Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe: Markus 10,17-27 "Verkaufe alles, was du hast..."?

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'The Rich Young Man Went Away Sorrowful', between 1886 and 1894, James Joseph Jacques Tissot

18. Sonntag nach Trinitatis

"Verkaufe alles, was du hast..."? Markus 10,17-27

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe am 23.10.2011 in der Dreikönigskirche

Und als er sich auf den Weg machte, lief einer herbei, kniete vor ihm nieder und fragte ihn:
Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe? Aber Jesus sprach zu ihm: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.
Du kennst die Gebote: »Du sollst nicht töten; du sollst nicht ehebrechen; du sollst nicht stehlen; du sollst nicht falsch Zeugnis reden; du sollst niemanden berauben; ehre Vater und Mutter.«
Er aber sprach zu ihm: Meister, das habe ich alles gehalten von meiner Jugend auf.
Und Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb und sprach zu ihm: Eines fehlt dir.
Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!
Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.
Und Jesus sah um sich und sprach zu seinen Jüngern:
Wie schwer werden die Reichen in das Reich Gottes kommen!
Die Jünger aber entsetzten sich über seine Worte.
Aber Jesus antwortete wiederum und sprach zu ihnen:
Liebe Kinder, wie schwer ist's, ins Reich Gottes zu kommen!
Es ist leichter, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe, als daß ein Reicher ins Reich Gottes komme. Sie entsetzten sich aber noch viel mehr und sprachen untereinander: Wer kann dann selig werden?
Jesus aber sah sie an und sprach: Bei den Menschen ist's unmöglich, aber nicht bei Gott; denn alle Dinge sind möglich bei Gott. Markus 10,17-27

Liebe Gemeinde!

Als ich den Predigttext für den heutigen Sonntag las, war – so muß ich gestehen – mein erster Gedanke: Gut, daß ich nicht mehr in meiner früheren Gemeinde in Baden-Baden über den „reichen Jüngling“ predigen muß, sondern in Frankfurt. Denn in einer Gemeinde, in der besonders viele besonders wohlhabende Leute wohnen, gehört das heutige Evangelium mit seinem Aufruf: “Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen!“ nicht gerade zu den beliebtesten Bibeltexten. Aber nachdem ich mich in Sachsenhausen ein wenig umschauen konnte, könnte ich mir vorstellen, daß die Radikalität, mit der Jesus dem reichen Mann begegnet, auch hier auf zahlreiche Menschen eher abschreckend wirkt und nicht nur ein schlechtes Gewissen, sondern einfach auch Hilflosigkeit angesichts einer solch steilen Forderung auslöst.

Aber ich muß gar nicht so viel überlegen, wie es anderen mit diesem Predigttext geht. Mir selbst steckt immer noch etwas der Umzug in den Knochen, diese unzähligen schweren Umzugskartons machen viel deutlicher als sonst bewußt, wie viele Güter man angesammelt hat. “Verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen!“: ich könnte mir vorstellen, daß diese Forderung Jesu bei jedem und jeder von uns, die wir alle mehr haben, als wir zum Leben brauchen, zumindest ein Unbehagen, wenn nicht Enttäuschung oder gar Empörung auslöst.

Aber nun hat Jesus diese Aufforderung ja nicht allgemein an die gesamte Menge seiner Zuhörer gerichtet, sondern es wird hier eine besondere, persönliche Begegnung erzählt, in der es zu dieser Forderung kam: Ein Mann lief herbei, suchte speziell die Nähe zu Jesus, kniete sogar vor ihm nieder und redete ihn besonders achtungsvoll an: Guter Meister, was soll ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?
In der Formulierung dieser Frage, in dem Begriff „ererben“ zeigt der Mann: Ihm ist klar, daß er das ewige Leben nur empfangen, nicht etwa durch sein Tun verdienen kann. Erben beruht ja nicht unbedingt auf eigenem Verdienst und eigener Würdigkeit. Um so unverständlicher, daß Jesus den, der so verständig, so ernsthaft, so intensiv fragt, gleich ein wenig schroff zurückweist: Was nennst du mich gut? Niemand ist gut als Gott allein.

In dieser Betonung der Einzigartigkeit Gottes klingt das erste Gebot an, das Grundgebot des jüdischen Glaubens, der zentrale Glaubenssatz: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein.“ Gott allein ist Maßstab für das, was gut ist. Wenn wir unser Leben in Verbindung mit Gott leben, können wir Gutes tun. Vor allem rechten Handeln ist die Ausrichtung des Lebens auf Gott Grundlage jeder Hoffnung auf ewiges Leben.

