Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Organist (1945 - 1956) der Dreikönigskirche

« Archiv-Home

Helmut Walcha

* 27. Oktober 1907

in Leipzig, Schüler von Günther Ramin und Günther Raphael

1926

erblindete Walcha vollständig

1926 - 1929

Organist an St. Thomas in Leipzig (als Stellvertreter Günther Ramins)

1929 - 1944

Organist an der Friedenskirche in Frankfurt am Main

ab 1933

Lehrer am Hoch'schen Konservatorium

seit 1938 bis zu seiner Emeritierung 1977

Professor an der Musikhochschule in Frankfurt am Main

ab 1938

veranstaltete er die „Bachstunden“

ab 1944

widmete er sich durch die Zerstörung der Orgeln verstärkt dem Cembalo und der Kammermusik

Von 1946 bis 1981

war er Organist an der Dreikönigskirche

von 1947 bis 1981

spielte Walcha hier regelmäßig die Vespern am Samstag um 17 Uhr, teilweise sang dabei die Kantorei

1947

erfolgte die erste und 1971 vollendete er die zweite Gesamteinspielung des Bach'schen Orgelwerkes

Nach dem Krieg erfolgten neben seiner Tätigkeit als Lehrer häufige Konzertreisen im In- und Ausland.
Helmut Walcha ist am 11. August 1991 in Frankfurt am Main gestorben.

Mehr Informationen zu Kurt Thomas und Helmut Walcha - besonders über ihre Zeit an der Dreikönigskirche in Frankfurt finden Sie unter www.kurtthomas.de

Peter Hofmann

Zur Erinnerung an Helmut Walcha

Jahrzehnte lang war Orgelmusik für Frankfurter unweigerlich mit dem Namen Helmut Walcha verbunden. Ältere und alte Leute - wie der Schreiber dieser Zeilen - werden sich an die Bachstunden in der Universitätsaula erinnern, die vor allem in den ersten Nachkriegsjahren die Härten der damaligen Zeit zurücktreten ließen. Das lag sicher in erster Linie an der Orgelmusik, aber auch an der unpathetischen, freundlichen Art, in der Walcha die Werke charakterisierte. Dabei spürte man, wie sehr Musik und fester Glaube für ihn untrennbar verbunden waren.

Kaum zu glauben war, daß dieser Mann, der Werke von größter polyphoner Komplexität darbot, seit seinem neunzehnten Lebensjahr blind war. Die Beherrschung eines gewaltigen Repertoires hat neben seinem phänomenalen Gedächtnis und seiner Fähigkeit, musikalische Form zu erfassen, Ursula, seine Frau, möglich gemacht. Wenn er ein weiteres Orgelwerk einstudierte, spielte sie ihm die einzelnen Stimmen vor, und er setzte sie im Kopf zusammen - eine geradezu unvorstellbare Leistung.

Viele Frankfurter haben ihn bei Gottesdiensten der Dreikönigskirche erlebt, in der er von 1946 bis 1981 die OrganistensteIle innehatte.

Samstagnachmittags spielte er regelmäßig die Orgel während der Vesper, oft Improvisationen über einen Choral. Die Nähe zu Bach war dabei unverkennbar. Wenigstens einmal im Monat wirkte bei den Gottesdiensten die Kantorei der Dreikönigskirche unter der Leitung von Kurt Thomas mit, bis dieser die Stelle des Thomaskantors in Leipzig übernahm. Die Gemeindepfarrer Martin Schmidt und Fritz Creter haben die Arbeit von Walcha und Thomas mit großer Anteilnahme unterstützt.

Seit 1938 war Walcha Professor an der Frankfurter Musikhochschule. Viele seiner Schüler denken noch heute dankbar an diese Lehrtätigkeit. Über Frankfurt, ja über Deutschland hinaus wurde er durch Konzertreisen bekannt, aber auch durch seine Schallpatteneinspielung des gesamten Bachschen Orgelwerks sowie der Orgelkonzerte von Händel. Auch komponiert hat Walcha, wobei vor allem seine Choralvorspiele zu nennen wären. Noch heute steht man staunend vor dem Schaffen dieses 1907 geborenen und 1991 gestorbenen Musikers.

