Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Römerbrief 11, 25 – 32 Warum Gott uns auch allein läßt

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'Exodus', 1975 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Exodus', 1975 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

10. Sonntag nach Trinitatis

Warum Gott uns auch allein läßt Römerbrief 11, 25 – 32

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

Ich will euch, liebe Brüder, dieses Geheimnis nicht verhehlen, damit ihr euch nicht selbst für klug haltet: Verstockung ist einem Teil Israels widerfahren, so lange bis die Fülle der Heiden zum Heil gelangt ist; und so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht (Jesaja 59,20; Jeremia 31,33): »Es wird kommen aus Zion der Erlöser, der abwenden wird alle Gottlosigkeit von Jakob. Und dies ist mein Bund mit ihnen, wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde.« Im Blick auf das Evangelium sind sie zwar Feinde um euretwillen; aber im Blick auf die Erwählung sind sie Geliebte um der Väter willen. Denn Gottes Gaben und Berufung können ihn nicht gereuen. Denn wie ihr zuvor Gott ungehorsam gewesen seid, nun aber Barmherzigkeit erlangt habt wegen ihres Ungehorsams, so sind auch jene jetzt ungehorsam geworden wegen der Barmherzigkeit, die euch widerfahren ist, damit auch sie jetzt Barmherzigkeit erlangen. Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme. Römerbrief 11, 25 – 32

Es wird von einem Mann berichtet, dessen Frau so krank wurde, dass sie für eine längere Zeit bettlägerig war. Er hat sie deshalb von einem Zimmer in das andere getragen. An sonnigen Tagen trug er sie auf die Terrasse oder in den Garten und legte sie in einen Liegestuhl. Er hat sie ständig bedient.

Eines Tages sagte der Arzt: „Wenn Sie so weiter machen, wird sie nie wieder laufen. Sie genießt es, getragen zu werden und ständig liegen zu bleiben. Sie ist zu bequem geworden und versucht nicht mehr, aus eigener Kraft aufzustehen.“ Der Mann nahm sich diese Mahnung zu Herzen, und als er nach Hause kam, weigerte er sich, sie zu tragen. Er schaute zu, wie sie versuchte, aufzustehen und einige Schritte zu gehen. Ihre Beine zitterten und sie stolperte, bis sie hinfiel und auf den Boden lag. Es zerriss ihm sein Herz, das anzuschauen. Er wollte ihr helfen, aber er hielt sich zurück und schaute zu, wie sie mühselig aufstand. Es wäre so leicht gewesen, ihr zu helfen, aber er wusste, dass er sich zurückhalten musste, damit sie wieder die Kraft bekäme, selbstständig zu laufen.

'Saint Joseph with the Infant Jesus',  c 1635, Guido Reni

Diese Begebenheit dient als Gleichnis. Am Anfang der biblischen Geschichte wird viel von dem Eingreifen Gottes berichtet. Die grundlegende Geschichte Israels - die Befreiung aus Ägypten, der Durchzug durch das Schilfmeer, die Offenbarung am Sinai, die Wüstenwanderung und der Einzug in das gelobte Land - ist durch das heftige Eingreifen Gottes geprägt. In dieser Anfangsphase hat Gott das Volk Israel getragen. Wie es in dem 2. Buch Mose heißt:

„Ihr habt gesehen, was ich mit den Ägyptern getan habe und wie ich euch getragen habe auf Adlerflügeln und euch zu mir gebracht.“ (19.4)

Oder im 5. Buch Mose heißt es:

„...und in der Wüste. Da hast du gesehen, dass dich der HERR, dein Gott, getragen hat, wie ein Mann seinen Sohn trägt, auf dem ganzen Wege, den ihr gewandert seid, bis ihr an diesen Ort kamt.“ (1, 31)

Gott hatte Israel als sein Volk auserwählt und hat es mit allem Notwendigen ausgestattet. Aber nach dem Einzug in das gelobte Land wurde das Eingreifen Gottes weniger häufig und weniger dramatisch; Gott hielt sich zurück. Ab dem Einzug musste das Volk lernen, selbständig zu laufen, die volle Verantwortung zu übernehmen und eigenständig zu funktionieren. Gott hat das Volk nie allein gelassen, denn er hat weiterhin Boten gesandt, die seinen Willen verkündeten. Aber er hat das Volk nicht davor bewahrt, katastrophale Fehler zu machen. Die Israeliten – wie wir in der Bibel nachlesen können - waren manchmal starrsinnig, manchmal blind, manchmal primitiv. Ihre Vorstellungen von Gott waren hin und wieder naiv oder abergläubisch. Das Volk neigte dazu, immer wieder andere Götter auszuprobieren, was die Propheten als Prostitution bezeichneten. Aber die Treue Gottes zu seinem Volk war kompromisslos; er hat Israel nie aufgegeben, wie der heutige Römerbrieftext bezeugt.