'Feed My Lambs', between 1886 and 1894, James Joseph Jacques Tissot

Gleich darauf zitiert Jesus die Gebote der zweiten Tafel, also die auf den Mitmenschen gerichteten Gebote, von denen der Mann bestätigt, daß er sie alle gehalten hat von seiner Jugend auf. Diese Antwort, die uns vielleicht erstaunen mag, wird von Jesus nicht in Zweifel gezogen. Im Gegenteil: Jesus sah ihn an und gewann ihn lieb. Vermutlich dürfen wir uns hier eine Geste der Zuneigung, vielleicht sogar eine Umarmung vorstellen. Auf jeden Fall erreicht das Gespräch hier eine tiefere Ebene.

Jesus ist voller Anerkennung und Zuneigung für diesen Mann und seinen Eifer, Gottes Willen zu tun. Jesus spürt, daß hinter der Frage des Mannes mehr steckt als nur der Wunsch, in seiner Haltung und seinem Lebensstil bestätigt zu werden; Jesus erkennt, daß das Leben dieses Mannes mit der Erfüllung der Gebote nicht ausgefüllt ist, daß eine tiefere Sehnsucht nach religiöser Erfüllung in ihm liegt. Deshalb geht Jesus mit ihm einen Schritt weiter und sagt ihm: „Eines fehlt dir. Geh hin, verkaufe alles, was du hast, und gib's den Armen, so wirst du einen Schatz im Himmel haben, und komm und folge mir nach!“ Der junge Mann wird damit aufgefordert, all seinen Besitz zu veräußern, den Erlös an Arme zu verteilen und Jesus bei seiner Verkündigung des Reiches Gottes in äußerer Mittellosigkeit und ganz im Vertrauen auf Gott zu begleiten.

Jesus stellt mit dieser Aufforderung keine weitere Bedingung für das ewige Leben, er fügt nicht ein elftes Gebot hinzu, dessen Erfüllung heilsnotwenig wäre.
Jesus ruft den Mann zu einem letzten radikalen Schritt: nämlich all seinen Reichtum aufzugeben und sich ganz auf Gott zu werfen, sich allein auf ihn zu verlassen, so wie Jesus selbst das tat, wenn er im Vertrauen auf Gottes Güte und Fürsorge ohne materielle Basis umherzog und das Reich Gottes predigte.
Jesus ermuntert den Mann: Komm, folge der Spur deines Herzens, folge mir nach! Unterbrich dein geregeltes und gesichertes Leben und trau dich zu neuen Erfahrungen mit Gott! Dabei sollst du nicht noch mehr leisten und tun. Nein, laß vielmehr los, was dich nicht losläßt, lass dich Gott! Setze dein ganzes Leben auf ihn! Vertraue dein Leben ganz und gar Gott an!

Doch der Punkt, an dem Jesus auf die besondere Suche, auf die spezielle Sehnsucht dieses Mannes eingeht, ist zugleich der wunde Punkt.
Er aber wurde unmutig über das Wort und ging traurig davon. Er, dessen religiöses Interesse so tief war, dessen Verhalten so opferbereit und integer zu sein schien, konnte auf den Ruf Jesus nicht so reagieren wie die Fischer Simon Petrus und sein Bruder Andreas und die Brüder Jakobus und Johannes. Als Jesus ihnen zurief: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen!, da verließen sie sogleich ihre Netze, stiegen aus dem Boot und folgten ihm nach. Ebenso Levi, der Zöllner, stand einfach auf vom Zoll und folgte Jesus nach. Dieser Mann aber ging traurig davon; denn er hatte viele Güter.

Diesen speziellen Ruf Jesu, Familie, Haus und Besitz zurückzulassen, ihm nachzufolgen und mit ihm Gottes neue Welt zu verkünden und das Reich Gottes hier schon beispielhaft zu leben, diesen Ruf in die direkte Jesusnachfolge konnte der Mann nicht annehmen.

Jesus hat diese Aufforderung, seinen Besitz zu verkaufen und ihm nachzufolgen, nicht an alle seine Anhänger gerichtet. Die meisten, die sich zu Jesus hielten, sind wohl in ihren Lebensverhältnissen und Familien geblieben.

Und auch in der Geschichte der Kirche sind es nicht viele, die – etwa wie Franz von Assisi – in eindrucksvoller Radikalität alles verkauft haben, um es den Armen zu geben. Daß einzelne Christen in allen Jahrhunderten diesen Ruf für sich gehört haben und annehmen konnten, das hatte in ihrem Umfeld und weit darüber hinaus jeweils sehr beeindruckende, mitreißende Folgen. Ich denke, als Kirche schöpfen wir sehr viel Kraft aus dem beispielhaften Wirken dieser Christen.