Oswald Stein

Oswald Stein hat ab 1949 in der Kantorei der Dreikönigs-kirche gesungen. Er war im Schuldienst tätig und gab mehrere Schulbücher heraus. Stein ist auch Verfasser des lesenswerten Buches „Abgebaut – Eine Familie erlebt das Dritte Reich“, Verlag Haag+Herchen, ISBN 3-89228-829-1.

Vom Mythos zum Menschen - Zum 100. Geburtstag von Helmut Walcha

Der 100. Geburtstag des blinden Organisten Helmut Walcha am 27. Oktober 2007 gab Anlass, sich wieder verstärkt mit dem Lebenswerk des außergewöhnlichen Bach-Interpreten zu beschäftigen. Helmut Walcha wurde in Leipzig geboren, studierte bei Karl Straube und Günther Ramin und wirkte seit 1929 in Frankfurt am Main als Organist und Hochschullehrer. Seine internationale Konzerttätigkeit und mehrere Bach-Gesamteinspielungen machten ihn weltweit bekannt. Gut 30 Jahre später bietet sich nun die Chance, Walchas Interpretationsweise aus der Distanz neu zu betrachten; vielleicht gelingt es nun auch, wieder verstärkt den Menschen Helmut Walcha gegenüber dem Mythos ins Blickfeld zu rücken. Die Gedenkkonzerte in Frankfurt und München boten hierfür reichlich Ansatzpunkte.

An der Dreikönigskirche im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen war Walcha von 1946 bis 1981 als Organist tätig. Ihm folgte seine Assistentin Renate Meierjürgen. Kantor und Organist der neu strukturierten, größten evangelisch-lutherischen Gemeinde Frankfurts ist Andreas Köhs, Jahrgang 1965 und u.a. bei Edgar Krapp, Wolfgang Schäfer und Dorthy de Rooij ausgebildet. Zusammen mit einigen engagierten Gemeindegliedern richtete er unter bedeutendem eigenem Einsatz am 27. und 28. Oktober drei stilvolle musikalische Veranstaltungen zur Erinnerung an den Jubilar aus.

Wie zu Walchas Zeiten war die Vesper in ihrer liturgischen Anlage und Intention ausschließlich auf das Wort Gottes und dessen musikalische Verkündigung konzentriert. Die von Pfarrer Thomas Sinning gelesenen Bibelworte umrahmte Köhs mit Dietrich Buxtehudes Praeludium F-Dur (BuxWV 145), Johann Sebastian Bachs Choralbearbeitung „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ (BWV 663), Max Regers Gloria in excelsis (op. 59) und Bachs Piece d’orgue. Damit wurden nicht nur vier stilistisch unterschiedliche, jedoch passende Orgelwerke vorgetragen, sondern war auch der Rahmen von Walchas bevorzugtem Repertoire abgesteckt.

Das abendliche Bach-Konzert wurde mit einer Betrachtung des Theologen und Musikwissenschaftlers Christoph Bergner über Helmut Walcha eingeleitet, die zeitgeschichtliche Hintergründe, biographische Fakten und persönliche Erinnerungen auf angenehme Weise verband. Sodann folgte jenes Programm, mit dem sich Walcha am 21. Mai 1981 musikalisch von der Dreikönigsgemeinde verabschiedet hatte: zwischen Fantasie g-Moll, Toccata C-Dur, Passacaglia c-Moll und Praeludium Es-Dur erklangen aus den Leipziger Chorälen „Herr Jesu Christ, dich zu uns wend’“ (BWV 655), „An Wasserflüssen Babylons“ (BWV 653b) und „Schmücke dich, o liebe Seele“ (BWV 654). Mit dieser so systemati-schen wie spieltechnisch anspruchsvollen Werkfolge und der von Walcha geplanten Schuke-Orgel von 1961 (III/47) waren zwei unmissverständliche Verbindungsachsen zum Jubilar gegeben. Vor deren Hintergrund konnte Andreas Köhs getrost und bewusst seine Auffassung der komplexen Werke in Agogik, Ornamentik und Registrierung entfalten. Während sich letztere in ihrer Transparenz am Stil des für seine Zeit typischen Instruments orientierte und in einigen Fällen mit den von Walcha gewählten Klangfarben korrelierte, ging der Interpret in puncto Verzierungen andere Wege: Phantasievoll und musikantisch versah er Fugenthemen und canti firmi reichlich mit Verzierungen, was unter den zahlreichen Walcha-Schülern rege Diskussionen auslöste, erinnerte man sich doch zu gut an das Dictum, man solle nicht mehr, aber auch nicht weniger spielen, als in den Noten stehe. Mit den Tempi hielt es Köhs wiederum fast akademisch: flott und gleichmäßig ohne Starre, aber auch ohne störende Rubati. Fazit: Vesper und Konzert luden zum Gedenken ein und missrieten zum Glück nicht zu „Walcha-Andachten“.

