Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Thomas Sinning: Jesaja 52, 13 – 53,12 Der leidende Gottesknecht

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'Kreuzaufnahme', 1980 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Kreuzaufnahme', 1980
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Karfreitag

Der leidende Gottesknecht Jesaja 52, 13 – 53,12

Predigt gehalten von Pfarrer Thomas Sinning am 21.03.2008

13 Siehe, meinem Knecht wird's gelingen, er wird erhöht und sehr hoch erhaben sein. 14 Wie sich viele über ihn entsetzten, weil seine Gestalt hässlicher war als die anderer Leute und sein Aussehen als das der Menschenkinder, 15 so wird er viele Heiden besprengen, dass auch Könige werden ihren Mund vor ihm zuhalten. Denn denen nichts davon verkündet ist, die werden es nun sehen, und die nichts davon gehört haben, die werden es merken. 53 1 Aber wer glaubt dem, was uns verkündet wurde, und wem ist der Arm des HERRN offenbart? 2 Er schoss auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt und Hoheit. Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, dass man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf dass wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. 6 Wir gingen alle in die Irre wie Schafe, ein jeder sah auf seinen Weg. Aber der HERR warf unser aller Sünde auf ihn. 7 Als er gemartert ward, litt er doch willig und tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird; und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer, tat er seinen Mund nicht auf 8 Er ist aus Angst und Gericht hinweggenommen. Wer aber kann sein Geschick ermessen? Denn er ist aus dem Lande der Lebendigen weggerissen, da er für die Missetat meines Volks geplagt war. 9 Und man gab ihm sein Grab bei Gottlosen und bei Übeltätern, als er gestorben war, wiewohl er niemand Unrecht getan hat und kein Betrug in seinem Munde gewesen ist. 10 So wollte ihn der HERR zerschlagen mit Krankheit. Wenn er sein Leben zum Schuldopfer gegeben hat, wird er Nachkommen haben und in die Länge leben, und des HERRN Plan wird durch seine Hand gelingen. 11 Weil seine Seele sich abgemüht hat, wird er das Licht schauen und die Fülle haben. Und durch seine Erkenntnis wird er, mein Knecht, der Gerechte, den Vielen Gerechtigkeit schaffen; denn er trägt ihre Sünden. 12 Darum will ich ihm die Vielen zur Beute geben und er soll die Starken zum Raube haben, dafür dass er sein Leben in den Tod gegeben hat und den Übeltätern gleichgerechnet ist und er die Sünde der Vielen getragen hat und für die Übeltäter gebeten. Jesaja 52, 13 – 53,12

Liebe Gemeinde!

Wer möchte das schon hören? Wer möchte da schon hinsehen? „Geschmäht und verachtet, der Allerverachtetste, mit Krankheit und Schmerzen …“ Da schauen wir lieber nicht hin, wie die Menschen, von denen unser Predigttext erzählt, die „ihr Angesicht vor ihm verbargen.“ Wir kennen solche Bilder zur Genüge; sie flimmern über den Fernsehschirm und stehen in den Zeitungen, sie machen betroffen, sie lassen einen vielleicht auch abstumpfen, aber wir wollen sie nicht wirklich sehen. Wir schauen lieber weg.

Immer wieder gibt es Opfer: Kinder, die von ihren Eltern vernachlässigt werden bis zum Verhungern. Jugendliche, die Opfer von Gewalt werden. 4970 Opfer im Straßenverkehr in Deutschland im Jahr 2007. Mindestens 74.000 tote Zivilisten im Irak seit Beginn des Krieges vor fünf Jahren (andere Schätzungen liegen noch weit höher), dazu 4298 getötete Soldaten der Koalitionstruppen und 189 getötete Journalisten. Man könnte stundenlang weiter aufzählen: Immer wieder Opfer, in der Geschichte wie in der Gegenwart. Es hört einfach nicht auf. Immer wieder werden Menschen zu Opfern. Die Ursachen sind: Verantwortungslosigkeit, Gleichgültigkeit, Egoismus, Gier, machtpolitisches Kalkül, Unversöhnlichkeit, oder sogar Hass und Verachtung. Immer wieder Opfer – man möchte gar nicht mehr hinsehen.

