Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Jeremia 7, 1 – 11 Pragmatische Nützlichkeitserwägungen; ein Erzfeind des Glaubens

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'Cry of prophet Jeremiah on the Ruins of Jerusalem', 1870, Ilja Jefimowitsch Repin

10. Sonntag nach Trinitatis

Pragmatische Nützlichkeitserwägungen; ein Erzfeind des Glaubens Jeremia 7, 1 – 11

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2007

Dies ist das Wort, das vom HERRN geschah zu Jeremia: Tritt ins Tor am Hause des HERRN und predige dort dies Wort und sprich: Höret des HERRN Wort, ihr alle von Juda, die ihr zu diesen Toren eingeht, den HERRN anzubeten! So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Bessert euer Leben und euer Tun, so will ich bei euch wohnen an diesem Ort. Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel! Sondern bessert euer Leben und euer Tun, dass ihr recht handelt einer gegen den andern und keine Gewalt übt gegen Fremdlinge, Waisen und Witwen und nicht unschuldiges Blut vergießt an diesem Ort und nicht andern Göttern nachlauft zu eurem eigenen Schaden, so will ich immer und ewig bei euch wohnen an diesem Ort, in dem Lande, das ich euren Vätern gegeben habe. Aber nun verlasst ihr euch auf Lügenworte, die zu nichts nütze sind. Ihr seid Diebe, Mörder, Ehebrecher und Meineidige und opfert dem Baal und lauft fremden Göttern nach, die ihr nicht kennt. Und dann kommt ihr und tretet vor mich in diesem Hause, das nach meinem Namen genannt ist, und sprecht: Wir sind geborgen, - und tut weiter solche Greuel. Haltet ihr denn dies Haus, das nach meinem Namen genannt ist, für eine Räuberhöhle? Siehe, ich sehe es wohl, spricht der HERR. Jeremia 7, 1 – 11

Am Anfang des 19. Jahrhunderts wohnte eine jüdische Familie in Trier. Der Vater stammte aus einer bedeutenden Rabbinerfamilie. Das Familienleben war dementsprechend durch jüdische Sitten und Frömmigkeit geprägt. Der Vater war ein eifriger Synagogenbesucher. Aber im Jahre 1816 konvertierte der Vater zum Protestantismus. Er ließ sich taufen, denn nur so konnte er seinen Arbeitsplatz als Justizrat erhalten. 8 Jahre nachdem der Vater konvertierte, wurde die gesamte Familie getauft, weil es ökonomisch vorteilhaft war, eine christliche Familie zu sein. Es wird berichtet, dass einer seiner Söhne diesen Übertritt vom Judentum zum Christentum, der aus pragmatischen Gründen vollzogen wurde, schlecht verkraftet hatte. Er war verwirrt und enttäuscht. Im Laufe der Zeit wurde er zornig und bitter. Später schrieb er Bücher, die eine weltweite Wirkung hatten. In diesen Büchern wurde behauptet, dass Religion allein von ökonomischen Bedingungen abhängt, denn so hatte er es als Kind erlebt. Seine berühmteste Aussage über Religion lautete: „Religion ist das Opium des Volkes.“ Denn es geht hier um Karl Marx.

Christlicher Glaube hat verschiedene Feinde: aber es kann gut sein, dass der größte Feind des christlichen Glaubens Pragmatismus ist. Pragmatismus bedeutet, dass alles nach Nützlichkeitserwägungen beurteilt wird. Es gibt eine fast unwiderstehliche Neigung, Religion nach dem Gesichtspunkt zu beurteilen: Was bringt es mir? Welche Vorteile sind zu erwarten?

Opium poppy Papaver somniferum Field in Turkey, near Afyon, c. 1988 Credit: Mark Nesbitt and Delwen Samuel

Als Marx Religion mit einem Betäubungsmittel verglich, war er selber von pragmatischen Nützlichkeitserwägungen geprägt. Denn für ihn hatte Glaube keinen Eigenwert, sondern erschöpfte sich in seinen praktischen Auswirkungen.

Und den Vergleich mit Opium hat Karl Marx nicht erfunden. Es gab einen anglikanischen Geistlichen mit dem Namen Charles Kingsley, der vor Karl Marx sagte: „Religion ist das Opium des Volkes“; aber diese Aussage war positiv gemeint. Denn Opium galt ursprünglich als Medizin. Aber auch wenn Religion mit Medizin verglichen wird, geht es wieder um eine pragmatische Denkweise. Es wird damit behauptet: Glaube ist für dich gut, Glaube bringt dir Vorteile, es lohnt sich, ein gläubiger Mensch zu sein.