Dazwischen trafen sich erfreulich viele, teilweise weit angereiste Walcha-Schülerinnen und –schüler sowie einige weitere Personen seines Umfeldes zu einem Empfang im Gemeindehaus. Wiedersehensfreude und ungezwungener Austausch bestimmten die Atmosphäre, wie sie auch Walcha als Kontrast zu seinem disziplinierten Arbeitsalltag liebte; das ist leider bislang weniger bekannt. – Der regerChor braunschweig bestritt am 28. Oktober unter Leitung von Karl Rathgeber und wiederum mit Andreas Köhs an der Orgel ein Chorkonzert. Der Zuspruch bei allen Veranstaltungen war beachtlich, was sicher auch der nach wie vor schönen Orgel aus der Werkstatt Karl Schuke zu verdanken ist, die sich eben nicht nur für die Interpretation von Bach und so genannten Alten Meistern eignet, sondern sich auch für die klare Wiedergabe von romantischer Orgelmusik empfiehlt. Es spricht für das kirchenmusikalische Interesse der Dreikönigsgemeinde, dass dieses herausragende Instrument unlängst überholt wurde und dass die Gedenkveranstaltungen so unverkrampft und dennoch sehr würdig ausfielen.

Das künstlerische Niveau ließ bei keinem der Gedenkkonzerte zu wünschen übrig; welchem Konzept der Vorzug zu geben ist, muss jeder für sich entscheiden. Bezeichnend ist jedoch, dass die politische Öffentlichkeit in München, wo Helmut Walcha lediglich gastierte, mehr Notiz von seinem 100. Geburtstag nahm als in Frankfurt, wo es momentan an der Stadtverwaltung scheitert, an der Kirche, an welcher der Künstler 35 Jahre lang wirkte, eine schlichte Gedenktafel anzubringen.

Markus Zimmermann

Markus Zimmermann, * 1963 ist Musikwissenschaftler und war Chefredakteur zweier internationaler Fachzeitschriften für Orgelkunde. Mit Helmut Walcha hat er die Sehbehinderung gemeinsam, ist aber im Gegensatz zu diesem bis heute Amateur-Organist. Als freiberuflicher Autor, Lektor und Redakteur lebt er bei Freiburg und widmet sich derzeit u. a. dem Thema „Blinde Musiker“.

100. Geburtstag von Professor Helmut Walcha

Am 27 Oktober 2007 feierte die Dreikönigsgemeinde den 100. Geburtstag von Professor Helmut Walcha, dem langjährigen Organisten unserer Dreikönigskirche. Zu seinem Geburtstag hatten wir Ehrengäste, die Presse und vor allem die ehemaligen Schüler und Verehrer unseres blinden Organisten eingeladen.

Walcha's Schüler sind weit verstreut, viele sind sehr erfolgreiche Organisten geworden und haben ihr Wissen an die nächste Generation weitergegeben. Zum großen Geburtstag wissen wir von Gedenkkonzerten in München, Lübeck und Wetzlar; einige Fachzeitschriften haben über Walcha geschrieben und Rundfunksender haben Interviews und Musikbeispiele gesendet. Besonders gefreut hat uns die Reaktion von Professor Rubsam, der in einer mail schrieb:
„Eine per Satellit ausgestrahlte Radio-Sendung quer durch USA durch das MPR Radio Minneapolis, MN, gab Prof. Walcha eine besondere Ehrung am vergangenen Sonntag in Sendung. Sie koennen dies per internet bei Pipedreams anhoeren (http://pipedreams.publicradio.org/listings/2007/0740/) plus viel Information. Der Moderator Michael Barone ist in USA eine besondere Person in der Orgelwelt: wunderbare Gestaltung und Kenntnis und erhielt von mir auch reichliche Information für die Sendung“. Die Sendung dauert ca. 85 Minuten. In ihr kommt auch der Schwiegersohn unseres ehemaligen Pfarrers Paulus North und Schüler von Helmut Walcha, David Boe, zu Wort.

