Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 9, 17 – 27 Gott tötet nicht

« Predigten Home

'Placa conmemorativa na casa da familia de Adolfo Pérez Esquivel', PD-PROPIA., 2008

17. Sonntag nach Trinitatis

Gott tötet nicht Markus 9, 17 – 27

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 1999

Einer aber aus der Menge antwortete: Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, dass sie ihn austreiben sollen, und sie konnten's nicht. Er aber antwortete ihnen und sprach: O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir! Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riss er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund. Und Jesus fragte seinen Vater: Wie lange ist's, dass ihm das widerfährt? Er sprach: Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, dass er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns! Jesus aber sprach zu ihm: Du sagst: Wenn du kannst - alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Sogleich schrie der Vater des Kindes: Ich glaube; hilf meinem Unglauben! Als nun Jesus sah, dass das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein! Da schrie er und riss ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so dass die Menge sagte: Er ist tot. Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf. Markus 9, 17 – 27 Gott tötet nicht

Im Jahre 1980 wurde der Friedensnobelpreis an Adolfo Perez Esquival verliehen, einen katholischen Menschenrechtsverfechter in Argentinien. Er wurde im Jahre 1977 verhaftet und in ein Folterzentrum gebracht. Dort verbrachte er die Karwoche. In seiner Gefängniszelle gab es kein Licht. Aber wenn die Tür aufging, konnte er für kurze Zeit sehen, dass es an der Wand viele Inschriften gab: Gebete, Namen, Beschimpfungen, Namen von Fußballclubs und ähnliches. Und als er diese Inschriften betrachtete, fiel ihm besonders eine Stelle auf. Er schreibt dazu folgendes: „Ich erblickte auch einen großen Blutfleck. Darunter stand mit einem in Blut getauchten Finger geschrieben: „Dios no mata“- Gott tötet nicht. Das ist etwas, was sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat und was ich mein Leben lang mit mir tragen werde.“

Dieser Satz: „Gott tötet nicht“, wirkt wie eine belanglose Aussage. Aber dieser Satz bringt zum Ausdruck, was Gott von uns Menschen unterscheidet: Menschen töten, Gott tötet nicht. Im Laufe eines Menschenlebens wird es Momente geben, in denen jeder von uns eine lebensverneinende Wirkung hat, indem man zum Beispiel eine tödliche Kälte ausstrahlt oder einen Menschen in seiner Seele so verletzt, dass ein Stück Leben erstickt wird. Es lässt sich nicht vermeiden, dass auch der gütigste Mensch ab und zu etwas sagt oder tut, das auf irgendeine Weise Leben angreift. Wie es in dem 1. Johannesbrief heißt: Wer seinen Bruder hasst, der ist ein Totschläger.

Aber was steckt dahinter? Warum gibt es in uns Menschen manchmal eine tödliche Kälte, die das Leben der Mitmenschen angreift? Der Markustext, der für heute vorgesehen ist, kann uns helfen, in diesem Zusammenhang eine Wahrheit zu entdecken.

In diesem Text geht es um die Unterscheidung zwischen Glauben und Unglauben. Wenn wir heute das Wort „Unglauben“ hören, denken wir an Menschen, die sagen: „Es gibt keinen Gott“ oder die sagen: „Es gibt einen Gott, aber ich brauche nicht deswegen in die Kirche zu gehen.“ Aber Unglaube, biblisch gesehen, ist tiefgründiger.

'Christus heilt einen Besessenen', Handschriftenillumination aus einem Stundenbuch des Grafen von Berry, vermutlich 15. Jahrhundert

In der Markuserzählung wird vorgeführt, wie Unglaube aussieht. Ein Kind, das von einem bösen Geist besessen ist, wird zu den Jüngern Jesu gebracht, als Jesus abwesend ist. Die Jünger sind hilflos diesem bösen Geist gegenüber. Dann kommt Jesus und sucht den Vater des Kindes auf. Der Vater sagt zu Jesus: „Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist“. Aber die Jünger waren hilflos. Dann sagt der Vater zu Jesus: „Wenn du etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!“ Der Vater ist skeptisch, ob Jesus wirklich etwas ausrichten kann. Und als Jesus den bösen Geist austreibt, wird das Kind ohnmächtig und die Zuschauer meinen: „Er ist tot“. Sie meinen, Jesus hat das Kind umgebracht; er hat die Sache vermasselt. In diesen Einzelheiten sehen wir, was Unglaube ausmacht. Was Unglaube ausmacht, ist die Erwartung, dass das Böse stärker ist als Gott.

