Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 10, 25 – 37 Es kommt darauf an, was man empfängt (Einführung der Konfirmanden)

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'La parabola del Buon Samaritano Messina Chiesa della Medaglia Miracolosa Casa di Ospitalità Collereale', 18. Jhd., G. Conti

13. Sonntag nach Trinitatis

Es kommt darauf an, was man empfängt Lukas 10, 25 – 37

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt zur Einführung der Konfirmanden im Jahr 2000 im Kirchsaal Süd

Und siehe, da stand ein Schriftgelehrter auf, versuchte ihn und sprach: Meister, was muss ich tun, dass ich das ewige Leben ererbe?
Er aber sprach zu ihm: Was steht im Gesetz geschrieben? Was liest du?
Er antwortete und sprach: »Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt, und deinen Nächsten wie dich selbst«.
Er aber sprach zu ihm: Du hast recht geantwortet; tu das, so wirst du leben.
Er aber wollte sich selbst rechtfertigen und sprach zu Jesus: Wer ist denn mein Nächster?
Da antwortete Jesus und sprach: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halb tot liegen.
Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber.
Desgleichen auch ein Levit: Als er zu der Stelle kam und ihn sah, ging er vorüber.
Ein Samariter aber, der auf der Reise war, kam dahin; und als er ihn sah, jammerte er ihn; und er ging zu ihm, goss Öl und Wein auf seine Wunden und verband sie ihm, hob ihn auf sein Tier und brachte ihn in eine Herberge und pflegte ihn.
Am nächsten Tag zog er zwei Silbergroschen heraus, gab sie dem Wirt und sprach: Pflege ihn; und wenn du mehr ausgibst, will ich dir's bezahlen, wenn ich wiederkomme.
Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?
Er sprach: Der die Barmherzigkeit an ihm tat. Da sprach Jesus zu ihm: So geh hin und tu desgleichen! Lukas 10, 25 – 37

Es gibt eine zeitgemäße Fassung dieses Gleichnisses, die folgendermaßen lautet: Es war ein Mensch, der ging von Jerusalem hinab nach Jericho und fiel unter die Räuber; die zogen ihn aus und schlugen ihn und machten sich davon und ließen ihn halbtot liegen. Es traf sich aber, dass ein Priester dieselbe Straße hinabzog; und als er ihn sah, ging er vorüber. Desgleichen auch ein Levit. Danach kam ein Sozialarbeiter; und als er das Opfer sah, dachte er: Diejenigen, die das getan haben, brauchen dringend Hilfe.

Diese moderne Fassung veranschaulicht eine allgemeine Erscheinung: nämlich Täter sind interessanter als Opfer. Denken Sie zum Beispiel daran, wie die Zeitungen von Verbrechen, Bestechung, Betrug, und von Gerichtsverhandlungen berichten: im Mittelpunkt der Berichte sind die Täter, nicht die Opfer. Denn die Täter sind interessant, nicht die Opfer. Der Zeitungsleser will nicht wissen, wie es den Opfern geht, er will wissen, was in den Tätern vor sich geht.

Und es gibt eine Erklärung für diese Orientierung auf Täter: wir Menschen wollen uns nicht mit den Opfern identifizieren. Denn ein Opfer, das seinem Schicksal hilflos ausgeliefert ist, ist eine unerträgliche Vorstellung.

Und diese Widerwilligkeit, sich mit dem Opfer zu identifizieren, führt dazu, dass das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter unweigerlich falsch ausgelegt wird. Dieses Gleichnis hat nämlich eine versteckte Botschaft.