Die Vesper wurde von unserem Kantor Andreas Köhs und Pfarrer Tho-mas Sinning in der seit Ende der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Helmut Walcha und Kurt Thomas eingeführten Form gestaltet und fand unter den Gottesdienstbesuchern großen Anklang. Anschließend war ein Empfang für unsere Gäste im Gemeindehaus in der Oppenheimer Straße gerichtet. Dank der guten Vorbereitung und der Hilfe von Frau Kleck und Frau Wagner fühlten sich alle gut bewirtet. Herzlichen Dank auch den Herren Pfarrer Sinning, Dr. Hupfeld und Dr. Tietze vom Kirchenvorstand für ihren Einsatz als Gastgeber.

Viele der Walcha-Schüler fragten uns nach der Gedenktafel für Helmut Walcha und Kurt Thomas und drückten ihr Erstaunen und Befremden aus, daß diese nicht an der Kirche angebracht wurde.

Um 19.30 Uhr begrüßte Pfarrer Sinning die Konzertgäste und bat dann Herrn Dr. Bergner (Pfarrer und Walcha-Schüler) seine Erinnerungen an Helmut Walcha vorzutragen. Anschließend spielte Andreas Köhs das Programm des Abschiedskonzerts vom 21. Mai 1981 von Walcha vor einem sehr kritischen und fachkundigen Publikum (unter den Walcha Schülern waren 6 Professores, 7 Doctores, einige Kirchenmusikdirektoren und ca. 50 Kantoren). Übereinstimmend wurde die technische und musikalische Ausführung von Herrn Köhs gelobt, aber auch darauf hingewiesen, daß Registrierung und Interpretation anders als die von Walcha waren.

Am Sonntag klang unsere Geburtstagsfeier mit einem Chor- und Orgelkonzert des regerChor braunschweig aus, das auch recht gut besucht war und neben Werken von Bach und Reger auch moderne Musik von Arnold Schönberg und Heinz Werner Zimmermann (der Komponist war anwesend) brachte.

Es war ein schönes und erlebnisreiches Wochenende zu Walchas großem Geburtstag. Allen Beteiligten möchten wir herzlich für das gute Gelingen danken! Besonders gilt dies für unseren Kantor Andreas Köhs, der ein Mammut-Programm mit Bravour gemeistert hat.

Waltraut und Peter Hofmann

NS: Den Text der Rede von Dr. Christoph Bergner werden wir in der Dreikönigskirche auslegen.

Erinnerungen an Professor Helmut Walcha

Liebe Gemeinde, sehr geehrte Damen und Herren!

Gern bin ich der Einladung der Dreikönigsgemeinde gefolgt, zu Beginn dieses Konzerts, an Helmut Walcha zu erinnern.

Viele, die heute hier sind, werden ihn besser kennen als ich. Persönlich habe ich ihn erst 1976 kennengelernt, als ich mit dem Orgelunterricht bei ihm begann. Doch schon vorher war Walchas Interpretation der Bachschen Werke für mich ein selbstverständlicher Maßstab. Und selbstverständlich ging ich zu ihm, um das Bachsche Orgelwerk zu studieren. Hatte ich doch meinen ersten Klavier- und Orgelunterricht bei einer Schülerin von ihm erhalten und später Orgelunterricht bei einem Schüler und Kollegen, der mich dann auch zu ihm vermittelt hat. Das ist charakteristisch für den großen Organisten: Er wirkte in Frankfurt über Jahrzehnte und prägte Generationen von Schülern. Wer sich mit der Bachschen Orgelmusik auseinandersetzte, kam an Walcha nicht vorbei So galt er vielen in den Jahrzehnten nach dem Krieg als der Bach-Interpret schlechthin. Durch seine Schallplattenaufnahmen des gesamten Bachschen Orgelwerkes (erstmals 1947/1950/1952) später als Stereoaufnahme 1956 und 1961 in Alkmaar und 1969 und 1971 an der Silbermannorgel St.Pierre-le-Jeune in Straßburg wurde er international bekannt und hatte eine Hörergemeinde in der ganzen Welt.