Und das stimmt auch: Glaube bringt Vorteile. Verschiedene empirische Untersuchungen in Krankenhäusern haben bestätigt, dass gläubige Patienten schneller heilen als ungläubige. Gottesdienstbesuch stärkt das Immunsystem: das kann man statistisch nachweisen. Eine Untersuchung unter 455 Krankenhauspatienten hat gezeigt, dass Gottesdienstbesucher durchschnittlich 6 bis 8 Tage weniger im Krankenhaus verbringen müssen als Nicht-Gottesdienstsbesucher. Gläubige Menschen sind nachweislich weniger anfällig für Bluthochdruck und für Herz- und Lungenkrankheiten. Glaube ist tatsächlich wie Opium, so wie Opium ursprünglich verstanden wurde. Aber es ist verhängnisvoll, von den Vorteilen des Glaubens so zu sprechen. Denn es gibt eine fast unwiderstehliche Versuchung, die Vorteile allein für sich zu sehen, als ob man sie von der Beziehung zu Gott abkoppeln könnte.

'Der Prophet Jeremias', 1508-1512

In dem Text aus dem Propheten Jeremia, der für heute vorgesehen ist, geht es um solche Nützlichkeitserwägungen. Es geht hier um den Tempel in Jerusalem. Der Tempel galt als Wohnort Gottes, als Ort, wo Gott für sein Volk persönlich anwesend war. Aber diese Verheißung wurde durch Pragmatismus pervertiert. Es entstand die abergläubische Vorstellung, dass dieser heilige Ort absolut unantastbar war. Der Tempel wurde als Zufluchtsort verstanden, wo es einen magischen Schutz gab. Wie es im Text heißt, die Menschen sagten damals im Bezug auf den Tempel: hier sind wir geborgen. Es entstand die Vorstellung, dass alles erlaubt war – Kaltblütigkeit, Ausbeutung, Hemmungslosigkeit – denn der heilige Tempel konnte angeblich nicht untergehen. Deswegen wird der Tempel in dem Jeremiatext mit einer Räuberhöhle verglichen: d.h. wie ein Schlupfwinkel, wo Verbrecher hingehen, um sich zu verstecken. Hier geht es also um Pragmatismus pur. Diese Jerusalembewohner sind wie manche Menschen heute: sie übernehmen ein Glaubenssystem nicht vollständig, sondern greifen das heraus, was sie gerade brauchen, was ihnen vorteilhaft oder nützlich erscheint, aber ansonsten laufen alle anderen Gebiete des Lebens nach eigenen Gesetzen ab.

Besonders heute besteht die Gefahr, dass wir im Bezug auf Gott zu pragmatisch denken. Denn es gibt heute im Bereich des Glaubens eine Kaufhausmentalität. Menschen neigen dazu, Religion als Warenangebot zu betrachten, wo sie das herauspicken können, was sie gerade brauchen. Das heißt zum Beispiel: Weihnachten pickt man heraus, vielleicht auch Erntedankfest, aber Ostern und Pfingsten bleiben oft liegen. Von dem Glaubensbekenntnis nimmt man die ersten zwei Teile mit, aber der dritte Teil, wo es heißt, „ich glaube an die heilige, christliche Kirche, Gemeinschaft der Heiligen“, das wird nicht so gern nach Hause gebracht. Von den 10 Geboten sind vielleicht 5 oder 6 brauchbar, aber nicht alle 10. Und Abendmahl verkauft sich nicht so gut wie Taufe.

Solche pragmatischen Nützlichkeitserwägungen sind der Todfeind des christlichen Glaubens. Denn nur die Bibel in ihrer Ganzheit vermittelt die Herrlichkeit Gottes. Die Bibel ist nicht ein Supermarkt, wo man sich ein paar Dinge herausholen kann, die man gerade braucht. Nur ein intakter biblischer Glaube, Glaube in seiner Vollständigkeit, hat eine befreiende, heilende Wirkung.

Einmal gab es im Fernsehen einen Bericht über die Pfarrerin, Ulrike Johanns, die am Frankfurter Flughafen als Seelsorgerin tätig ist. Es wurde davon berichtet, welche Notsituationen am Flughafen vorkommen: Flüchtlinge, Gestrandete, Opfer von Verbrechen. Und dann wurde die Aufgabe der Pfarrerin so formuliert: sie ist da um „Trost zu spenden“. Diese Formulierung „Trost spenden“ ist eine typische journalistische Redewendung. Und sie entspricht der pragmatischen Denkweise unserer Zeit. Trost kann man aber nicht einfach spenden, so wie man eine Aspirintablette spendet. Man kann nicht die biblische Botschaft auf eine Trostspende reduzieren, die in einem einzigen Moment vollständig vermittelbar wäre. Zuerst muss die Bereitschaft da sein, eine Beziehung zu Gott zu suchen. Es geht darum, Gott zu suchen, einfach weil er Gott ist, und nicht weil man etwas von ihm erwartet. Und irgendwann wird man Trost geschenkt bekommen. Aber Trost kann man nicht von der Bibel loslösen und wie ein Schmerzmittel überreichen. Der Ausgangspunkt für einen befreienden Glauben ist immer nur Gott: Gott, so wie er sich offenbart hat - nicht Gott, so wie wir ihn brauchen, - sondern Gott, so wie er sich gezeigt hat.