'The Good Samaritan', 2005, Barfoos

Ist es Ihnen aufgefallen, wie umständlich die Frage ist, die Jesus am Ende stellt? Diese Frage lautet: „Wer von diesen dreien, meinst du, ist der Nächste gewesen dem, der unter die Räuber gefallen war?“ Indem Jesus die Frage so stellt, ergibt sich eine überraschende Wendung. Denn die ursprüngliche Frage lautete: Wer ist mein Nächster? Und vordergründig gesehen, lautet die Antwort: Der, der meine Hilfe braucht. Denn der Zuhörer will sich mit dem Samariter identifizieren. Aber die Antwort auf die Frage, wer mein Nächster ist, fällt anders aus. Jesus will, dass der Fragesteller sich mit dem Opfer identifiziert, und die Antwort auf die ursprüngliche Frage lautet: mein Nächster ist der, von dem ich Hilfe bekomme. Der Brennpunkt hier ist nicht so sehr die Bereitschaft, Hilfe zu leisten, sondern die Bereitschaft, Hilfe anzunehmen.

Denn die meisten Menschen sind bereit, Hilfe zu leisten. Hilfsbereitschaft fühlt sich gut an. Wenn ein Mensch so reagiert, wie der Samariter, der hat ein gutes Gefühl und kann stolz auf sich sein. Natürlich gibt es auch Leute, die so reagieren wie der Priester und der Levit, aber sie müssen hinterher mit ihrem Gewissen kämpfen.

Ich erinnere mich daran, als ich etwa 16 Jahre alt war, war ich auf dem Heimweg von der Kirche und ich habe gesehen, wie ein Auto ein Stoppschild überfuhr und auf ein anderes Auto geknallt ist. Was habe ich getan? Ich bin weggerannt, weil ich Angst hatte, Blut zu sehen. Jahrelang danach hatte ich deswegen ein schlechtes Gewissen. Denn jeder Mensch weiß, daß er Hilfe leisten sollte, wenn Menschen in Not sind. Wir brauchen kein Jesusgleichnis, um das zu wissen.

Aber viel schwieriger ist es, Hilfe anzunehmen. Denn so etwas ist eine Kränkung des menschlichen Stolzes. Es ist scheinbar entwürdigend, in eine Situation zu geraten, in der man total auf Hilfe angewiesen ist. Ich denke zum Beispiel an ältere Menschen, die lieber allein zu Hause bleiben, als sich für eine Gemeindeveranstaltung oder für einen Gottesdienst mit einem Auto abholen zu lassen. Sie haben Angst, sie könnten zur Last fallen oder als Bittsteller dastehen, und dadurch etwas von ihrer Würde verlieren. Und die größte Angst, die viele ältere, gebrechliche Menschen haben, ist die Angst, in ein Pflegeheim zu kommen, wo man auf Sozialhilfe und total auf fremde Hilfe angewiesen wäre. Hilfe annehmen ist eine viel größere Herausforderung als Hilfe geben. Wir wollen Täter der Hilfsbereitschaft sein und nicht Opfer der Hilfsbereitschaft.

Und deswegen ist auch der Gottesdienst eine Herausforderung, denn er versetzt uns in die Rolle eines Opfers, das auf Hilfe angewiesen ist. Der Gottesdienst kann deshalb schwer zu verkraften sein, besonders für Konfirmanden. Für jeden Konfirmandenjahrgang ist der Gottesdienst die größte Herausforderung. Es hängt damit zusammen, dass der Gottesdienst uns in eine mehr oder weniger passive Rolle versetzt. Man muß eine Stunde lang an einem Platz bleiben, Herumlaufen ist nicht vorgesehen (außer beim Abendmahl), Privatgespräche und Herumalbern sind nicht erlaubt, einen kleinen Imbiss auspacken und essen ist nicht erlaubt. Und das, was man geboten bekommt, ist nicht unterhaltsam; der Gottesdienst kann mit Fernsehen oder Computerspielen nicht konkurrieren. Die Lieder im Gesangbuch sind nicht fetzig, die Predigt ist meistens eine ziemlich trockene Angelegenheit, bei der man nur zuhören darf. Es ist nicht vorgesehen, dass die Zuhörer über die Predigt diskutieren, sondern sie müssen zunächst alles schlucken oder notfalls in einen Tiefschlaf versinken. Und wenn man im Gottesdienst ab und zu sprechen darf, sind die Worte vorgegeben, die man spricht, wie zum Beispiel das Glaubensbekenntnis und das Vater Unser: es gibt keinen Freiraum für spontane Beiträge. Junge Menschen erleben den Gottesdienst als eine geistige Zwangsjacke. Und sie fragen sich: muss das so sein?

