Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Mose 50, 15 – 21 Ist Gott für Leiden verantwortlich?
4. Sonntag nach Trinitatis
Ist Gott für Leiden verantwortlich? 1. Mose 50, 15 – 21
Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005
Die Brüder Josefs aber fürchteten sich, als ihr Vater gestorben war, und sprachen: Josef könnte uns gram sein und uns alle Bosheit vergelten, die wir an ihm getan haben. Darum ließen sie ihm sagen: Dein Vater befahl vor seinem Tode und sprach: So sollt ihr zu Josef sagen: Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde, dass sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch diese Missetat uns, den Dienern des Gottes deines Vaters! Aber Josef weinte, als sie solches zu ihm sagten. Und seine Brüder gingen hin und fielen vor ihm nieder und sprachen: Siehe, wir sind deine Knechte. Josef aber sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an Gottes statt? Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk. So fürchtet euch nun nicht; ich will euch und eure Kinder versorgen. Und er tröstete sie und redete freundlich mit ihnen. 1. Mose 50, 15 – 21
Eine der größten christlichen Glaubensgemeinschaften sind die Baptisten. In Deutschland sind sie eine kleine Minderheit, aber in meiner Heimat sind sie eine große Kirche und ich habe öfters Begegnungen mit Baptisten gehabt. Es gibt allerdings eine große Vielfalt unter den Baptisten. Es gibt Baptisten, die streng kalvinistisch sind und die deshalb an eine Form von Prädestination glauben. Prädestination bedeutet - vordergründig gesehen -, dass Gott im Voraus das ewige Schicksal eines Menschen bestimmt hat, und es wird sogar behauptet, dass er im Voraus bestimmt hat, welche Ereignisse in dem Leben eines Menschen vorkommen sollten. Aber es gibt auch Baptisten, die genau das Entgegengesetzte glauben – die glauben, dass der Mensch über sein ewiges Schicksal frei entscheidet und dass nichts vorbestimmt ist.
Einmal, bei einer Konferenz der Baptisten, gingen zwei Freunde nebeneinander einen Treppengang herunter: einer gehörte zu denen, die glauben, dass alles von Gott vorbestimmt ist und der andere glaubte an den freien Willen des Menschen. Der Baptist, der an Prädestination glaubte, stolperte an der Treppe und stürzte ab. Er rollte den Treppengang herunter und erst am Fuß der Treppe kam er zum Stillstand. Sein Freund eilte hinterher und fragte seinen Freund, ob er schwer verletzt wäre. Der Freund erwiderte: „Nein, ich bin zwar erschüttert, aber offenbar habe ich mich nicht verletzt.“ Daraufhin sagte der Freund – mit ironischem Humor: „Aber sicherlich bist du froh, dass du diesen Unfall hinter dich gebracht hast.“
Diese ironische Bemerkung bringt zum Ausdruck, dass ein Mensch, der glaubt, dass alles von Gott vorbestimmt ist, auch glauben muss, dass Unfälle, Krankheiten und Katastrophen von Gott prädestiniert sind. Wenn ein Mensch also an einer Treppe stolpert und herunterstürzt, dann nicht deswegen, weil er nicht aufgepasst hat, sondern weil dieser Ausrutscher nach einem Plan Gottes vorgesehen war.
Es sind nicht nur Kalvinisten, die möglicherweise so denken. Es gibt auch evangelische Christen, die z. B. glauben, dass Gott die Stunde des Todes vorausbestimmt hat. Angeblich ist die Stunde des Todes festgelegt, und nichts, was ein Mensch tut, kann diese Stunde verschieben. Und angeblich ist dieser Schicksalsglaube christlicher Glaube. So haben es frühere Generationen gelernt.
Auch der Islam kennt die Vorstellung, dass alles, was im Leben vorkommt, von Allah bestimmt ist. Ein Journalist des Wall Street Journal hat im Iran festgestellt, wie sich dieser Schicksalsglaube auf den Straßenverkehr auswirkt. Der Journalist schreibt folgendes: „Iran hat sicherlich die wildesten Autofahrer im Mittelosten. Es ist ein Land voller Schicksalsergebenen, die glauben, dass Autounfälle von Allah vorbestimmt sind. Also ist Sicherheit auf der Straße angeblich in höheren Händen und nicht bloß eine Sache von Menschen. Wenn man bedenkt, wie viele Unfälle es hier gibt, könnte man denken, dass die göttliche Vorsehung vergeltungssüchtig ist.“
Diese Bemerkung eines Journalisten zeigt die Schwachstelle eines Schicksalsglaubens. Wenn Gott alles vorausbestimmt hat, dann ist es egal wie ich mich verhalte. Wenn Unfall und Tod von Gott im Voraus geplant sind, dann kann ich so leichtsinnig und so rücksichtslos leben, wie ich will, denn Gott ist verantwortlich für meine Gesundheit und mein Leben – nicht ich.