Gott aber, liebe Gemeinde, Gott schaut nicht weg. Er hat sich mit dem einen Leidenden identifiziert, von dem wir eben im Predigttext gehört haben! Und er hat gesagt: Genug der Opfer! Gott hat das Leiden des Gottesknechtes zu einem letzten, unüberbietbaren, für alle Menschen hinreichenden Opfer erklärt:
„Der HERR warf unser aller Sünde auf ihn,“ heißt es hier. Gott hat gesagt: Das Leiden diesen Einen ist genug für immer. Wenn dieser Eine so sehr leidet, dann soll er für alle leiden. Wenn er stellvertretend und solidarisch alles das aushält, was Menschen an Leid und Schmerz, an Schuld und Unversöhnlichkeit erfahren können in ihrem Leben, dann muss hier eine Grenze erreicht sein; eine Grenze, von der ab die Welt anders aussehen kann. Eine Welt, in der Gerechtigkeit möglich ist. „Der Knecht wird viele gerecht machen, denn er trägt ihre Sünden,“ heißt es hier.

Dieses Lied, das heute unser Predigttext ist, wird auch das vierte Gottesknechtslied genannt. Es ist in der Zeit des Exils entstanden, als die Israeliten nach der Zerstörung ihres Landes und der Wegführung in die Babylonische Gefangenschaft langsam wieder Hoffnung schöpften, dass es für sie einen Neuanfang geben werde. Die Leidenszeit ist vorbei, verkündet der Prophet. In jener Zeit ist dieses Lied entstanden, das vom stellvertretenden Leiden des Gottesknechtes erzählt, der für andere sein Leben hingibt, und der von Gott Recht bekommen hat und dem Gott daraufhin das Tor zu einem neuen Leben aufgestoßen hat.

Dieses vierte Gottesknechtslied gehört zu den geheimnisvollsten Texten der Bibel. Bis heute sind sich Ausleger und Wissenschaftler nicht einig, wer mit diesem Gottesknecht gemeint ist. Ist es ein Mensch oder eine Gruppe von Menschen? Ist es der Prophet, der von sich selber spricht? Ist es das Volk Israel, das mit der Zerstörung seiner Hauptstadt und dem Exil schwerstes Leid ertragen hat? Oder ist es eine messianische Gestalt? Sie bleibt geheimnisvoll, die Frage nach diesem Gottesknecht. Und doch ist er eine ganz entscheidende Figur. Denn er ist der, durch dessen Leid Gott den vielen unschuldigen und sinnlosen Opfern unter den Menschen Hoffnung geben will. Hoffnung, dass es mit den Opfern ein Ende haben wird.

Die ersten Christen haben den grausamen Tod Jesu am Kreuz erst im Lichte dieses Gottesknechtsliedes verstehen können. Ihnen wurde klar: das, was hier in diesem Lied gesagt wird, das trifft genau die Leidensgeschichte Jesu. Sein Tod am Kreuz war nicht vergeblich. Er ist für unsere Sünden gestorben. Es ist das Leid aller Menschen, das er am eigenen Leibe ertragen hat. Und Gott hat durch das Unrecht, das er erleiden musste, eine neue Gerechtigkeit ermöglicht; er hat den Tod, den er erleiden musste in ein neues Leben verwandelt. Genau so, wie es in diesem Gottesknechtslied im Buch des Propheten Jesaja erzählt wird. So konnten die ersten Christen mit Hilfe dieses Gottesknechtsliedes Worte finden, die ihnen den Tod Jesu am Kreuz erschließen konnten.

Diese Weise, den Tod Jesu im Lichte unseres Predigttextes zu verstehen, finden wir auch wieder in vielen Chorälen wie etwa dem von Paul Gerhardt, den wir eben gesungen haben: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder, es büßet in Geduld die Sünden aller Sünder.“

Zuweilen wird von Kritikern des Christentums vorgebracht, der Gott, von dem in der Bibel die Rede ist, sei brutal und blutrünstig und unmenschlich, weil er ein solch schreckliches Opfer, wie den Kreuzestod seines eigenen Sohnes brauche, um mit den sündigen Menschen versöhnt zu werden. Ein Gott, der ein solches Opfer benötige, sei inakzeptabel. In der Tat sind die Worte aus Jesaja 53 und manche Deutung des Todes Jesu zuweilen so interpretiert worden. Wenn etwa in der Satisfaktionstheorie Anselm von Canterburys im 11. Jahrhundert versucht wurde, den Tod Jesu als Sühneopfer mit juristischer Logik zu verstehen, dann ist eine solche problematische Interpretation nahe liegend.