Als junger Orgelschüler wusste ich noch nichts von Walcha, aber ich lernte seine Phrasierungen und Artikulationen, wie sie seine Schüler an mich weitergaben, Gewissenhaftigkeit im Umgang mit dem Notentext, konsequente Werktreue. Er hat auf diese Weise über Jahrzehnte stilprägend gewirkt.

Als ich im Sommer 1976 mit dem Unterricht begann, war Walcha schon im Ruhestand. Ich lernte einen höchst präsenten und aktiven Menschen kennen. Seine handwerkliche Sorgfalt bestach ebenso wie sein präzises Gedächtnis. Er hatte eine genaue Vorstellung von den Noten, aus denen ich spielte. Trotz seiner Blindheit verfügte er über ein phänomenales optisches Gedächtnis. Wenn er die Noten mit mir durchging, fuhr er gelegentlich mit dem Finger über das Blatt, zeigt etwa auf bestimmte Takte und erklärte sie. Er hörte auch, wenn der Pedalsatz nicht stimmig oder der Fingersatz unbequem war. Er setzte sich neben mich auf die Orgelbank und spielte die entsprechende Stelle. Mit dem Ellenbogen stieß er mich in die Seite, machte mich etwas aufmerksam. Mit kräftiger Stimme sang er die Stimmen mit. „Die Spannung müssen Sie körperlich spüren“, sagte er etwa. Ich erinnere mich lebhaft, wie wir zum dritten Kyrie der Orgelmesse kamen und er mir die letzten harmonisch äußerst dichten Takte vorspielte und die chromatischen Wendungen mitsang. Er sprach dann so, als hätte er gerade die entscheidende Entdeckung seines Lebens gemacht. Seine Begeisterung für das Werk Bachs war ansteckend.

So verwundert nicht, dass der Achtzigjährige in einem Gespräch bekannte: „Bach hat den ganzen Menschen in mir geweckt und hält ihn beschäftigt, den Intellekt wie das Gefühl. Daneben war kein Platz für etwas anderes.“ Es war die Begegnung mit der Polyphonie im Werk Bachs, die Walchas Leben prägte. Die Konzentration auf die Werke Bachs war der Reichtum seiner künstlerischen und geistlichen Existenz. Nicht vieles, sondern das eine und mit diesem Einen alles zu bekommen, war die Erfahrung, die ihn prägte. Nicht umsonst wird sich der kundige Bibelleser an die bekannte Stelle aus dem 5.Buch Mose erinnern: „Und diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst.“ Die Beschränkung auf das Eine und die ständige Auseinandersetzung hat eine geistliche Dimension. Die Beschäftigung mit dem Werk Bachs stand für Walcha auch im Zentrum seines geistlichen Lebens, die Weitergabe des Werkes an die nächste Generation war ein Beitrag für die Bewahrung einer anspruchsvollen Kirchenmusik, einer großen evangelischen Tradition., der sich Walcha sein ganzes Leben widmete.

Genau heute vor 100 Jahren, am 27.10.1907 wurde Walcha in Leipzig geboren. Als Sohn eines Postbeamten begann er erst relativ spät – mit 13 Jahren – mit dem Klavierunterricht. Als14jähriger bestand er jedoch schon die Aufnahmeprüfung am Leipziger Konservatorium und war damit der jüngste Orgelschüler dieses berühmten Instituts. Sein Lehrer Günther Ramin war gerade 24 Jahre alt. Er holte ihn nach Abschluss der großen Organistenprüfung im Jahr 1927 als Assistenten an die Thomaskirche. Der auf Grund eines Impfschadens mit 15 Jahren erblindete Organist bewarb sich 1929 um die Organistenstelle an der Friedenskirche in Frankfurt und wurde als Zweiundzwanzigjähriger unter 30 Bewerbern ausgewählt. In den ersten Frankfurter Jahren entwickelte Walcha sein Bachbild, das ihn zu einem der großen Bachinterpreten des letzten Jahrhunderts werden ließ. Schon bald begann er in Orgelabenden das Bachsche Werk einer breiteren Öffentlichkeit vorzustellen. Ins Jahr 1938 fällt seine Berufung zum Professor an der Hochschule. Seit 1939 spielte er im vierjährigen Turnus in den sogenannten Bachstunden einen Zyklus von über 200 Werken von Bach und bedeutende Werke vorbachscher Meister.