Und vor 2000 Jahren war die Zeit reif für ein neues Eingreifen Gottes: Gott wurde Jude und wohnte in Palästina. Einige Tausende von Juden erkannten in Jesus den lang erwarteten Messias. Die Hauptströmung des Judentums aber konnte Jesus als Messias nicht akzeptieren, denn er entsprach nicht den Erwartungen – Erwartungen, die biblisch verankert sind.

In dieser Situation hielt sich Gott zurück: er hat das Judentum nicht gezwungen, Jesus zu akzeptieren, sondern er ließ es seinen eigenen Weg gehen. Wie Jesus feststellte:

Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!

In der Anfangsphase der Kirche haben die Apostel versucht, Juden für den Glauben an Jesus als Messias zu gewinnen. Eine kleine Minderheit sagte Ja dazu, aber von der Mehrheit und von den maßgeblichen, führenden Personen kam ein großes Nein. Und dieses Nein hat dazu geführt, dass die Botschaft Jesu Nicht-Juden verkündet wurde.

'Replica of the Temple menorah', 2007, ariely

Diese Ablehnung ist der Hintergrund zu dem Römerbrieftext, der für heute vorgesehen ist. Paulus stellt fest, dass ein Teil des Volkes Israels verstockt ist. Denn es hat nicht erkannt, dass Gott in Jesus erschienen ist. Daraufhin wurde das Evangelium den sogenannten Heiden verkündet. Wenn das Judentum Jesus als Messias angenommen hätte, wäre die Weltgeschichte anders abgelaufen. Aber die Ablehnung Jesu und die Verfolgung der Christen in Jerusalem führten dazu, dass die Anhänger Jesu in alle Richtungen zerstreut wurden und dass eine Weltreligion entstanden ist.

Gerade weil das Christentum sich so erfolgreich ausgebreitet hatte, bestand die Gefahr der Überheblichkeit. Deshalb will Paulus die Christen davor bewahren, auf die Juden herabzuschauen. Die Christen sollen nicht denken, dass Gott seinen Bund mit Israel gekündigt hätte. Paulus stellt fest: Gott wird seine Erwählung Israels nie rückgängig machen und wird Israel zuletzt von allen Versklavungen befreien. Mit anderen Worten: die Verheißungen Gottes sind absolut zuverlässig.

Dieser Trost gilt auch für uns Christen, denn wir haben dasselbe durchgemacht wie die Juden. Die Geschichte Israels wiederholte sich in der Geschichte der Kirche. Am Anfang der Kirche gab es ein heftiges Eingreifen Gottes: die Menschwerdung Gottes und die Auferstehungserscheinungen Christi waren massive Eingriffe in die Weltgeschichte. Die Christenheit wurde danach mit allem ausgestattet, was sie brauchte: die Sakramente, das Neue Testament, das Evangelium, das durch Apostellehre und durch Konzilien verbindlich definiert wurde. Zwar wird die Kirche durch den Heiligen Geist am Leben erhalten und immer wieder erneuert, aber Christen mussten lernen – wie die Juden vorher -, selbständig zu laufen, die volle Verantwortung zu übernehmen, ohne dass Gott ständig eingreift. Denn nur so können wir reifen und für die Herrlichkeit vollendet werden, für die wir vorgesehen sind.

Und die Christenheit – wie das Judentum – hat katastrophale Fehlentwicklungen durchgemacht. Alles, was im Alten Testament geschildert wird - Abtrünnigkeit, Verbohrtheit, maßlose Selbstüberschätzung, Dummheit, Aberglauben, Ausbeutung, sogenannte heilige Kriege im Namen Gottes – das alles wiederholte sich in der Geschichte des Christentums.

