verwandte und Freunde, wenn sie sich auf Kompromisse mit den Römern einließen.

Zeloten hatten keine Geduld und waren nicht bereit, Ungerechtigkeit zu ertragen. Sie waren auch nicht bereit, passiv auf Gott zu warten sondern waren davon überzeugt, dass Gott darauf wartet, dass Juden den Kampf gegen Rom aufnehmen würden. Judas soll gesagt haben: „Jetzt ist die beste Gelegenheit, sich Ruhe, Sicherheit und dazu auch noch Ruhm zu verschaffen. Gott wird aber nur dann bereit sein, den Juden zu helfen, wenn sie ihre Entschlüsse tatkräftig ins Werk umsetzen“. Gemeint war: sie müssten den Kampf gegen die Römer mit Gewalt aufnehmen, und wenn sie das täten, würde Gott sicherlich eingreifen und ihnen helfen, das Land zu befreien.

'Hl. Simon', um 1630, José de Ribera

Unter den Jüngern Jesu gab es mindestens einen Zeloten: Lukas erwähnt „Simon, genannt der Zelot“. Es wird vermutet, dass auch Simon Petrus ein Zelot war, denn er wurde Barjona genannt, ein aramäischer Spitzname für einen Zeloten, der „Gesetzloser“ bedeutet. Jesus war also bestens informiert über die Zeloten. Und vielleicht hat diese Insider-Kenntnis dazu beigetragen, dass er die Zerstörung Jerusalems voraussehen konnte. Denn die Zeloten waren weitgehend dafür verantwortlich, dass die Römer im Jahre 70 Jerusalem zerstörten. Es waren die Zeloten, die so unerbittlich gegen Rom kämpften, dass sie den Untergang Jerusalems provoziert hatten.

Jesus hat vorausgesehen, dass Jerusalem verwüstet würde. Er sagte dazu folgendes – wie wir in dem Lukastext gehört haben:

Wenn doch auch du erkenntest zu dieser Zeit, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen. Denn es wird eine Zeit über dich kommen, da werden deine Feinde um dich einen Wall aufwerfen, dich belagern und von allen Seiten bedrängen, und werden dich dem Erdboden gleichmachen samt deinen Kindern in dir und keinen Stein auf dem andern lassen in dir, weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.

Es heißt: „Weil du die Zeit nicht erkannt hast, in der du heimgesucht worden bist.“ Was damit gemeint ist, ist, dass Gott in Jesus erschienen war. Gott hat sein Volk besucht – in der Person Jesu -, aber Jerusalem hat das nicht erkannt.

Diese sogenannte „Heimsuchung“ geschah in Jerusalem, als Jesus sich verhaften ließ, als er zu Unrecht verurteilt und hingerichtet wurde. Jesus hat das Unrecht auf sich genommen und ausgehalten, ohne zurückzuschlagen. Er hat seinen Peinigern sogar vergeben. Und hier offenbarte Gott, wie er das Böse besiegen will, nämlich nicht mit tödlicher Gewalt, sondern durch ein geduldiges Ertragen des Unrechts, durch endlose Besonnenheit, durch grenzenlose Vergebungsbereitschaft. Diese Offenbarung soll uns Menschen zeigen, was zum Frieden dient.

Es gibt kaum eine biblische Begebenheit, die so aktuell ist. Die Zeloten sind zwar in den 70er Jahren des ersten Jahrhunderts untergegangen – in Jerusalem und in Masada. Aber die Mentalität der Zeloten gibt es immer noch. Fundamentalistische Terroristen sind die modernen Nachfolger der Zeloten: Eiferer, die meinen, dass sie etwas Gottgefälliges tun, wenn sie Terroranschläge ausführen. Und Jerusalem ist nach wie vor eine bedrohte Stadt, weil die kämpfenden Parteien so absolut unerbittlich sind. Was dem Frieden dient, wurde ein für allemal auf Golgatha demonstriert: irgendwann muss irgendjemand bereit sein, Unrecht und Leiden mit Geduld zu ertragen, muss bereit sein, Feinden zu vergeben - im Vertrauen auf Gott, dass er allein eine wahre Gerechtigkeit verwirklichen wird.