1946 wurde Walcha Organist an der Dreikönigskirche. Von 1947 bis 1981, also 34 Jahre lang, veranstaltete er hier jede Woche Samstagnachmittags die Orgelvespern. Es waren musikalische Gottesdienste mit den jeweiligen Lesungen aus dem Alten und Neuen Testament ohne Predigt mit viel Musik. In der Regel stand am Anfang ein großes Orgelwerk von Bach.

1972 stellte er seine Lehrtätigkeit ein, 1975 beendete er seine internationale Konzertreisetätigkeit. Im Mai 1981 schloß er sein Wirken an der Dreikönigskirche mit einem anspruchsvollen Programm ab. Am 11. August 1991 verstarb Walcha im Alter von 83 Jahren.

Sein Bachbild entwickelte Walcha in Abkehr von der romantischen Tradition, die er bei seinem Lehrer Ramin in Leipzig kennengelernt hatte. Die Wiederentdeckung der barocken Orgel und die sorgfältige Analyse der Bachschen Musik wiesen ihm einen anderen Weg. „Ich sah, dass die Polyphonie ein vielstimmiges Gebilde von unglaublicher innerer Logik war. Da kommt es eben nicht vor, dass eine Stimme etwas tut, von dem die andere nichts weiß. Diese Konsequenz bewegte mich mein ganzes Leben hindurch als ein immer neu fesselndes Erlebnis.“ Form und Struktur eines Werkes wurden für Walcha Schlüssel zur Interpretation. Von der Motiv und Themenarbeit aus galt es, Phra-sierung, Artikulation und schließlich die Klangfarben zu bestimmen. Dem Hörer sollte die Beziehungsvielfalt polyphoner Musik deutlich, Stimmführung und Motivik sollten durch entsprechende Klangfarben transparent und die Architektur eines Werkes durch Register- und Manualwechsel hörbar werden. Die klassische Barockorgel kam den Einsichten Walchas entgegen. Die Farbenvielfalt, der Obertonreichtum dieser Instrumente entsprach seinen Vorstellungen. Neben diese analytischen Einsichten trat eine andere: Walcha erkannte die vokalen Kräfte, die in der Bachschen Instrumentalmusik ruhen. Das bestimmte seine Musizierhaltung. Im Singen werden die Spannungsbögen leiblich erfahrbar. Atem und Puls geben der Musik ein menschliches Maß.

Ulrich Meyer hat das in schönen Versen beschrieben:

So musiziertes du Bach:
Führtest aus dem Gedächtnis
alle Stimmen zusammen,
brachtest sie zum Gespräch,
lauschtest ihnen im Spiel,
zogst uns hinein ins Lauschen –
und ließest uns einmal
summend mitmusizieren.
Nie kam Bach mir so nah
wie – blinder Seher – durch dich.

In der Weisheit Salomos wird von Gottes Schöpfung gesagt, dass sie nach „Maß, Zahl und Gewicht“ geordnet ist. Für Walcha war die Bachsche Musik in ihrem Wesen geistliche Musik, der Interpret in die Verkündigung des Evangeliums mit einbezogen.

Die Begegnung mit Albert Schweitzer war ihm dabei eine besondere Hilfe, erzählt Walcha in einem Gespräch, vor allem mit der Persönlichkeit, seiner schlichten und warmherzigen Art, seinem Orgelspiel, das für die damalige Zeit erstaunlich trocken wirkte. Was Albert Schweitzer schon beim Bachfest 1909 gesagt hat, dürfte auch der Überzeugung Walchas entsprechen: „Seine Kunst als solche ist religiös. …es ist auch nicht der reine Künstler, sondern die religiöse Persönlichkeit, die das Wort ergreift… So liegt etwas wie Erlösung von der Welt und dem Leben in dieser Musik.“ Die Orgelvespern, die er hier in der Dreikönigskirche Samstag für Samstag spielte, dokumentieren die liturgische Verwurzelung seines Musizierens. Die Improvisationskunst, die er dort hören ließ, gab nicht nur Zeugnis von einer überfließenden Musikalität, sondern auch von der Tiefe seines geistlichen Lebens. Eines Tages lud er mich ein, ihm eine kleine Einführung in den Psalter zu geben. Er pflegte mit seiner Frau morgens eine kleine Andacht zu halten, bei der sie gemeinsam die Psalmen lasen. Während der Psalmenlese waren ihm viele Fragen gekommen, auf die er Antwort suchte.

