Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Jer 20,7-13 Nichts darf vergöttlicht werden

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'The Temple of God in the Holy City'

'The Temple of God in the Holy City'

Oculi

Nichts darf vergöttlicht werden Jer 20,7-13

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2001

HERR, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und jedermann verlacht mich. Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden täglich. Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich wäre schier vergangen. Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.« Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Jer 20,7-13

Der Theologe Ernst Käsemann hat behauptet, dass der Gegensatz zu christlichem Glauben nicht Unglaube ist, sondern Aberglaube. Er schrieb: „der eigentliche Feind des Glaubens - und gleichzeitig die weit verbreiteste Religionsart - ist Aberglaube.“ Damit hat er nicht die üblichen Erscheinungsformen gemeint, die man unter dem Begriff Aberglaube versteht – wie z.B. die Vorstellung, dass ein Schornsteinfeger Glück bringt; oder dass Freitag der 13. Unglück bedeutet. Sondern er meinte etwas, was viel tiefgründiger ist.

Zum Beispiel: vielleicht ist es Ihnen aufgefallen, dass England in den letzten Monaten ziemlich geplagt war: Maul- und Klauenseuche, Überschwemmungen und dramatische Zugunglücke. Eine strenge, kalvinistische Glaubensgemeinschaft in Schottland – die sogenannte freie presbyterianische Kirche - hat eine Erklärung für diese Heimsuchungen gefunden. Die Erklärung lautet: die Königin besuchte im vergangenen Oktober Papst Johannes Paul II. Nach Auffassung dieser schottischen Kirche ist der Papst der Antichrist und die Königin habe durch ihren Vatikanbesuch eine Welle von Strafen über ihr Land gebracht. Hier sehen wir, wie Aberglaube aussieht. Aberglaube geht davon aus, dass Gott keine souveräne Freiheit hat, sondern an Regeln gebunden ist. Aberglaube bedeutet, dass ein Prinzip, eine Person oder ein Gegenstand vergöttlicht oder verteufelt werden. Ein Mensch, der dementsprechend eingeweiht ist, kann daraufhin bestimmen, ob Heil oder Unheil eintritt. Für die freie presbyterianische Kirche in Schottland ist der Papst die Verkörperung des Bösen. Wenn die Königin den Papst besucht, dann hat sie angeblich eine magische Grenze überschritten; sie hat ein Tabu verletzt. Gott hatte deshalb keine Wahl mehr: er musste ein ganzes Land bestrafen, um seine Missbilligung zum Ausdruck zu bringen - nach dieser abergläubischen Vorstellung.

Hier sehen wir, was Aberglaube ausmacht: Nämlich dass ein Weltbild entsteht, in dem die souveräne Freiheit Gottes nicht mehr vorkommt, sondern der Mensch kann angeblich Heil und Unheil bestimmen.

Es fällt uns Menschen schwer, die souveräne Freiheit Gottes zu akzeptieren. Es gab neulich ein entsetzliches Verbrechen in Eberswalde. In diesem Zusammenhang gab es eine Bildzeitungsüberschrift: „Wo warst du, Gott?“ Wenn diese Frage als Glaubensfrage oder als Gebet gemeint ist, dann ist nichts dagegen zu sagen. Aber diese Frage kann auch ein Ausdruck des Aberglaubens sein, wenn sie davon ausgeht, dass Gott verpflichtet ist, auf eine magische Weise unerträgliches Leiden zu verhindern. Aberglaube will Gott binden und kann seine Freiheit nicht akzeptieren. Es klingt hart, wenn man die Freiheit Gottes unter allen Umständen bezeugt - auch Angesichts eines grausamen Verbrechens - , aber nur ein Gott, der frei und souverän ist, kann uns zuletzt Trost bringen.

'Caïn et Abel', 2008, Vassil

Deshalb wird die souveräne Freiheit Gottes gleich am Anfang der Bibel bezeugt. Am Anfang der Bibel steht die Geschichte von Kain und Abel. Kain und Abel brachten Gott Brandopfer. Gott nahm das Brandopfer Abels an; das Brandopfer Kains nahm er nicht an. Ohne Erklärung. Einfach so, weil er Gott ist und absolut frei entscheiden darf, wen er gnädig annimmt und wen nicht. Jeder, der diese Geschichte liest, versucht unweigerlich, eine logische Erklärung dafür zu finden, dass Gott den Gottesdienst des Kain nicht annahm. Sogar im Neuen Testament wird behauptet, dass Kain böse und ungerecht war, und dass er deshalb von Gott abgelehnt wurde, oder es wird behauptet, dass das Opfer Abels besser war. Moderne Bibelausleger sehen in dieser Geschichte eine Bevorzugung des Tieropfers Abels; Kain hatte bloß Getreide geopfert, deshalb wurde er angeblich abgelehnt. Oder in dem Spielfilm „Die Bibel“ wird gezeigt, wie Kain habgierig etwas von dem Opfer, das für Gott vorgesehen war, zurücknimmt. Aber solche Erklärungsversuche verfälschen die biblische Botschaft. Die Kain-und-Abel-Geschichte will die Unbestechlichkeit Gottes bezeugen und will jede Form des Aberglaubens bekämpfen. Diese Geschichte bezeugt, dass Gott allein über Heil und Unheil verfügt. Der Mensch kann durch Opfergaben Gott nicht manipulieren oder bestechen, denn Gott ist absolut frei, seine Gnade zu schenken oder nicht zu schenken. Es gibt keine Erklärung dafür, dass Gott die Opfergabe Kains nicht annahm: das ist der springende Punkt.