Es ist aber offensichtlich, dass wir das Leben abkürzen können - durch Entscheidungen, die wir freiwillig treffen. Z. B. habe ich beobachtet, wie ein Autofahrer in einer Hand eine Zigarette hatte und in der anderen Hand ein Handy. Wenn dieser Mann einen Autounfall verursacht, dann ist sicherlich nicht Gott dafür verantwortlich.
Trotzdem gibt es einen scheinbaren Widerspruch zwischen der Allmacht Gottes und der freien Willensentscheidung des Menschen. Einer der großen Denker des 20. Jahrhunderts – Albert Einstein – hat sich damit auseinandergesetzt. Einstein hat Gott anerkannt. Er schrieb: „Mein Glaube besteht in der demütigen Anbetung Gottes, der sich selbst in den kleinsten Einzelheiten der Materie offenbart. Meine tiefe gefühlsmäßige Überzeugung von der Existenz Gottes, die sich überall im Weltraum manifestiert, bildet die Grundlage meiner Existenz und meines Glaubens.“ Aber trotzdem gab es ein Paradox, mit dem Einstein nicht fertig geworden ist: er konnte die Allmacht Gottes und die Verantwortung des Menschen für seine eigenen Entscheidungen nicht in Einklang bringen. In seinem Tagebuch schrieb Einstein: „Wenn dieses Wesen allmächtig ist, dann ist jedes Ereignis, jede menschliche Handlung, jeder Gedanke, jede Empfindung und Sehnsucht auch sein Werk; wie ist es dann möglich, zu behaupten, dass Menschen vor Gott Rechenschaft schuldig sind, wenn Gott allmächtig ist. Denn indem er Belohnung und Strafe austeilt, spricht er gewissermaßen ein Urteil über sich selbst. Wie ist das in Einklang zu bringen mit der Güte und Gerechtigkeit, die ihm zugeschrieben sind?“ Einstein kam offenbar zu dem Schluss, dass Gott ein unpersönliches Wesen ist.
Diese Spannung zwischen der Allmacht Gottes und der Freiheit des Menschen kommt auch in der Bibel vor. Und gerade das 1. Buch Mose geht auf diese Spannung ein. Der Text, den wir vorhin gehört haben, bezeugt auf der einen Seite die Freiheit des Menschen, Böses zu tun. Josef sagt zu seinen Brüdern: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen“. Was meint er damit? Er spricht den Moment an, als seine Brüder ihn in die Sklaverei verkauften – denn sie waren neidisch auf ihn, weil er der Lieblingssohn des Vaters war. Sie hatten seinen Rock genommen – ein besonderes Geschenk des Vaters - und hatten ihn zerrissen und mit Tierblut beschmiert. Die Brüder zeigten dem Vater den blutigen Rock und behaupteten, dass Josef von einem wilden Tier zerrissen wurde. Sie hatten damit das Herz des Vaters gebrochen. Josef kam als Sklave nach Ägypten aber stieg auf und wurde der Zweitmächtigste im Lande. Als eine Hungersnot ausbrach, konnte Josef seine Brüder, seinen Vater und alle Angehörigen – 70 Personen insgesamt - vor dem Hungertod retten. Damit hat er das Volk Israel am Leben erhalten. Diese Rettung ist gemeint, wenn Josef sagt: „Ihr gedachtet es böse mit mir zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen, um zu tun, was jetzt am Tage ist, nämlich am Leben zu erhalten ein großes Volk.“
Das Eigenartige ist, dass der Erzähler der Josefsgeschichte Gott überhaupt nicht erwähnt. Die Josefsgeschichte ist wie ein moderner Roman: Gott kommt nicht vor. Sonst heißt es in der biblischen Erzählung: Gott sprach, Gott schickte, Gott griff ein, Gott bewirkte, Gott offenbarte sich, aber ab Kapitel 37, wo die Erzählung von Josef und seinen Brüdern beginnt, verschwindet Gott scheinbar von der Bildfläche – bis zu der Stelle, wo Josef feststellt: Ihr gedachtet es böse zu machen, aber Gott gedachte es gut zu machen. Das heißt: es wird bezeugt, dass der Mensch frei handelt, als ob er in einer gottlosen Welt leben würde, denn Gott hält sich zunächst im Hintergrund verborgen.
