Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Thomas Sinning: Phil. 1, 21-25 „Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“

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'Estudio de manos obra pintada alOleo sobre lino Belga', 2004, DorianFlorez

Drittletzter Sonntag nach Trinitatis

„Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn“ Phil. 1, 21-25

Predigt gehalten von Pfarrer Thomas Sinning am 06. November 2011 im Kantatengottesdienst BWV 95 in der Bergkirche

Denn Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn. Wenn ich aber weiterleben soll im Fleisch, so dient mir das dazu, mehr Frucht zu schaffen; und so weiß ich nicht, was ich wählen soll. Denn es setzt mir beides hart zu: Ich habe Lust, aus der Welt zu scheiden und bei Christus zu sein, was auch viel besser wäre; aber es ist nötiger, im Fleisch zu bleiben um euretwillen. Und in solcher Zuversicht weiß ich, dass ich bleiben und bei euch allen sein werde, euch zur Förderung und zur Freude im Glauben, damit euer Rühmen in Christus Jesus größer werde durch mich, wenn ich wieder zu euch komme. Phil. 1, 21-25

Liebe Gemeinde!

Meine Mutter war eine sehr gläubige Frau. Ihr verdanke ich viel für meinen Glauben. Sie stand mit vielen Menschen in Kontakt, die sie ehrenamtlich als Beraterin und Seelsorgerin betreute. Für sie war klar: Auf meinem Grabstein soll einmal dieser Satz des Apostels Paulus stehen: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn.“ Das war für sie ein ganz persönliches Bekenntnis. Doch sie hatte keineswegs das Bedürfnis zu sterben. Als sie schwer erkrankte, war es für sie zuerst sehr schwer anzunehmen. Sie wollte nicht sterben, sondern leben. Erst kurz bevor sie starb, fand sie mit der Gewissheit, bald bei Christus zu sein, Ruhe und Frieden. Jedes Mal, wenn ich heute vor ihrem Grab stehe und diesen Vers lese: „Christus ist mein Leben, und Sterben ist mein Gewinn“, denke ich: „Ein passenderes Wort hätte sie nicht wählen können.“

Normalerweise sprechen wir ja beim Sterben vom Verlust des Lebens. Wer stirbt, der verliert sein Leben. Doch Menschen, die ihr Leben durch Jesus Christus bestimmt sein lassen, können das anders sehen. Für sie kann aus dem Verlust des Lebens ein Gewinn werden. Und dann werden sie in die Lage versetzt, inneren Frieden zu finden und ihr Sterben annehmen zu können.

Der Apostel Paulus ist selber hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, zu sterben und bei Christus zu sein, und der Einsicht in die Notwendigkeit zu leben und für andere da zu sein. Er ist in einer schwierigen Situation, weil er - vermutlich in Rom - im Gefängnis sitzt. Er weiß nicht, ob sein Prozess mit einem Freispruch oder mit der Verurteilung zum Tode endet. Er kann beides annehmen: Sterben und Weiterleben. Das Sterben liegt ihm näher, weil es eine Erlösung aus seiner schwierigen Situation wäre und er sich dessen gewiss ist, dass er dann bei Christus sein wird. Das Am-Leben-bleiben sieht er aber als nötiger an, weil er so noch wertvolle Dienste für seine Mitchristen tun kann.

'Table of the Mortal Sins [detail: Death]', 1500-1525, Hieronymus Bosch

Für Menschen, die mitten im Leben stehen, denen es gut geht, die sich an vielem freuen können, was das Leben schön macht, mag diese Gewichtung, die Paulus hier vornimmt, schwer nachvollziehbar sein. „Natürlich ist mir heute das Leben lieber als das Sterben! Sterben wäre ein tiefer Verlust!“

Anders ist es dagegen, wenn einer traurig und geknickt ist. Wenn einer an seine Grenzen stößt und nicht mehr weiter weiß. Wenn er nicht weiß, wie es weiter gehen kann, so wie Paulus damals im Gefängnis. Dann bekommt das Verhältnis von Leben und Sterbenwollen ein anderes Gewicht. Es gibt nicht wenige, die so fühlen. Auch wenn die Selbstmordrate insgesamt über die Jahre rückläufig ist, so sind es in Deutschland jedes Jahr immer noch über 9000 Menschen, die sich das Leben nehmen. Die freiwillig das Sterben wählen. Ob sie es letztlich als einen Gewinn empfinden?

Ist Sterben nun ein Verlust oder ein Gewinn? Wer immer vom Sterben redet, der kommt nicht umhin, zuerst nach dem Leben zu fragen. Was mir mein Sterben bedeutet, hängt entscheidend davon ab, wie mein Leben aussieht. Was bestimmt mein Leben? Was gibt meinem Leben Inhalt, was gibt meinem Leben Schönheit und Leichtigkeit, was gibt ihm Tiefe? Was prägt mein Leben, was treibt mich an, was gibt mir Halt?