In der Geschichte der Christenheit gibt es unzählige Beispiele für Menschen, die im Sinne Jesu Unrecht ausgehalten hatten, damit ein grundlegender Frieden eintreten kann. Es gab z. B. eine Holländerin, die während des dritten Reiches im Konzentrationslager Ravensbrück inhaftiert war, weil sie Juden versteckt hatte. Nach dem Krieg hatte sie eine Begegnung mit einem Wächter dieses Gefangenenlagers, der durch seine brutale Kaltblütigkeit auffällig gewesen war. Er hatte diese Holländerin verspottet, sie sexuell belästigt und gedemütigt. Als er vor ihr stand, streckte er seine Hand aus und bat um Vergebung. Diese Frau schrieb dazu folgendes: „Als ich da stand, ist mein Herz von Kälte ergriffen worden, aber ich wusste, dass der Wille funktionieren kann, egal welche Temperatur das Herz hat. Ich betete: Jesus, hilf mir! Ich streckte meine Hand aus – die Bewegung war steif und mechanisch – und ergriff seine Hand. Und dann erlebte ich etwas Erstaunliches: es war, als ob ich unter Strom stand: mein ganzes Wesen wurde mit dem Erleben einer warmherzigen Versöhnung überflutet, ich bekam Tränen in die Augen. Ich sagte: „Ich vergebe dir, Bruder.“ Mit meinem ganzen Herzen weinte ich. Lange Zeit hielten wir einander die Hand: er, der ehemalige Wächter, ich, die ehemalige Gefangene. Ich habe die Liebe Gottes nie so intensiv erlebt wie in diesem Moment.“ Dieses Beispiel zeigt, wie wahrer Frieden eintreten kann.

Rache und Vergeltung führen nie zu einem grundlegenden Frieden. Nur die Bereitschaft, Unrecht zu ertragen und bedingungslos zu vergeben, kann einen Frieden verwirklichen, der authentisch und dauerhaft ist. Und Vergebung zu schenken ist zuallererst eine Willensentscheidung, die von den Gefühlen nicht abhängig ist.

'Bigpela Long Ol Pipol' - John Siune, Port Moresby, Papua New Guinea (Jesus besucht ein Dorf in Papua-Neuguinea)

Es ist verblüffend, welche Abgründe überbrückt werden können, wenn Menschen bereit sind, im Namen Jesu auch unzumutbare Situationen zu ertragen. In Papua Neu-Guinea wohnen Christen, die ehemalige Kannibalen waren. An einem Sonntag wurde ein Abendmahlsgottesdienst gefeiert. Als ein Mann in die Gemeinde kam, reagierte einer der Anwesenden auf eine auffällige Weise. Es war ihm anzusehen, dass er aufgewühlt war: sein Körper zitterte, als ob ein Nervenzusammenbruch bevorstand. Aber dann wurde er still. Nach dem Gottesdienst wurde er gefragt, was mit ihm los war. Er antwortete: Ich sah einen Mann, der meinen Vater getötet und aufgegessen hatte. Und nun war er gekommen, um mit uns des Herrn zu gedenken. Zuerst war ich nicht sicher, ob ich diese Situation ertrage. Aber jetzt ist alles in Ordnung. Denn er ist rein geworden – wie ich – durch das kostbare Blut Christi.“

In der Holländerin und in dem Abendmahlsgottesdienst in Neuguinea wurde die Art Frieden offenbart, die Jerusalem hätte retten können. Wenn die Bewohner Jerusalems rechtzeitig erkannt hätten, was Jesus darstellte, wären sie nicht untergegangen. In Jesus wurde offenbart, dass es zuletzt keine Schande ist, Unrecht zu ertragen. Nur Vergebung kann die volle Würde eines Menschen herstellen: das gilt für den Täter und für das Opfer. Nur Vergebung kann Gefangene von Besessenheit befreien. Nur Vergebung kann Frieden und Gerechtigkeit verwirklichen. Möge Gott uns helfen, das Unzumutbare zu ertragen und die Gnade Gottes zu verkörpern – um Christi willen und um unsertwillen.

Die Photographie 'Templo de Jerusalén ', 1998, Juan R. Cuadra, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Bild 'Hl. Simon', um 1630, José de Ribera, ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Das Bild 'Bigpela Long Ol Pipol' - John Siune, Port Moresby, Papua New Guinea (Jesus besucht ein Dorf - Papua-Neuguinea) ist Teil der Ausstellung "Jesus Laughing and Loving".
Wir danken Major Issues & Theology Centre Inc in Australien (http://www.miat.org.au/index.html) für die freundliche Erlaubnis, Bilder von der Ausstellung "Jesus Laughing and Loving" auf unserer Website kostenlos zu zeigen.
Die fast vollständige Ausstellung - mit Erläuterungen der Künstler (in Englisch) - ist auf der folgenden Website zu sehen: http://www.miat.org.au/page/jesus_laughing_exhibition.html.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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