Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe: Klagelieder 3,17-26.31-32 Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben

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Holzschnitt aus 'Die Bibel in Bildern', 1860, Julius Schnorr von Carolsfeld

16. Sonntag nach Trinitatis

Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben Klagelieder 3,17-26.31-32

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe am 09.10.2011 in der Dreikönigskirche

Der Predigttext für den 16. Sonntag nach Trinitatis steht im Buch der Klagelieder in Kapitel 3

Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.
Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin.
Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin!
Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir's.
Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch:
Die Güte des HERRN ist's, dass wir nicht gar aus sind,
seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende,
sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Der HERR ist mein Teil, spricht meine Seele; darum will ich auf ihn hoffen.
Denn der HERR ist freundlich dem, der auf ihn harrt, und dem Menschen, der nach ihm fragt.
Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl
und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte. Klagelieder 3,17-26.31-32

Liebe Gemeinde!

Unser heutiger Predigttext ist eine Seltenheit. Nach der kirchlichen Ordnung der Predigttexte ist nur einmal in sechs Jahren ein Abschnitt aus den Klageliedern vorgesehen. Das Buch "Klagelieder" im Alten Testament ist ein in der Kirche kaum beachtetes kurzes Büchlein mit nur 5 Kapiteln. Darin enthalten sind Trauer- und Klagegebete.

A man crying as he prays at the Western Wall', 2009,  David Shankbone

Sie wurden gebetet angesichts der Zerstörung des jüdischen Tempels in Jerusalem durch die Babylonier. Das war etwa 600 Jahre, bevor Jesus geboren ist. Juden beten diese Klagelieder jedes Jahr am Gedenktag der Tempelzerstörung. Dann versammeln sich unzählige Menschen vor der sogenannten Klagemauer in Jerusalem. Sie setzen sich in kleinen Gruppen auf den großen Platz vor der Klagemauer und beten gemeinsam die Gebete dieses Buches Klagelieder. Von diesem Gedenktag, von diesen Klageliedern hat die Klagemauer, dieser für Juden wichtigste Ort des Gebets, ihren Namen bekommen. Juden selbst nennen sie allerdings nicht so. Bei ihnen heißt sie schlicht Westmauer. Denn nach der zweiten Tempelzerstörung durch die Römer blieb nur dieses Mauerstück der Westmauer des Tempelberges übrig. Vom Tempel selbst blieb kein Stein auf dem anderen. Vor der Klagemauer werden aber ganz und gar nicht nur Klagegebete gebetet.

Die Klagelieder werden nur einmal im Jahr, am 9. Tag des Monats Aw, dem Gedenktag der Tempelzerstörung, dort gesungen.
An den übrigen Tagen ist die Klagemauer oder Westmauer ein Ort für alle Gebete, für Dank-, Lob-, Bittgebete ebenso wie für Klagegebete.

Die christliche Kirche hat den Klagegebeten keine große Aufmerksamkeit gewidmet. Und selbst am heutigen Sonntag, wenn einmal in sechs Jahren über einen Text aus dem Buch der Klagelieder gepredigt wird, wurde ein Abschnitt aus diesem Buch ausgewählt, in dem die Klage sich gerade in ein Loblied verwandelt. Wenn Sie auf dem Blatt schauen, auf dem ich Ihnen den Predigttext abgedruckt habe, dann beginnt der eigentlich vorgesehene Text erst mit dem Fettgedruckten, wo von der 'Güte des HERRN' und seiner 'Barmherzigkeit' die Rede ist. Die vorangehenden Klagen sind im vorgeschlagenen Predigttext einfach übergangen. Weil aber gerade die vorangehende Klage das Lobgebet erst glaubwürdig macht und weil die Klagen so anschaulich, so gut nachvollziehbar formuliert sind, wollte ich sie Ihnen nicht vorenthalten und habe dem Predigttext noch die vorhergehenden Verse hinzugefügt:

"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben; ich habe das Gute vergessen.
Ich sprach: Mein Ruhm und meine Hoffnung auf den HERRN sind dahin.
Gedenke doch, wie ich so elend und verlassen, mit Wermut und Bitterkeit getränkt bin!"
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben":

