Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigt von Pfarrerin Silke Alves-Christe: Jesaja 29,17-24 Weltmeister im Hoffen

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'Segenswünsche für eine Mirschülerin', Silke Alves-Christe

12. Sonntag nach Trinitatis

Weltmeister im Hoffen Jesaja 29,17-24

Predigt gehalten von Pfarrerin Silke Alves-Christe am 11.09.2011 in der Bergkirche

Der Predigttext für den 12. Sonntag nach Trinitatis steht im Buch des Propheten Jesaja 29,17-24

Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll wie ein Wald werden.
Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.
Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten,
welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht
und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor,
und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.
Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat,
zum Hause Jakob: Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen,
und sein Antlitz soll nicht mehr erblassen.
Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - seine Kinder - in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.
Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen, und die, welche murren, werden sich belehren lassen. Amen. Jesaja 29,17-24

Gott, ich suche Halt und Wegweisung.
Mach mich offen für dich und gib mir ein Wort, das mich trifft. Amen.

Liebe Gemeinde!

Vermutlich wird jeder und jede von uns sich erinnern, wann und wo und wie er oder sie heute vor 10 Jahren von den Terroranschlägen auf die Türme des World-Trade-Centers in New York erfahren hat. Bei der Frage, wie diese Anschläge unsere Welt verändert haben, fiel mir eine kleine Episode ein, die ich vor einiger Zeit im Religionsunterricht erlebte. Als die Klasse sich von einer Mitschülerin, die wegziehen sollte, verabschieden mußte, schrieben alle Schüler ihr einen Segenswunsch auf:
Eine schöne neue Schule, gute Freunde, ein Meerschweinchen, viel Spaß … und dazwischen der Wunsch eines Schülers: Viel Sicherheit!

Dieser Wunsch hat mir zu denken gegeben. Denn auf so eine Idee wäre ich in meiner Schulzeit gewiß nie gekommen, einer Mitschülerin oder einer Freundin viel Sicherheit zu wünschen. Daß ein Schüler, der unbeschwert fröhlich in einer behüteten Familie aufwächst, diesen Wunsch wichtig findet, daß er Sicherheit nicht für selbst-verständlich hält, sondern drohende Unsicherheit spürt, das hat mich noch lange beschäftigt. Ich staune über die Sensibilität dieses Schülers, der verunsichernde Terrornachrichten mit seinen Abschiedswünschen an die Mitschülerin in Verbindung bringt; und ich bin traurig, daß sich Schüler überhaupt mit solchen Gedanken und Ängsten beschäftigen müssen. Als ich im Predigttext für den heutigen Sonntag am 11. September vom Ende der Tyrannen und Spötter und vom Ende derer las, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, fiel mir dieser Wunsch des Schülers wieder ein: Nicht einfach: Viel Glück! sondern Viel Sicherheit! - weil diese Welt so ist, wie sie ist; weil diese Welt nicht so ist, wie die Zukunftshoffnung des Jesaja sie schildert; weil diese Hoffnungsbilder noch nicht wahr geworden sind. „Die große Wandlung“ - so über-schreibt die Lutherbibel unseren Abschnitt – die große Wandlung ist noch nicht eingetreten.

'Market Place, Norwich', 2010, Adam Smith

Warum werden Juden und Christen nicht müde, immer wieder solche Heilsverheißungen zu lesen und zu hören?

Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind, Unheil anzurichten, welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht des Unschuldigen.

Warum halten wir nicht nur jahrelang, nicht nur Jahrhunderte lang, sondern Jahrtausende lang an solchen Wunschbildern fest, obwohl sie von unserer Wirklichkeit so weit entfernt sind? Juden als die Weltmeister des Wartens und Hoffens in ihrer unerschütterlichen Erwartung des Messias; wir Christen, die wir im Warten und Hoffen die Silbermedaille verdient haben, weil wir 2000 Jahre nach dem Kommen unseres Erlösers immer noch in einer unerlösten Welt leben und dennoch nicht aufhören von Erlösung und Heil zu predigen und auf ihren vollkommenen Durchbruch zu warten und zu hoffen.

Macht diese Weltmeisterschaft des Hoffens sich nicht irgendwann lächerlich? Macht sie wirklich noch einen Sinn? Wird uns nicht doch einmal der Atem ausgehen, dieser erstaunlich lange Atem?

Haben nicht doch die Kritiker recht, die dieses unermüdliche Hochhalten der Erlösungshoffnung in einer so unerlösten Welt für Opium halten, für ein Betäubungsmittel, das die gegenwärtigen Leiden und Schmerzen dämpft, aber nicht bekämpft?