Doch Gott musste nicht versöhnt werden, liebe Gemeinde, er brauchte das Opfer nicht. Er hat vielmehr „die Menschen versöhnt mit sich selber,“ wie der Apostel Paulus sagt (2Kor.5.19), in dem er sich mit dem leidenden Jesus identifiziert hat. Gott hat sich selber mit Jesus identifiziert. Er hat sich ganz auf die Seite dessen gestellt, der die Liebe zu den Menschen bis zuletzt durchhielt, ohne denen, die ihm unrecht taten, Gewalt anzutun. „Er tat seinen Mund nicht auf wie ein Lamm, das zur Schlachtbank geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinem Scherer.“ Diese Art von Liebe, die dem Unrecht und der Gewalt durch Leiden widersteht, diese Art von Feindesliebe hat Jesus bereits in der Bergpredigt verkündet. Und er hat sie gelebt, bis zuletzt, als er sogar für seine Peiniger um Vergebung bat. Diese Liebe ist es, der Gott Recht gegeben hat.

Gott hat sich mit dem leidenden Christus identifiziert! Er hat ihm eine Zukunft gegeben, wenn es hier heißt: „Er wird Nachkommen haben und in die Länge leben; er wird das Licht schauen und die Fülle haben.“ Gott hat Jesus Recht gegeben, indem er ihn von den Toten auferweckt hat. Und so er hat gesagt: Genug der Opfer! Gott hat das Leiden Jesu zu einem letzten, unüberbietbaren, für alle Menschen hinreichenden Opfer erklärt, damit es keine Opfer mehr geben muss. In Jesus ist ein für allemal wahr geworden, was bereits beim Propheten Hosea (6,6) gesagt ist und was Jesus selber immer wieder betont hat: „Gott hat Gefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer.“

So offenbart das Leiden Jesu im Lichte unseres Predigttextes nur die Brutalität der Menschen, nicht aber Gottes! Zugleich zeigt Jesu Leiden aber auch, wie sehr Gottes Liebe denen gilt, die sich in Schuld verstrickt haben und nach Versöhnung und Vergebung sehen. Und Jesu Leiden zeigt in einzigartiger Weise, wie sehr Gott solidarisch ist mit all jenen, die sich selber als Opfer von Unrecht und Gewalt erleben.

Darum lohnt es sich, hinzuschauen. Hinschauen auf Jesus, und sein Leiden verstehen als den Wendepunkt, an dem Versöhnung ein für alle mal möglich geworden ist. Als den Wendepunkt, von dem an endgültig keine Opfer mehr gefordert werden dürfen, sondern nur noch Barmherzigkeit. Wer Christus, den Gekreuzigten sieht, darf sich versöhnt wissen mit Gott. Wer auf den gekreuzigten Christus schaut, der sieht Gottes menschliches Gesicht. Der sieht Gott mitten im Leiden und Sterben, und der erkennt, dass fortan kein Mensch mehr ohne Gott leiden und sterben muss. Darum ist der Tod Jesu der Wendepunkt, an dem alle Opfer sinnlos werden und die selbstlose Liebe groß wird.

Und wer Christus sieht, der wird auch nicht wegsehen, sondern hinschauen, wenn Menschen leiden. Wenn Menschen leiden, weil sie Opfer von Unrecht oder Gewalt oder Egoismus oder Hass oder Gleichgültigkeit geworden sind. Der wird nicht wegschauen, wenn Unrecht geschieht. Wer auf Christus seiht, der wird hinschauen, wenn Menschen verzweifelt sind und sich alleingelassen fühlen wie der Mann am Kreuz. Hinschauen, sich einmischen und hingehen, so wie Jesus hingegangen ist zu denen, die auf ein helfendes Wort oder auf solidarische Nähe oder auf konkrete Hilfe warten.

So ruft uns der Gekreuzigte in seine Nachfolge. Jesus nachfolgen muss nicht heißen, so zu leiden wie er, aber es heißt auf jeden Fall, so zu lieben wie er. Solidarisch und barmherzig sein wie er. Das ist der Weg, den Jesus uns gewiesen hat.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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