Und Gott, so wie er sich gezeigt hat, denkt nicht in pragmatischen Kategorien. Wenn Gott ein Pragmatiker wäre, dann würde die Schöpfung so aussehen wie die Hochhäuser in der Mailänder Straße: rein nach sachlichen Nützlichkeitserwägungen gestaltet. Aber Gott ist nicht ein nüchterner Pragmatiker, sondern er ist ein Überschwänglicher, der extravagant und übertrieben vorgeht. Die Schöpfung zeigt, wie Gott ist: sie enthält übermäßig viel, was nicht notwendig oder nützlich ist. Die Vielfalt an Farbe, an Schönheit, an Geheimnissen, an Rätseln, an Reichtum ist nicht notwendig. Die Milliarden von Sternen sind nicht notwendig. Die Schöpfung ist eine einzige Übertreibung Gottes.

'Return of the Prodigal Son', c. 1667-1670, Bartolomé Esteban Perez Murillo

Und in Jesus wurde offenbart, wie unpragmatisch Gott ist, wenn es um die Liebe geht. Gott verschwendet seine Liebe an Menschen, die sie nicht verdient haben. Gott liebt Sozialhilfebetrüger, Skinheads, Neonazis, Fußballhooligans. Gott ist in seiner Liebe wie ein Fanatiker, der nicht weiß, dass es Grenzen geben sollte.

Jesus erzählte das Gleichnis von dem verlorenen Sohn, der die Erbschaft seines Vaters an sich nahm, abhaute und das ganze Geld verprasselte. Dieser genusssüchtige Sohn kam nach Hause - nicht unbedingt aus Liebe zu seinem Vater, - sondern aus rein pragmatischen Gründen: er hatte Hunger und wusste nicht weiter. Es hätte genügt, den heimkehrenden Sohn mit einem Handschlag zu empfangen. Aber der Vater dreht durch und reagiert völlig überspannt: er rennt dem Sohn entgegen, er fällt ihm um den Hals und küsst ihn, er gibt ihm das schönste Festkleid, das er finden kann, er gibt ihm einen Ring und neue Schuhe, und er veranstaltet ein Fest mit Essen, Singen und Tanzen – so dass der ältere Bruder, der brav zu Hause geblieben war, sich blöd vorkam. Dieses Gleichnis offenbart, wie Gott ist. In seiner Liebe ist Gott maßlos extravagant, völlig übertrieben. Dieser Gott denkt scheinbar nicht nach, welche pragmatischen Auswirkungen seine Liebe haben könnte. Diese Liebe ist so maßlos übersteigert, dass sie zuletzt ans Kreuz geht. Übertriebener geht’s nicht.

Und weil Gott sich nicht nach reinen Nützlichkeitserwägungen richtet, sollen wir es auch nicht tun. Unsere Gottesliebe, Nächstenliebe und Feindesliebe soll so übertrieben sein wie die Liebe Gottes. Und wenn wir im Gottesdienst Gott anbeten, dann nicht bloß, weil es uns etwas bringt, weil es eventuell nützlich ist, sondern einfach aus Liebe zu Gott, einfach weil er als unser Schöpfer und Erlöser anbetungswürdig ist, egal ob wir davon einen Vorteil haben oder nicht. Es ist unsere Bestimmung, Gott in Ewigkeit zu genießen und zu verherrlichen. Pragmatische Nützlichkeitserwägungen haben hier nichts zu suchen. Die einzige angemessene Reaktion auf die Liebe und Herrlichkeit Gottes ist es, ein bisschen verrückt zu spielen, oder wie Paulus es formulierte: Narren um Christi willen zu sein. Möge Gott uns dazu helfen. Amen.

Das Bild 'Cry of prophet Jeremiah on the Ruins of Jerusalem', 1870, Ilja Jefimowitsch Repin, sowie das Gemälde 'Return of the Prodigal Son', c. 1667-1670, Bartolomé Esteban Perez Murillo, sind im public domain, weil ihr copayright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Opium poppy Papaver somniferum Field in Turkey, near Afyon, c. 1988 Credit: Mark Nesbitt and Delwen Samuel', wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Der Ausschnitt aus einem Deckenfresko zur Schöpfungsgeschichte in der Sixtinischen Kapelle, Szene in Lünette: Der Prophet Jeremias, 1508-1512 und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.

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