Denn das Böse scheint übermächtig zu sein und Gott scheint ohnmächtig zu sein. Denn was tut Gott zum Beispiel, um Kriege zu verhindern? Scheinbar nichts. Was tut Gott, wenn ein Verbrecher dabei ist, ein hilfloses Opfer zu überfallen? Scheinbar nichts. Und so wie die Jünger Jesu damals hilflos waren, den bösen Geist auszutreiben, so sind auch die heutigen Jünger Jesu, die wir Kirche nennen, scheinbar genauso hilflos, wenn es darum geht, die bösen Geister dieser Welt zu bekämpfen. Scheinbar ist das Böse stark und Gott ist schwach.

Denn tief in uns Menschen steckt die Vorstellung, dass alles Leben zuletzt der Vernichtung geweiht ist und dass es keine Macht gibt, die etwas dagegen tun kann. Das Endziel des Lebens ist Staub und Asche, so weit wir das feststellen können.

Aber da, wo diese Denkweise vorkommt, muss man von Unglauben sprechen. Jesus hat diesen Unglauben gespürt und es hat ihn belastet, denn er sagte: „O du ungläubiges Geschlecht... Wie lange soll ich euch ertragen?“ Und der Unglaube der Zuschauer wurde auch deutlich, als sie dachten, dass Jesus das Kind umgebracht hatte. Sie hatten gedacht, dass Jesus töten kann, aber dass er nicht mächtig genug ist, um Leben zu retten.

Und dieser Unglaube ist die Ursache für alle Rücksichtslosigkeit und alle tödliche Gefühlskälte. Denn wenn das Endziel Vernichtung ist, dann gibt es keinen Grund, rücksichtsvoll oder barmherzig zu sein. Wenn Staub und Asche die Endbestimmung aller Menschen ist, dann muss man sehen, dass man möglichst viel erlebt und genießt, ehe es zu spät wird.

Es gibt einen alten DDR-Witz aus den 80er Jahren, der diese Einstellung des Unglaubens veranschaulicht. Gott rief die Staatsführer aus aller Welt zusammen und teilte ihnen mit: in diesem Jahr am 30. Mai wird die Welt untergehen! Der Parteisekretär der Sowjetunion, Breschnew, sagt sofort: „Dann werde ich an mein Volk Kaviar und Krimsekt verteilen lassen, damit sie einen letzten Genuss vor dem Weltuntergang haben. Der Präsident der USA, Ronald Reagan, sagt: Nun, mein Volk bekommt zum Weltuntergang von mir Steaks und Whisky bis zum Abwinken.“ Erich Honecker sitzt grübelnd in der Ecke. Der Herr fragt ihn: „Und wie ist es mit dir? Warum sagst du nichts?“ Honecker antwortet: „Ich überlege mir gerade, ob ich den 30. Mai vorarbeiten lasse.“

In dieser Anekdote sehen wir die zwei Möglichkeiten, die entstehen, wenn Vernichtung droht: entweder man versucht, möglichst viel Genuss und Erlebnis herauszuholen, oder man versucht, die Menschen rücksichtslos für sich auszunutzen. Beide Möglichkeiten entstehen, wenn man keine Hoffnung hat, die über das Grab hinausgeht.

Wer sich aber für ein Leben des Glaubens entscheidet, wird so leben, als ob Gott zuletzt das Böse und den Tod besiegen wird. Oder genauer gesagt: so leben, als ob der Sieg über Tod und Teufel schon gewonnen ist – gemeint ist der Ostersieg Jesu Christi – und dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis dieser Sieg verwirklicht wird - überall und endgültig verwirklicht wird.

Aber wer im Glauben leben will, muss ein Element dieses Glaubens beachten, das oft übersehen wird. Nämlich: Gott tötet nicht. In früheren Zeiten hat man geglaubt, dass Gott tötet und im Namen Gottes wurde getötet. Es gab die Kreuzzüge, die Hexenverbrennungen, die Inquisition. Und es gibt ein Erbe aus dieser gewalttätigen Zeit, das wir noch mit uns herumschleppen. Es kann uns schwerfallen, die Freiheit zu erkennen, die Gott allen Menschen gönnt. Es kann uns schwerfallen, zu erkennen, dass ein Mensch auch die Freiheit und das Recht hat, ungläubig zu sein, wenn er will, und dass er deswegen kein minderwertiger Mensch ist. Es kann uns schwerfallen, anzuerkennen, dass Glaube und Unglaube Entscheidungen sind, die rein freiwillig vollzogen werden dürfen.

Es gab in Osteuropa einen Rabbi, der diese Wahrheit erkannt hatte. Ein Rabbi Abraham Jehoschua Heschel aus dem Dorf Apta, von dem es einige Legenden gibt, sagte einmal folgendes: „Gott will, dass die freie Wahl sei, darum hat er bis heute gewartet. Denn in der Zeit des Tempels gab’s Todes- und Prügelstrafe, und somit noch keine Freiheit. Denn man wurde gezwungen, das Rechte zu tun. Danach gab es Strafverordnungen in Israel, und somit noch keine Freiheit. Heute jedoch ist es so geworden, dass jeder ohne Scham öffentlich sündigt, und es ergeht ihm wohl. Darum, wer heute recht lebt, ist in Gottes Augen gerecht, und an ihm hängt die Erlösung.“ Was dieser Rabbi im Rahmen des Judentums sagt, gilt auch für uns Christen.