Eine Vertröstung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag, ein Betäubungs- oder Beruhigungsmittel ist dieser Jesajatext ganz und gar nicht. Er verspricht nicht, daß es irgendwann einmal besser werden wird, sondern er will, daß wir anders werden. Hier wird uns kein Schlaraffenland verheißen, wie es uns etwa in Werbespots vorgegaukelt wird, sondern die Verwandlung der Natur (hin zu Wachstum und Fruchtbarkeit) wird mit der Wandlung von uns Menschen verknüpft (hin zu Fröhlichkeit und Gerechtigkeit). Darum: betäubt dürfen wir ganz und gar nicht sein, wenn wir uns diesem Text zuwenden. Diese Worte Jesajas lassen uns nicht in Ruhe - und genau das unterscheidet Menschen, die mit einer Erlösungshoffnung leben, von denen, die nichts mehr erwarten: Die Einsicht, daß wir uns nicht zur Ruhe setzen können, daß wir in dieser Welt, so wie sie ist, nicht wirklich zu Hause sind; die Einsicht, daß wir uns nicht zufrieden geben dürfen mit dem, was ist, sondern immer nach dem fragen, was Gott für unsere Welt will, wie er diese Welt gewollt hat und will.

Für uns Christen, die wir zwischen dem Schon und dem Noch-nicht der Erlösung leben, ist es besonders wichtig, diese lebendigen, lebensnahen Prophetentexte des Alten Testaments zu hören. Zu viele Christen haben die Erlösung, die Jesus Christus geschenkt hat, rein innerlich verstanden, vergeistigt. Es genügt ihnen, daß sie selbst - in ihrem Herzen - mit Gott im Reinen sind. Sie haben verlernt zu fragen wie es den Elenden und den Ärmsten unter den Menschen geht, denen Jesaja Freude und Fröhlichkeit verheißt.

Darum halten wir unermüdlich an solchen Heilsvisionen fest, weil sie uns herausreißen aus unserer ichbezogenen Selbstzufriedenheit und uns Ohren und Augen öffnen, wie Jesaja es verheißt: Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen. Wo die Bibel gelesen wird, da gehen den Menschen die Augen auf. Denn wer die Bibel liest, entlarvt dabei, ob er will oder nicht, die schönfärberische Bemäntelung der Wirklichkeit, die man uns allenthalben anbietet - und die wir uns oft viel zu bereitwillig selber umhängen. Im Unterschied zu den meisten religiösen Traditionen, Bräuchen und Anweisungen, die in der Regel darauf zielen, den Blick von der Wirklichkeit abzuwenden und die Augen fromm für eine innere Wirklichkeit zu schließen - im Unterschied dazu öffnet die Lektüre der Bibel gerade die - genüßlich oder gedankenlos - geschlossenen Augen für die Realitäten dieser Welt.

'Friede auf der Erde', 1896, Franz Hanfstaengl

Und dann haben wir nicht nur unser eigenes Seelenheil im Blick, sondern zunächst einmal die Ärmsten der Armen: Die Elenden - so schreibt Jesaja - werden wieder Freude haben am HERRN, und die Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen Israels.

Solche Worte halten auch in unserer Wohlfühl- und wellness-Gesellschaft den Blick dafür offen, mit was für geringen Renten beispielsweise manche unter uns leben müssen, daß die stagnierenden Renten und die steigenden Ölpreise auch Menschen unter uns schlaflose Nächte bereiten.

Wir halten an den Zukunftsvisionen des Jesaja fest, wir finden uns mit der Armut hier und viel krasser in so vielen anderen Regionen dieser Welt nicht ab. Daß die Bibel immer wieder den Blick auf die Armen richtet, das hat nicht nur in unserer noch immer halbwegs christlich geprägten Gesellschaftsordnung viel bewirkt, sondern auch in vielen anderen Teilen dieser Welt durch christliche Hilfswerke und den persönlichen Einsatz von Christinnen und Christen viel Not gelindert und Menschen neue Hoffnung gegeben.

Das nächste Thema Jesajas ist das der Gerechtigkeit und der Rechtsverdrehung. Die prophetischen Visionen erinnern uns immer wieder daran: Gerechtigkeit und Heil lassen sich im Alten Testament nicht voneinander lösen. Aber ebenso hat Jesus den Hunger und den Durst nach Gerechtigkeit in uns gelegt, nachdem er ihn selbst vorgelebt hat.

Jesus hat uns neu gelehrt, die Vollendung der Welt von Gott zu erwarten, das heißt als solche zu leben, die in dieser Welt schon von mehr als dieser Welt wissen. Er hat uns gelehrt zu beten: Dein Reich komme. Aber er hat uns mit seinem ganzen Lebenseinsatz gezeigt, daß das kein tatenloses Abwarten ist. Als Christen, die Gott ernst nehmen, werden wir die Vollendung der Welt von ihm erwarten.

Ja, solange wir Gott und das Leiden der Welt ernstnehmen, werden wir eine neue Welt der Gerechtigkeit erwarten.

Aber wie sollten wir wirklich mit Gottes zukünftiger Macht und Herrlichkeit rechnen, wenn wir nicht jetzt mit ihr rechnen und darum alles tun, um für mehr Gerechtigkeit in dieser Welt einzutreten?

Wo die Zeiger der Weltuhr stehen, wissen wir nicht, wo wir selbst stehen sollten in unserem Einsatz für eine gerechtere Welt, das könnten wir wissen.

Amen.

Die Photographie 'Market Place, Norwich', 2010, Adam Smith ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 2.0 Generic license.
Das Bild 'Friede auf der Erde', 1896, Franz Hanfstaengl, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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