Dementsprechend lautet der letzte Satz des heutigen Römerbrieftextes:

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Eine genauere Übersetzung lautet: Gott hat alle in die Haft übergeben. Man könnte diesen Satz deshalb folgendermaßen übertragen: Juden und Christen sitzen in demselben Boot, denn sie sind wie in einem Gefängnis – sie sind in Eigensinn gefangen und an die Vergänglichkeit gekettet; aus eigener Kraft werden sie nicht heil aus dieser Welt herauskommen, aber Gott hat vor, zuletzt alle Gefangenen von allen Versklavungen zu befreien.

Befreiung von Versklavung ist der gemeinsame Nenner für Juden und Christen. Gott hat sich durch Sklavenbefreiung immer wieder definiert: er befreite Israel aus der ägyptischen Sklaverei und aus der babylonischen Gefangenschaft. Jesus Christus ist in das Gefängnis des Totenreiches eingedrungen, um alle Toten zu befreien; Petrus und Paulus erlebten dramatische Gefängnisbefreiungen. Und unzählige Christen haben mitten in den schlimmsten Gefangenschaften eine Befreiung von aller Angst erlebt. Gefangenenbefreiung ist eine Spezialität Gottes. Sie kann in unerwarteten Situationen eintreten und kann Personen erwischen, die total von ihm entfremdet sind.

'Der Ssher', 1987 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Der Seher', 1987 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

Es gab z. B. in den 30er Jahren einen abgebrühten Kriminellen mit dem Namen Starr Daily. Schon mit 16 hatte er sich vorgenommen, ein gefährlicher Verbrecher zu werden – und es ist ihm gelungen. Nach seiner ersten Verhaftung verbrachte er 14 Jahre im Gefängnis. Bei seiner letzten Verhaftung hatte er sich vorgenommen, einen Ausbruch durch Geiselnahme durchzuführen, aber sein Vorhaben wurde entdeckt und er wurde in ein finsteres Loch gesteckt, wo er hungerte und fror. Es ging darum, seinen Willen zu brechen. Nach 2 Wochen war er in einem erbärmlichen Zustand. Und in dieser Finsternis hatte er eine Begegnung mit Jesus Christus. Der Gefangene sah Jesus vor sich stehen und spürte die unendliche Liebe, die er ausstrahlte. Er war auf der Stelle verwandelt. Sein Hass und seine Rachgier waren wie weggeblasen. Er stellte fest, dass auch die Gefängniswärter von diesem Zeitpunkt an ihm gegenüber anders waren, denn sie spürten, dass er nicht mehr voller Aggressivität war, sondern Menschfreundlichkeit und Barmherzigkeit ausstrahlte. Weil seine Verwandlung dauerhaft war, kam er später aus dem Gefängnis heraus und begann ein ehrliches Leben.

Dieses Ereignis ist exemplarisch; es ist eine Vorschau, was Juden und Christen gemeinsam erwarten. Wir warten auf einen Tag, an dem der Messias in seiner Herrlichkeit erscheinen und alles verwandeln wird. Er wird mit seiner Liebe innerhalb der Finsternis dieser Welt erscheinen und eine umfassende Befreiung durchführen. Wir warten gemeinsam auf einen Tag, an dem alle Menschen Gott erkennen werden, weil der Messias auf eine unübersehbare Weise aufgetreten ist. Ein Unterschied zwischen Juden und Christen besteht darin, dass wir glauben, den Namen des Weltretters zu kennen.

Bis dieser Tag eintritt, sind wir – Juden und Christen – weitgehend uns selbst überlassen. Manchmal wünschen wir uns einen Gott, der uns ständig trägt, der eingreift, wenn das Leben zu schwer wird, der uns sofort tröstet, wenn wir untröstlich sind. Aber er lässt uns zittern, stolpern und hinfallen, damit wir reifen können und mündig werden. Denn wir haben alles bekommen, was wir brauchen, um Gott und den Mitmenschen zu dienen, bis der Tag kommt, an dem Juden und Heiden in Gott vereint werden. Möge Gott uns die Kraft geben, ihm treu zu bleiben, so wie er seinem auserwählten Volk und seiner Kirche treu geblieben ist.

Das Gemälde 'Saint Joseph with the Infant Jesus', c 1635, Guido Reni, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Replica of the Temple menorah', 2007, ariely, wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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