'Lamenting Angel', 1988, Kosta Khetagurov

Ich stelle mir vor, daß manche unter uns gerade diesen Satz zu Ihrem Gebet machen könnten.
Ich denke an die Menschen unter uns, die ständig Schmerzen ertragen müssen:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben".
Ich denke an die Menschen, denen die Trauer um einen geliebten Lebenspartner den Seelenfrieden genommen hat:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben".
Ich denke an die Menschen, die eine unbereinigte Schuld mit sich herumtragen:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben".
Ich denke an all die gehetzten, gestressten Menschen, die in dieser technisierten Zeit und in den harten Anforderungen des Berufs kaum noch Atem holen können:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben".
Ich denke an die Kinder, die nur vor dem Fernsehgerät noch still sitzen können, die für anderes keine Konzentration mehr aufbringen:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben".
Ich denke nicht zuletzt an die unzähligen Kinder, Frauen und Männer auf dieser Erde, die in Kriegsgebieten unter ständiger Lebensangst ihre Tage und Nächte verbringen:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben, ich habe das Gute vergessen".
Allzu viele Menschen unter uns und anderswo haben allen Grund, in die Klagegebete und weniger in die Lobgebete einzustimmen.
Ob es da hilfreich ist, wenn wir in der Kirche allein von Gottes Güte, Barmherzigkeit und Treue reden? Ist das die richtige Reaktion auf das Leid, das uns umgibt, wenn wir beten:
"Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen."?

Nein, das möchte ich so nicht mit machen: aus der Bibel immer nur die schönen, erfreulichen, zu Herzen gehenden Verse auszuwählen und sich daran zu erwärmen mitten in aller Kälte und Härte dieser Welt. Die Bibel selbst ist da viel realistischer. In ihr gibt es keine Zensur; da darf alles zu Wort kommen, was Menschen beschäftigt: das, was uns quält, genauso, wie das, was uns glücklich macht.

Der Mann, aus dessen Gebet der heutige Predigttext entnommen ist, der hat seinem Gott nicht mit frommen, süßlichen Worten geschmeichelt. Nein, er hat Gott seine ganze Not entgegengeschleudert, er hat ihm gesagt, was Sache ist. Hören wir noch einen Abschnitt aus seinem eindrucksvollen Gebet: (Verse 1-8)

Ich bin der Mann, der Elend sehen muß durch die Rute des Grimmes Gottes.
Er hat mich geführt und gehen lassen in die Finsternis und nicht ins Licht.
Er hat seine Hand gewendet gegen mich und erhebt sie gegen mich Tag für Tag.
Er hat mir Fleisch und Haut alt gemacht und mein Gebein zerschlagen
Er hat mich ringsum eingeschlossen und mich mit Bitternis und Mühsal umgeben.
Er hat mich in Finsternis versetzt wie die, die längst tot sind.
Er hat mich ummauert, daß ich nicht heraus kann, und mich in harte Fesseln gelegt.
Und wenn ich auch schreie und rufe, so stopft er sich die Ohren zu vor meinem Gebet.

So dürfen wir mit Gott sprechen. Wenn es uns so zumute ist, dann müssen wir diese Gefühle nicht vor der Kirchentür abgeben. Wir dürfen unsere Klage hier in der Kirche vor Gott aussprechen; denn genau da gehört sie hin.

Daß Christen keinen Grund mehr zum Klagen hätten, ist einfach nicht wahr. Aber es ist ein entscheidender Unterschied zwischen der Klage von Christen und der Klage von Menschen, die mit Gott nichts anfangen können oder nichts zu tun haben wollen.

