Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Markus 2, 1 – 12 Amische Vergebung

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'Heilung des Gichtbrüchigen', 1978 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Heilung des Gichtbrüchigen', 1978
Walter Habdank. © Galerie Habdank

19. Sonntag nach Trinitatis

Amische Vergebung Markus 2, 1 – 12


Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

'Amish - On the way to school', Dutch School, gadjoboy, 2006

Und nach einigen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, so dass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige zu ihm, die brachten einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, machten ein Loch und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben. Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte sogleich in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh umher? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden - sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf, nahm sein Bett und ging alsbald hinaus vor aller Augen, so dass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen. Markus 2, 1 – 12

Am 2. Oktober 2006 ist ein Mann, 32 Jahre alt, in eine Schule eingedrungen, die zu einer strengen Glaubensgemeinschaft gehört, die „das amische Volk“ genannt wird. Amische Christen sind dafür bekannt, dass sie einen schlichten Lebensstil haben und sich streng nach biblischen Geboten richten. Der Mann, der in die Schule eingedrungen war, war mit einem automatischen Gewehr bewaffnet. Er hat die 10 anwesenden Mädchen abgesondert und hat versucht, sie alle hinzurichten. Fünf Mädchen überlebten diesen Anschlag. Als die Polizei kam, hat er Selbstmord begangen. Die Überlebenden berichteten, was er kurz vor seinem Tod sagte: „Ich bin auf Gott wütend, weil er mir meine Tochter wegnahm.“

Was dieses Ereignis außergewöhnlich machte, war die Reaktion der amischen Christen. Der Mann, der diese abscheuliche Tat beging, hatte eine Frau und drei Kinder. Die Angehörigen der zehn ermordeten und verletzten Mädchen, obwohl sie selber noch erschüttert und fassungslos waren, suchten die Familie des Amokläufers auf und sprachen Worte der Vergebung aus. Bei der Beerdigung des Attentäters waren 75 Personen anwesend, die Hälfte davon waren amische Christen, die ihre eigenen Kinder kurz vorher am Friedhof verabschiedet hatten. Abgesehen von Worten der Vergebung und von Beistand auf dem Friedhof, haben diese Christen zu einer Geldsammlung beigetragen, die die Familie des Mörders unterstützen sollte. Diese blitzschnelle und glaubwürdige Vergebung war für die 50 anwesenden Fernsehteams und die Hunderten von Medienvertretern aus aller Welt eine Sensation. Das Zentralthema war nicht mehr die Bluttat, sondern die Vergebung. Auf der ganzen Welt wurde von „Amischer Vergebung“ berichtet. Es gab weltweit 2.900 verschiedene Nachrichten-Berichte zu diesem Thema; 543.000 Internet-Websites sind zum Thema „Amische Vergebung“ entstanden. Ein Journalist schrieb folgendes:

„Manchmal trägt der Glaube dazu bei, dass alltägliche Männer und Frauen etwas tun, was – menschlich betrachtet – unmöglich ist: zu vergeben, zu lieben, zu heilen und zu erlösen. Was hier eingetreten ist, lässt sich mit dem Verstand nicht einordnen und ist doch voller Sinn. Sensationelle Bösartigkeit wurde in ein helles Zeugnis der Hoffnung verwandelt. Trotz allem scheint ein Licht in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht überwunden.“

'Amish family riding in a traditional Amish buggy in Lancaster County, Pennsylvania, USA', TheCadExpert, 2004

Dieses Ereignis kann uns einen Zugang geben zu dem Markustext, der für heute vorgesehen ist. Es gibt Gemeinsamkeiten zwischen der Vergebung in dem amischen Ort und der Vergebung in Kapernaum. Der erste gemeinsame Nenner ist die Schnelligkeit der Vergebung.

Wie wir gehört haben, befand sich Jesus in einem Haus, das überfüllt war. Ein Gelähmter wurde zu ihm heruntergelassen. Und es heißt:

Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Es ist verblüffend, wie schnell und wie scheinbar unmotiviert Vergebung hier ausgesprochen wird. Jesus sieht einen Gelähmten und spricht sofort Sündenvergebung aus.

Was Jesus sieht, ist ein Mann, der nicht nur gelähmt war, sondern der von dem Leben abgeschnitten war. Nach damaliger Auffassung war die Lähmung das Ergebnis von Sündhaftigkeit. Die Lähmung galt als Strafe Gottes. Der Mann war angeblich verflucht und verdammt, und es gab keine Aussicht, dass sich sein Zustand ändern könnte. Solange er verkrüppelt blieb, so lange würde er als von Gott verstoßen gelten.

Dass Jesus ihm Vergebung zusprach, war eine Sensation für die anwesenden Schriftgelehrten. Wie kann Jesus einem Mann Vergebung zusprechen, der so eindeutig von Gott verstoßen wurde?

Genau so sensationell war es, als die amischen Opfer die Familie des Attentäters so schnell aufsuchten, um dieser Familie Vergebung zuzusprechen. Auf diese Weise hatten sie auch dem Attentäter vergeben. Aber wie ist das möglich? Wie kann man einem Amokläufer vergeben, der so unglaublich barbarisch war? Die Antwort lautet: man kann es nicht, aber Gott kann es. Vergebung ist ein Wunder Gottes.