Die Tatsache, daß Jesus nicht alle, die seine Botschaft hörten, in diesen radikalen Besitzverzicht gerufen hat, kann aber nun nicht bedeuten, daß wir uns angesichts des beunruhigenden Predigttextes nun doch beruhigt zurücklehnen (soweit das auf den harten Kirchenbänken möglich ist) und uns sagen: Dann bin ich ja nicht unbedingt gemeint.
Der provozierende Predigtabschnitt und die beispielhafte radikale Jesusnachfolge einzelner Christen wollen uns, die wir als Christen in der Regel in unserem Besitz und Eigentum verbleiben, herausfordern und uns fragen, wie wir authentisch Christen sein können, wie wir etwas von der Radikalität der Nachfolge Jesu leben können.

Für uns heute könnte das heißen:
Gegenüber allem, was wir haben und besitzen, mitunter besitzen müssen, ist es wichtig, eine letzte innere Freiheit und Distanz einzunehmen. Wir dürfen daran nicht unser Herz hängen, daraus nicht im letzten unsere Sicherheit gewinnen und so unfähig werden, unser Leben wirklich in Gott zu bergen und von ihm alles zu erwarten.

Dazu muss aber unweigerlich das andere treten, sonst verbleibt das Erste in unverbindlicher Innerlichkeit: nämlich die tatkräftige und sichtbare Solidarität mit den Armen, mit denen, denen es am Lebensnotwendigen fehlt. Hier hat jeder Christ sowie eine christliche Gemeinde von seinen bzw. ihren Möglichkeiten her zu prüfen und zu entscheiden, was das für ihn bzw. sie bedeutet. Ich denke aber, dass dies gegenwärtig für die Kirche auch eine politische Dimension beinhaltet: Aufgabe von uns Christen ist es nicht nur, hier und da zu helfen, wo Not ist, sondern die soziale Ungerechtigkeit, die immer weiter auseinandergehende Schere zwischen Reich und Arm müssen wir auch in der Gesellschaft zur Sprache bringen und artikulieren.

Bildtafel des Allgemeinen Almosenkastens in die Dreikönigskirche

Mich läßt nicht los, daß am vorletzten Samstag, als tausende Menschen auch in Frankfurt gegen die Macht der Banken und Finanzmärkte demonstrierten, auf einem der Transparente zu lesen war „Kapitalismus ist eine Religion“. Ja, der Verlauf der Aktienkurse, die Steigerung der Gewinne und Profite kann religiösen Charakter annehmen, sie können zu Gegengöttern werden, die berauschen und sozial unempfindlich machen, und hier haben die christlichen Kirchen vom ersten Gebot her die Pflicht, mahnend ihre Stimme zu erheben und sich zum Anwalt der sozial Schwachen zu machen.

Die Themen Geld, Reichtum, Armut, Finanzen sind in unserem Alltag zu solch übermächtigen Themen geworden. Daß die allabendliche Tagesschau kaum noch andere Themen hat und statt „Tagesschau“ eher „Finanzlageschau“ o.ä. heißen müßte, sagt – so denke ich – viel über unsere gegenwärtige Gesellschaft aus.

Auch wenn wir nach diesem Gottesdienst nun vermutlich nicht hingehen und unseren ganzen Besitz den Armen geben, halte ich es doch für ein wichtiges Zeichen, daß wir am Sonntagmorgen einmal ganz andere Inhalte zum Thema Finanzen, zum Thema Reichtum und Armut hören und in uns aufnehmen. Daß wir jeden Sonntag unter der fast 500 Jahre alten Bildtafel des Allgemeinen Almosenkastens in die Dreikönigskirche eintreten, daß wir – selbst mitten in einer feierlich gesungenen Liturgie – wahrnehmen, daß das Thema Reichtum, das Thema Geld mit unserem Glauben, ja mit dem ersten Gebot zu tun hat, das ist ja nicht nichts.

Es birgt in sich die Hoffnung, daß jeder und jede von uns verantwortlich prüft, wie der Ruf Jesu in die Nachfolge für uns persönlich Gestalt gewinnen kann.
Amen.

Die Gemälde 'The Rich Young Man Went Away Sorrowful' und 'Feed My Lambs', between 1886 and 1894, James Joseph Jacques Tissot', ist im public domain der Vereinigten Staaten und der Länder mit einer copyrightdauer des Lebens des Authors plus 100 Jahre oder weniger.
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Die Photographie 'A man crying as he prays at the Western Wall', 2009, David Shankbone, ist lizensiert unter derCreative Commons Attribution 3.0 Unported license.
Das Bild 'Lamenting Angel', 1988, Kosta Khetagurov, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Morning glory', Chilepine, wurde von ihrer Urheberin chilepine dem public domain zur Verfügung gestellt. Dies gilt weltweit.

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