Das Entscheidende ist, daß Christen ihre Klage im Gebet an Gott richten. Wer nur mit seinem Nachbarn täglich neu über die Schlechtigkeit dieser Welt jammert, bei dem wird sich nichts verändern. Wenn ein Christ seine Klage über diese Welt und über sein Leben in einem Gebet an Gott richtet, dann hat seine Klage eine Richtung und einen Adressaten. Es ist im Unterschied zum Jammern kein bloßes Kreisen um sich selbst und um die Probleme. Wer seine Klage an Gott richtet, der durchbricht den innerweltlichen Kreislauf. Der findet eine Richtung und ein Ziel.

Der Mann, der vor 2600 Jahren nach der Zerstörung seiner Stadt Jerusalem und des Tempels dieses Gebet sprach, das heute unser Predigttext ist, dieser Mann jammert nicht nur vor sich hin. Er betet. Er hat einen Adressaten für seine Klage: Gott.
Nach und nach findet er für alles Worte, was ihm auf der Seele liegt. Er beschönigt nichts, übergeht nichts, weicht der Wirklichkeit nicht aus. Und indem er dies tut, verliert das Grauen die Macht über ihn. Die Klage verändert ihn. Unversehens findet in ihm eine Wandlung statt.

Du wirst ja daran gedenken, denn meine Seele sagt mir's.
Dies nehme ich zu Herzen, darum hoffe ich noch.

Und aus der Klage, die er seinem Gott vor die Füße schleuderte, erwächst wirklich Hoffnung.
Der, der gerade noch gebetet hat:
"Meine Seele ist aus dem Frieden vertrieben", der findet den Frieden seiner Seele wieder:
"Meine Seele sagt mir's: Du wirst ja daran gedenken."
Gott, vor dem er all seine Not und seine Qual aussprechen kann, der da ist, um ihm zuzuhören, der ist auch da, um zu helfen.

'Morning glory', Chilepine

Und ebenso anschaulich und beeindruckend, wie er seine Klage herausgeschleudert hat, so glaubwürdig tröstlich wächst nun in ihm die Hoffnung:

"Die Güte des HERRN ist's, daß wir nicht gar aus sind, seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu, und deine Treue ist groß.
Es ist ein köstlich Ding, geduldig sein und auf die Hilfe des HERRN hoffen.
Denn der HERR verstößt nicht ewig; sondern er betrübt wohl und erbarmt sich wieder nach seiner großen Güte."

So kann nur jemand sprechen, der tief betrübt war und darin getröstet wurde. Weil er sich nicht scheute, seine Not in aller Deutlichkeit zu beschreiben, darum kann ich ihm nun auch diesen Wandel glauben.

Ja, Gott sei Dank, Gottes Barmherzigkeit gilt auch uns heute.
Auch wenn wir uns von Gott und den Menschen verlassen fühlen, weil wir mit uns und unserem Leben nicht zurecht kommen, weil jemand gestorben ist, den wir lieb hatten, weil uns Unrecht angetan worden ist, weil wir keine Arbeit haben, weil wir alleine sind, weil wir krank sind: der Weg der Klage, des Abladens der Lasten vor Gott, der Weg des Entdeckens der Treue Gottes zu uns, der Weg der Hoffnung steht auch uns offen. Gott will nicht, daß wir gar aus sind. Er will, daß wir leben. Und im Leben und im Danken, wenn wir Worte finden für seine Treue trotz unserer Untreue, wachsen uns Kräfte zu zum Leben, zum Handeln und zum Reden. Gott sei Dank! Denn, so hat Johannes Zwick im 16. Jahrhundert aus unserem Predigttext ein Lied gedichtet:

All Morgen ist ganz frisch und neu des Herren Gnad und große Treu;
sie hat kein End den langen Tag, drauf jeder sich verlassen mag.

Amen.

Die Abbildung Holzschnitt aus 'Die Bibel in Bildern', 1860, Julius Schnorr von Carolsfeld, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'A man crying as he prays at the Western Wall', 2009, David Shankbone, ist lizensiert unter derCreative Commons Attribution 3.0 Unported license.
Das Bild 'Lamenting Angel', 1988, Kosta Khetagurov, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Morning glory', Chilepine, wurde von ihrer Urheberin chilepine dem public domain zur Verfügung gestellt. Dies gilt weltweit.

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