Das haben auch die Schriftgelehrten in Kapernaum erkannt. Niemand kann vergeben außer Gott. Deswegen meinten diese biblischen Experten, dass Jesus Gotteslästerung begangen hatte. Aber Jesus weiß, was hier auf dem Spiel steht und demonstriert, dass seine Vergebung nicht bloß aus billigen Worten besteht. Wenn seine Vergebung eine Wirklichkeit ist, dann muss eine sichtbare Verwandlung eintreten. Erst wenn der Gelähmte wieder laufen kann, erst dann ist Vergebung voll und ganz eingetreten.

'Amish Hymnal', Marco Littel, Picture taken in Strassburg, 2006

Auch bei den amischen Christen bestand Vergebung nicht nur aus Worten, sondern aus sichtbaren Zeichen: aus Besuchen, aus Hände geben, aus Anwesenheit bei einer Beerdigung, aus Geldspenden. Vergebung wurde so sichtbar vollzogen, dass sie buchstäblich für alle Welt erkennbar wurde.

Ein weiterer Vergleichspunkt ist, dass Vergebung zwar ein reines Geschenk ist, aber sie ist nicht billig, sondern kostet etwas. Es kostet Überwindung, Menschen zu vergeben, die etwas Abscheuliches getan haben. Auch die Vergebung, die Jesus in Kapernaum vollbrachte, hat ihn etwas gekostet, denn die Schriftgelehrten beharrten darauf, dass Jesus eine Gotteslästerung begangen hatte. Und Gotteslästerung ist im Rahmen der biblischen/jüdischen Gesetzlichkeit ein Kapitalverbrechen. Die Vergebung in Kapernaum war ein erster Schritt zur Kreuzigung.

Ein letzter Vergleichspunkt zwischen dem amischen Volk und Jesus in Kapernaum könnte man stellvertretenden Glauben nennen. Der Gelähmte in Kapernaum und der begrabene Attentäter hatten eine Sache gemeinsam: sie waren tot. Der Gelähmte in Kapernaum war für seine Umwelt so gut wie gestorben, und der Attentäter in dem amischen Ort war auf dem Friedhof begraben. Beide wurden von Trägern in ein Loch herunter gelassen. Beide konnten nichts mehr tun, um Vergebung zu erlangen. Beide waren absolut ohnmächtig, ihre Situation vor Gott zu ändern.

Aber beide erfuhren einen stellvertretenden Glauben. Vier Träger brachten den Gelähmten zu Jesus. Daraufhin heißt es:

Als nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.

Der Glaube bringt Vorteile nicht nur für die eigene Person, sondern für andere auch. Mit Fürbittengebet können wir andere Menschen zu Jesus bringen, dass er sie heilt und ihnen vergibt.

Wir glauben nicht nur für uns, sondern stellvertretend für andere, die nicht glauben können. Wir beten nicht nur für uns, sondern für andere, die nicht beten können. Glaube verwirklicht nicht nur Vergebung für uns, sondern für andere, die nach Vergebung nicht mehr fragen können.

'Amish Farmhouse', Chris York, 2007

Wenn amische Familien, die gerade ihre eigenen Kinder auf brutalste Weise verloren hatten, sofort bereit waren, dem Attentäter zu vergeben, um wie viel mehr wird Gott bereit sein, seine Vergebung zu schenken. Denn kein Mensch ist barmherziger als Gott. Wenn Menschen eine unfassbare Vergebungsbereitschaft zeigen können, um so mehr ist Gott der Inbegriff einer unfassbaren Vergebungsbereitschaft.

Die Nachricht von der Vergebung in dem amischen Ort verbreitete sich wie ein Lauffeuer in der ganzen Welt. Sie galt als Sensation. Auch die Vergebung in Kapernaum war unter den Zuschauern eine Sensation, denn es heißt am Ende:

alle entsetzten sich und priesen Gott und sprachen: Wir haben so etwas noch nie gesehen.

Hier ist eine Vorschau, was eintreten wird, wenn wir zuletzt – jenseits der Grenze des Todes - vor Gott stehen. Die amische Vergebung und die Heilung in Kapernaum bieten eine Vorschau, wozu wir in Ewigkeit bestimmt sind, nämlich für eine alles umfassende Versöhnung und für eine alles umfassende Heilung. Diese Vorschau soll uns die Kraft geben, in der jetzigen Zeit barmherzig, besonnen und hoffnungsvoll zu sein, egal was eintreten mag. Möge Gott uns dazu die Kraft und Einsicht geben. Amen.

Die Photographie 'Amish - On the way to school', Dutch School, gadjoboy, 2006, ist lizenziert unter der Creative Commons Namensnennung 2.0 Lizenz.
Die Photographie 'Amish family riding in a traditional Amish buggy in Lancaster County, Pennsylvania, USA', TheCadExpert, 2004, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Die Photographie 'Amish Hymnal', Marco Littel, Picture taken in Strassburg, 2006, wurde (oder wird hiermit) durch den Autor, auf Wikimedia Commons, in die Gemeinfreiheit übergeben. Dies gilt weltweit.
Die Photographie 'Amish Farmhouse', Chris York, 2007, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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