Auf der einen Seite gibt es schon ab und zu Gottesdienste, die ganz anders sind. Zum Beispiel Ende September wird es in der Dreikönigskirche einen Gottesdienst geben, der von jungen Menschen gestaltet wird, und der unterhaltsamer sein wird als ein traditioneller Gottesdienst. Aber auf der anderen Seite hat es schon einen Sinn, dass der traditionelle Gottesdienst so ist, wie er ist. Denn der Gottesdienstteilnehmer soll eine Rolle zugewiesen bekommen; er wird in die Rolle eines passiv Empfangenden versetzt. Der Sinn des Gottesdienstes wird veranschaulicht, wenn wir Abendmahl feiern, wenn wir vor dem Altar stehen und die Gnade Gottes empfangen, indem wir Brot und Kelch empfangen. Der ganze Gottesdienst zielt auf diesen Moment hin. Denn es geht darum, unsere Rolle vor Gott zu definieren. Gottesdienst bedeutet nicht, dass wir Gott dienen, sondern dass Gott uns dient. Im Gottesdienst sollen wir nicht Täter sein, sondern wir sollen anerkennen, daß wir Opfer sind; wir sind Opfer in dem Sinne, dass wir von Gott entfremdet sind; und wir können die Kluft zwischen uns und Gott durch eigene Anstrengung nicht überbrücken. Nur Gott kann diese Kluft überbrücken, indem er uns aufsucht und uns seine Zuwendung schenkt. Wir sollen es uns gefallen lassen, dass Gott uns seine Zuwendung schenkt. Und damit das gelingt, wird das eigene Ich, das sich immer in den Mittelpunkt drängen und immer agieren will, zunächst in eine geistige Zwangsjacke gesteckt, die wir Liturgie nennen. Wir werden also in eine passive Haltung versetzt, die uns nicht immer leicht fällt.

Es gibt einen Nobelpreisträger mit dem Namen Elie Wiesel; der auch ein Konzentrationslager des Dritten Reiches überlebt hatte. Er dichtete eine kurze Geschichte, die sich in der Zeit Abrahams abspielt - zu der Zeit, als Sodom und Gomorra untergingen. Es geht in dieser Erzählung um einen sogenannten Gerechten, der die Stadt Sodom aufsucht, um die Einwohner aus ihrer Gleichgültigkeit und Verdorbenheit herauszuholen, damit die Stadt vielleicht doch nicht untergeht. Zuerst hören die Leute von Sodom diesem Fremden zu. Am Anfang finden sie seine Predigten amüsant, aber nachdem der Reiz des Neuen vorbei ist, wenden sie sich von ihm mit Gleichgültigkeit ab; sie gehen ungerührt ihren Geschäften und Abartigkeiten nach. Dieser Zeuge der Gerechtigkeit hat - menschlich gesehen - keine Chance mehr, irgendetwas zu bewirken. Aber er bleibt trotzdem in der Stadt und macht immer weiter. Eines Tages begegnet er einem Jugendlichen und es entsteht folgender Dialog: der Junge sagt: „Armer Fremder! Warum bist du ein Fremder?“ Der Fremde erwidert: „Das muss sein“. Der Junge fragt: „Willst du damit sagen, dass du ein Fremder sein willst? Nocheinmal lautet die Antwort: „Es muss sein.“ „Aber warum“, will der Jugendliche wissen. Der Fremde sagt: „Solange ich ein Fremder bleibe, werde ich die Hoffnung nicht verlieren.“ Der Jugendliche versteht das nicht und will wissen, was er eigentlich erreichen will. Der Fremde sagt: „Mein Zeugnis ist wie ein Schreien.“ Der Junge fragt: „Aber was nützt er dir zu schreien? Tag um Tag höre ich dich, sehe dich; sehe, wie du dich an Leib und Seele verausgabst, und niemand hört auf dich. Siehst du nicht, dass das hoffnungslos ist?“ Der Fremde erwidert: „Ich weiß.“ „Warum dann weitermachen?“ wird er gefragt. Der Fremde antwortet: „Ich will dir sagen, warum. Am Anfang dachte, hoffte, glaubte ich, ich könnte die Menschen ändern. Aber heute weiß ich, dass ich das nicht erreichen werde. Und wenn ich heute noch schreie, wenn ich überzeugter, inbrünstiger schreie als sonst, so deshalb, damit die Menschen mich nicht ändern, mich nicht!“