Vermutlich ist gerade diese Seite des Wirkens von Helmut Walcha für uns heute von Bedeutung. Schließlich ist die Musik Bachs auch immer einem Säkularisierungsanspruch ausgesetzt gewesen. Bedenken Sie das geistesgeschichtliche und gesellschaftliche Umfeld: In Walchas Jungendzeit herrschte noch die romantische Auffassung von der Musik als Kunstreligion, später wurde Bach von den Nationalsozialisten vereinnahmt., nach dem Krieg war Deutschland geteilt und damit auch die Auffassungen über die Bachpflege. Die DDR hatte schnell die Bedeu-tung dieser Musik für sich entdeckt und interpretierte sie in ihrem atheistischen Verständnis, während im Westen die bürgerlichen Traditionen gepflegt wurden. Erst nach Walchas Tod wurde die Bibel entdeckt, die Bach selbst benutzt hat. Dort fand man jene inzwischen berühmt gewordene Anmerkung Bachs an einem Vers im Buch der Chronik: „Bei einer andächtigen Musik ist Gott allezeit mit seiner Gnadengegenwart.“ Sie zeigt, dass Bach selbst der Musik geradezu sakramentale Bedeutung gab.

Nicht nur gegenüber einer säkularisierten Gesellschaft hat Walcha den geistlichen Anspruch des Bachschen Werkes überzeugend vertreten. In einer Kirche, die sich zunehmend nach außen wendete und sich gesellschaftspolitisch anzupassen suchte, dabei auch musikalische Banalitäten in Kauf nahm, suchte er die Wendung nach innen, führte ihn sein Weg in die Kontemplation. Mit seinem Musizieren pflegte und bewahrte er eine Spiritualität, die zu den unversiegbaren Quellen gottesdienstlichen Lebens in der evangelischen Kirche gehört. So half er eine Tradition zu bewahren und fortzusetzen, die zu den großartigen Wirkungen der Reformation gehört.

Es war nach seinem letzten Konzert hier in der Dreikönigskirche, dessen Programm wir gleich wieder hören dürfen. Oben auf der Orgelempore standen viele, um sich zu bedanken. Ein alter Freund und Kollege trat an ihn heran und sagte leise zu ihm: „Ich musste weinen.“ Da erwiderte Walcha: „Ja, diese Musik ist zum Weinen schön.“

Das war seine tiefe Erfahrung: die Musik nimmt den Kummer und Schmerz der Menschen auf und kann ihn verwandeln. Sein Musizieren ließ etwas von der Freude hören, die auch um die Tränen der Menschen weiß. Es wäre ganz im Sinne Walchas, wenn wir uns nun an der Musik Bachs freuen. Und gerade so nicht nur Freude an der Musik entdecken, sondern auch Freude am Leben, Freude an Gott.

Christoph Bergner

Dr. Christoph Bergner wuchs in Bad Homburg auf, erhielt dort zuächst Klavier- und Orgelunterricht bei der Organistin der Erlöserkirche und Walchaschülerin Elisabeth Ohly. Er studierte Cembalo und Orgel bei Karl Köhler und Helmut Walcha, außerdem Musikwissenschaft, Theologie und Philosophie in Tübingen und Rom. Promotion über das Thema: "Die Form der Präludien des Wohltemperierten Klaviers von J.S. Bach" bei Ulrich Siegele und Georg von Dadelsen. Mitglied des Kammerorchesters Tübinger Studenten, hier u.a. Konzerte mit Henryk Szeryng, Rostropowitsch und Maurice Andre Kammerkonzerte mit Schwerpunkt Barockliteratur, Aufführung des Bachschen Cembalowerkes im Rahmen der Internationalen HessischThüringischen Bachtage. Seit 1984 ist Christoph Bergner Pfarrer in der Ev. Kirche in Hes-sen und Nassau, seit 1989 in der Michaelsgemeinde in Bensheim.