Es gab früher Druck, Christ zu sein. Bis heute gibt es in manchen Dörfern noch einen sozialen Druck, Christ zu sein. Deswegen kommt es vor, dass junge Menschen – wenn sie von einer Kleinstadt nach Frankfurt ziehen – zuallererst aus der Kirche austreten. In der Anonymität einer Großstadt gibt es keinen Druck mehr, Kirchenmitglied zu sein. Man muss nicht mehr in die Kirche gehen, um einen schlechten Ruf zu vermeiden. Wer nicht zur Kirche gehört, ist deswegen nicht unanständig. Wer nicht Christ ist, muss nicht mit einer Strafe Gottes oder einer Strafe der Christenheit rechnen.

Es fällt uns Christen manchmal schwer, diese Situation als etwas Positives zu sehen, aber sie ist tatsächlich gut für uns. Denn die Entscheidung, Christ zu sein, ist eine rein freiwillige Entscheidung geworden, und das ist gut so. Denn nur auf diese Weise kann Glaube gedeihen.

Denn Glaube bedeutet, sich rein freiwillig dafür zu entscheiden, mit der Erwartung zu leben, dass Gott der Inbegriff des Lebens ist. Und das Leben, das Gott darstellt, ist grundsätzlich gut, grundsätzlich gnädig, ohne tödliche Bestandtteile; denn Gott tötet nicht. Das Leben, das Gott in Jesus offenbart hat, ist ein ewiges, unzerstörbares Leben. Und dieses Leben wird das Böse zuletzt überwinden.

'Portrait of Leo Tolstoy
', 1873, Kramskoi, Ivan Nikolaevich

Zu der Zeit als die Zaren in Rußland regierten, gab es einen jungen Mann, der den Schriftsteller Tolstoi und das Neue Testament las und daraufhin ein Kriegsdienstverweigerer wurde. Allerdings war diese Haltung gesetzlich nicht erlaubt und der Jugendliche wurde verhaftet. Bei der Gerichtsverhandlung erzählte er dem Richter von seiner Einstellung: er wollte seine Feinde lieben, denen Gutes tun, die es nicht gut mit ihm meinen, vergeben, nicht vergelten, das Böse erleiden und es mit Gutem überwinden und sich weigern, in einem Krieg zu kämpfen. Der Richter erwiderte: „Ich verstehe Sie. Aber Sie müssen realistisch sein. Was Sie da schildern sind Zustände, die in dem Reich Gottes vorkommen und dieses Reich ist noch nicht eingetreten.“

Der junge Mann antwortete: „Ich erkenne, dass dieses Reich für Sie noch nicht gekommen ist, auch nicht für Russland oder für die Welt. Aber das Reich Gottes ist für mich schon da. Und ich kann nicht töten oder hassen, so als ob es noch nicht eingetreten wäre.“

In dieser Auseinandersetzung wird veranschaulicht, was Glaube ist. Glaube nimmt eine Zeit vorweg, die noch nicht eingetreten ist. Glaube tut so, als ob das Böse schon besiegt worden ist. Glaube tut so, als ob die Bösartigen schon fromme Menschen wären. Und Glaube ist eine rein freiwillige Haltung. Es besteht zum Beispiel kein Zwang, Pazifist zu sein. Wer aber glaubt, wird eine Haltung einnehmen, die in dieser Welt naiv erscheint.

Der Vater in dem Markustext betete: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“. Das heißt: Glaube und Unglauben stecken in uns und kämpfen miteinander. Ein Afrikaner, der Christ wurde, erklärte einem Freund, wie es ist, Christ zu sein. Er sagte: „Es ist, als ob zwei Hunde in mir sind, die miteinander kämpfen. Einer ist gutartig, der andere ist bissig.“ Der Freund fragte: „Und wer gewinnt?“ Der Afrikaner sagte: „Das hängt davon ab, welchen Hund ich füttere.“ Glaube muss also gefüttert werden: mit Gebet, mit Bibeltexten, mit Wort und Sakrament, mit Lobgesang und mit Liebesdiensten. Möge Gott uns helfen, zu glauben.

Die Photographie 'Placa conmemorativa na casa da familia de Adolfo Pérez Esquivel', PD-PROPIA., 2008, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Die Abildung 'Christus heilt einen Besessenen', Handschriftenillumination aus einem Stundenbuch des Grafen von Berry, vermutlich 15. Jahrhundert, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'Portrait of Leo Tolstoy', 1873, Kramskoi, Ivan Nikolaevich, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

^ Zum Seitenanfang

PSch