'Hostia i komunikanty', 2006, Patnac

Diese kleine Erzählung kann als ein Gleichnis dienen, das veranschaulicht, warum wir Christen an unserem Gottesdienst festhalten. Unsere Situation ist vergleichbar mit dem Fremden; unser Gottesdienst ist unser Zeugnis, das unsere Bevölkerung gleichgültig und amüsiert zur Kenntnis nimmt, das sie aber nicht versteht. Es gelingt uns selten, irgend jemanden von dem Sinn unseres Gottesdienstes zu überzeugen. Es gibt alternative Gottesdienstformen, die unterhaltsamer und publikumswirksamer sind, die vielleicht erfolgreicher sind, aber ob sie tatsächlich dazu beitragen, daß Menschen die Gnade Gottes empfangen, ist zunächst eine offene Frage. Auf jeden Fall beharren wir auf unserer Gottesdienstform, weil es auch darum geht, dass wir Christen die Aufgabe haben, in dieser Welt ein Fremdkörper zu bleiben, der den Zeitgeist in Frage stellt. Der Zeitgeist will uns einreden, dass es darauf ankommt, was man tut, was man erlebt, was man erreicht. Mit unserer Gottesdienstform bezeugen wir aber, dass es darauf ankommt, was man empfängt. Für den Erfolg oder Misserfolg dieses Zeugnisses ist Gott zuständig; wir sind für die Treue zu diesem Zeugnis zuständig.

In dem Gleichnis vom barmherzigen Samariter gibt es eine Feinheit, die leicht zu übersehen ist. Es heisst an einer Stelle von dem Samariter, dass es ihn - als er das Opfer sah – „jammerte.“ Diese Formulierung: „es jammerte ihn“ ist sonst im Neuen Testament nur auf Jesus bezogen. Immer wieder heißt es von Jesus und nur von Jesus: als er das Elend der Menschen sah, „jammerte es ihn“, und damit ist gleichzeitig das Herz Gottes gemeint. Jesus offenbarte einen Gott, der voller Mitleid ist. Das heißt: der Leser soll auf die Idee kommen, Jesus mit dem barmherzigen Samariter gleichzusetzen und er soll sich dementsprechend in der Rolle des Opfers sehen. Wir sind diejenigen, die auf die Hilfe eines barmherzigen Samariters angewiesen sind und Jesus hat diese Rolle übernommen. Und in jedem Gottesdienst erinnern wir uns daran, dass wir darauf angewiesen sind, dass Gott uns wie ein barmherziger Samariter dient und uns seine Zuwendung schenkt. In jedem Gottesdienst bezeugen wir, dass wir total auf die Gnade Gottes angewiesen sind.

Das Bild 'La parabola del Buon Samaritano Messina Chiesa della Medaglia Miracolosa Casa di Ospitalità Collereale', 18. Jhd., G. Conti, sowie das Kunstwerk 'The Good Samaritan', 2005, Barfoos, sind im public domain weil ihr copyright abgelaufen ist. Die Abbildung 'Hostia i komunikanty', 2006, Patnac, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

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