Die allermeisten Menschen würden auf diese Fragen wohl antworten mit einem Verweis auf die Beziehungen, in denen sie leben: eine intakte Familie, eine gute Partnerschaft, Kinder, die sich gut und gesund entwickeln, Freunde, die das Leben bereichern. Kein Mensch kann auf Dauer ohne Beziehungen leben. Dort, wo diese Beziehungen infrage stehen, von Konflikten belastet sind oder auseinander gehen, da verdüstert sich die Lebensfreude, oder sie kann ganz verloren gehen. Intakte menschliche Beziehungen sind mehr wert als vieles andere, was man kaufen und erwerben kann. Denn in der Erfahrung geliebt, wert geschätzt zu sein, liegt ein weit tieferes und nachhaltigeres Glück als darin, Dinge zu besitzen. Wir brauchen verlässliche, gute Beziehungen, um leben zu können. So hat es Gott gewollt, so hat er uns Menschen geschaffen, als er sagte: „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei.“ (Gen.2,18).

Für diese Beziehungen seine Zeit und Kraft und seine emotionalen und geistigen Fähigkeiten einzusetzen, gibt meinem Leben Sinn und Inhalt. In der Familie, in seinem Beruf, in Freundschaften und Partnerschaften, in einer Gemeinde, in sozialem Engagement. Paulus hat sich eingesetzt für die Christen in den Gemeinden, die er gegründet und begleitet hatte. Deshalb ist er, so schreibt er, „zuversichtlich, bei euch allen zu sein, euch zur Förderung und Freude im Glauben.“ (V.25).

Es ist gut, es ist notwendig, und es macht Sinn, in die Beziehungen zu investieren. Das ist ein entscheidender Faktor für Lebensqualität. Aber – und jetzt kommt der Punkt, an dem die Frage nach dem Sterben wichtig wird: Aber keine unserer menschlichen Beziehungen ist für immer und ewig. Für die menschlichen Beziehungen gilt dasselbe wie für das ganze Leben: irgendwann muss ich es loslassen.

Das Loslassen können ist sicher eine der schwersten Aufgaben überhaupt. Je tiefer die Liebe, um so schwerer das Loslassen. Aber wir sehnen uns nach Ewigkeit. Und doch besteht das Leben darin, dieses Loslassen zu lernen. Eltern machen diese Erfahrung schon mit ihren Kindern: nur wenn ihre Ablösung gelingt und die Eltern ihre Kinder loslassen, können sie in ihr eigenes Leben finden. Doch am Ende ist das Loslassen immer schwer.

„Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn,“ sagt Paulus. Beides gehört zusammen: Wenn Christus mein Leben bestimmt, dann wird der letzte, der tiefste Verlust den ein Mensch erleiden kann, das Sterben, zu einem Gewinn. Nämlich zum Gewinn neuen Lebens. Denn Christus hat mit seiner Auferstehung den Weg vom Tod zum Leben gewiesen.

Es kommt alles auf die Beziehungen an, die mein Leben prägen. Wer sein Leben Jesus Christus anvertraut, wer sich von ihm angenommen und getragen weiß, der lebt sein Leben in einer lebendigen Beziehung zu ihm.

'Tabernakelbildstock in Taisten. Christus am Ölberg', 2007,  Wolfgang Sauber

Die Beziehung zu Jesus Christus hat eine einzigartige Qualität. Das kann man an Jesu Leben sehen, wie es in den Evangelien geschildert wird. Und das kann man an Menschen sehen, die ihr Leben an ihm ausgerichtet haben. Die Beziehung zu Jesus Christus hat eine einzigartige Qualität; denn sie hat eine verwandelnde Kraft. Sie vermag tatsächlich Distanz in Liebe und Streit in Versöhnung zu verwandeln. So kann sie auch meine spannungsvollen menschlichen Beziehungen positiv beeinflussen. Die Beziehung zu Jesus Christus hat aber auch die einzigartige verwandelnde Kraft, Tod in Leben und Sterben in einen Gewinn zu verwandeln.

Und so gibt mir der Glaube an Jesus Christus die Kraft am Ende loslassen zu können. Ich kann mein Leben mit allem, was mir wichtig und kostbar ist, loslassen, wie ich mich von ihm gehalten weiß. Paulus sagt das so: „Christus ist mein Leben und Sterben ist mein Gewinn.“ Und auch die menschlichen Beziehungen, die mir wertvoll und kostbar sind, darf ich von dieser Gewissheit umschlossen wissen. Denn Christus ist nicht nur für mich alleine gestorben und auferstanden, sondern für alle Menschen, auch für die, die mir nahestehen.

Darum gibt es Gott sei Dank keine Notwendigkeit, sich für das Leben hier oder im Jenseits entscheiden zu müssen. Eine weltabgewandte Frömmigkeit, die dieses Leben und diese Welt einseitig nur als schlecht und böse ansieht, hat im Evangelium Christi keine Begründung. Wir dürfen hier und heute mit Christus leben, die Liebe genießen, uns an dieser Welt erfreuen und sie liebevoll gestalten und energisch verteidigen gegen das, was sie gefährdet und das Leben zerstört. Und wir haben allen Grund, gegenüber dem Sterben jene Gelassenheit zu üben, die am Ende das Sterben sogar als Gewinn sehen kann: als den Gewinn der erlösten und befreiten Gemeinschaft mit Gott in Christus.


Das Bild 'Tabernakelbildstock in Taisten. Christus am Ölberg', 2007, Wolfgang Sauber, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported, 2.5 Generic, 2.0 Generic and 1.0 Generic license.
Das Gemälde 'St Paul Healing the Cripple at Lystra', 1663, Karel Dujardin, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Table of the Mortal Sins [detail: Death]', 1500-1525, Hieronymus Bosch, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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