Und warum hält sich Gott im Hintergrund verborgen, wenn der Mensch Böses anrichtet? Die Antwort befindet sich im 2. Kapitel dieses 1. Buch Moses. Im Garten Eden gab es den Baum mitten im Garten, den Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen, von dem die Menschen nicht essen sollten. Die Frage ist: warum hat Gott diesen Baum überhaupt geschaffen? Wenn kein Baum da steht, der verbotene Frucht bietet, dann kann der Mensch sich nicht gegen Gott entscheiden. Aber das ist genau der springende Punkt. Diesen Baum hat Gott in den Garten gesetzt, damit die Menschen die Möglichkeiten bekommen, sich für oder gegen ihn zu entscheiden. Denn davon hängt die volle Würde des Menschseins ab. Menschenwürde hängt davon ab, dass wir uns freiwillig für das Gute oder für das Böse entscheiden können. Ohne diese Entscheidungsmöglichkeit ist der Mensch kein Mensch, sondern ein Unmensch.
Gott wird diese freie Entscheidungsmöglichkeit an keinem Menschen ausschalten, denn das wäre Mord an der Seele eines Menschen, und Gott mordet nicht – das tun nur Menschen. Die Menschen haben also die Freiheit, so viel Böses zu tun, wie sie können, wenn sie wollen. Denn das ist der Inbegriff der Freiheit: die Freiheit, Fehler zu machen und Falsches zu tun.
Aber ist Gott dann ohnmächtig? Ist Gott mitverantwortlich für das Böse, weil er es zulässt? Das 1. Buch Mose sagt: Nein, Gott ist und bleibt der Schöpfer des Guten. Denn er greift das auf, was wir Menschen anrichten und schafft etwas Gutes daraus. Gott bestimmt nicht im Voraus, was wir machen, - denn wir sind frei - aber er greift nachträglich alles auf, was vorkommt, und schafft Gutes daraus. Die Menschen zerstören, aber Gott schafft Ordnung. Die Menschen töten; Gott schafft Leben. Die Menschen geraten in Sinnlosigkeit, Gott schafft Sinn. Das hat er ein für allemal demonstriert, als er den Gekreuzigten von den Toten auferweckt hat. Die Menschen gedenken, Böses zu tun: Gott gedenkt, Gutes zu tun. Das ist die Botschaft unseres Textes und die Botschaft der Bibel.
Und deswegen dürfen wir mit Güte, Geduld und Besonnenheit leben, denn alles wird gut ausgehen.
Man kann die Geschichte der Menschheit mit einer Schiffsreise vergleichen. Wir sind alle auf demselben Boot und der Zielhafen steht fest. Auf dem Schiff können wir Menschen machen, was wir wollen. Wir essen, reden, schweigen, lesen, spielen, arbeiten. Wir sind frei, Gutes oder Nichtiges zu tun. Aber wir bestimmen nicht, ob das Schiff irgendwo ankommt und wo das Schiff ankommt. Das ist von Gott vorbestimmt.
Das heißt: die Vollendung, die Gott mit dieser Welt vorhat, ist vorbestimmt. Keine menschliche Handlung kann Gott davon abhalten, seinen Willen für seine Schöpfung zu verwirklichen. Aber die Handlungen der Menschen, ob gut oder böse, weise oder dumm, werden zuletzt zu der Vollendung beitragen, die Gott für diese Welt vorgesehen hat. Menschliche Freiheit und die Allmacht Gottes gehören zuletzt zusammen. Denn der Mensch kann zwar Böses anrichten, aber Gott wird trotzdem das Gute verwirklichen. Wie Dietrich Bonhoeffer schrieb: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will.“
Möge Gott uns helfen, dass wir durch liebevolle Handlungen – durch Güte, Geduld und Besonnenheit - zu der Vollendung beitragen, die Gott verwirklichen wird, damit Gott verherrlicht wird, heute und in Ewigkeit.
Die Abbildung des Gemäldes 'Scenes from the Story of Joseph: Joseph Sold by His Brethren', 1515-1516 - Bachiacca, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
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Das Gemälde 'Christ in the Storm on the Sea of Galilee', 1695, Ludolf Bakhuysen, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
PSch