In der Kirche bezeugen wir diese Wahrheit, indem wir in der Fastenzeit auf das Halleluja verzichten. Halleluja bedeutet: Lobe den Herrn. Erst ab Ostern erklingt das Halleluja wieder. Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass wir keine automatische Berechtigung haben, in die Anwesenheit Gottes zu treten um ihn zu loben oder anzubeten. Erst durch das, was am Karfreitag und an dem ersten Ostermorgen in Jesus vollzogen wurde, haben wir die Möglichkeit geschenkt bekommen, Gott loben zu dürfen. Gott ist nicht verpflichtet, unsere Anbetung anzunehmen. Das wäre Aberglaube. Sondern es ist ein Geschenk Gottes, dass wir ihn anbeten dürfen.

Aber der Mensch ist hoffnungslos abergläubisch. Seine Phantasie kennt keine Grenzen, wenn es darum geht, etwas zu vergöttlichen und über das Göttliche verfügen zu wollen. Denn auch das, was gut und heilig ist, kann zu einem Götzen werden. In dem Text, der für heute vorgesehen ist, wird geschildert, wie sehr Jeremia unter der Botschaft gelitten hatte, die er verkündigen sollte. Jeremia bekam die undankbare Aufgabe, das Volk vor einem möglichen Untergang zu warnen. Juda wurde von Babylon bedroht und Jeremia wurde beauftragt, zu verkündigen, dass die einzige Überlebungschance darin bestand, sich Babylon zu beugen. Aber seine Warnung wurde nicht ernst genommen und er galt als Verräter. Er wurde verspottet und bedroht, wie unser Text erläutert. Die Menschen damals konnten nicht glauben, dass Gott es jemals zulassen würde, dass seine heilige Stadt und sein heiliges Haus untergehen würden. Es entstand die abergläubische Vorstellung, dass der Tempel als Wohnort Gottes unter einem magischen Schutz stand. Der Tempel wurde also vergöttlicht. An einer Stelle parodierte Jeremia die falschen Propheten, indem er sagte: Verlasst euch nicht auf Lügenworte, wenn sie sagen: Hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel, hier ist des HERRN Tempel! Die falschen Propheten meinten: der Tempel wird uns vor jeder Katastrophe schützen, was Aberglaube war.

Aber das Undenkbare ist doch eingetreten. Im Jahre 587 wurde Jerusalem mit dem Tempel total zerstört und die Eliten des Volkes wurden in das babylonische Exil verschleppt. Dieses Ereignis gilt als „Karfreitag der Juden“; denn alles, was die Identität Israels als Volk Gottes ausmachte, wurde so gut wie ausgelöscht.

'The Flight of the Prisoners', c. 1896-1902, James Tissot

Aber dieser Untergang führte zu einem neuen, besseren Glaubensleben. Denn im babylonischen Exil hat Israel entdeckt, dass Gott größer ist, als sie vorher glaubten. Sie haben in Babylon entdeckt, dass ihre Gottesvorstellung viel zu klein war, sie entdeckten, dass die Herrschaft ihres Gottes nicht an der Grenze Israels oder an der Grenze zwischen Leben und Tod aufhört. In der Auseinandersetzung mit der babylonischen Religion konnten die Juden ihren Glauben mit einer größeren Ausdruckskraft neu definieren. In Babylon haben sie entdeckt, dass ihr scheinbar sinnloses Leiden doch einen Sinn hatte. Und in der babylonischen Gefangenschaft entstand die zweite Hälfte des Jesajabuches. Ohne diese zweite Hälfte des Jesajabuches wäre es unvorstellbar, wie die Christenheit hätte entstehen können. Gott hat in seiner souveränen Freiheit aus dem Nichts eine neue Schöpfung entstehen lassen. Und wie ist es heute? Auch wir Christen haben unsere abergläubischen Versuchungen. Die Menschen damals – zur Zeit Jeremias - machten aus dem Tempel einen Götzen. Unsere Versuchung besteht darin, dass wir aus dem Christentum einen Götzen machen könnten.

Als Dietrich Bonhoeffer 1944/45 im Gefängnis war, hat er über den Zustand des Christentums gegrübelt. Und er kam zu der Überzeugung, dass die westliche Gestalt des Christentums so gut wie erledigt war, weil sie nicht mehr in der Lage war, die Menschen anzusprechen, so wie sie jetzt geworden sind. Nach Einschätzung Bonhoeffers waren die Menschen weitgehend mündig und religionslos geworden. Er war davon überzeugt, dass das Christentum eine völlig neue Gestalt annehmen musste, um Christus unter einer mündigen, religionslosen Bevölkerung zu bezeugen. Diese neue Gestalt nannte er ein „religionsloses Christentum“. Es gibt Indizien, die dafür sprechen, dass er vielleicht teilweise recht hatte. Denken Sie daran, wie wenig Menschen einen Zugang zu unserem evangelischen Gottesdienst finden. Denken Sie daran, wie hilflos oder unmotiviert evangelische Christen sind, wenn es darum geht, Zeugen Christi am Arbeitsplatz oder in ihrem Wohnbereich zu sein. Evangelische Christen reden gern und viel über Missstände in ihrer Kirche, aber sie reden nicht gern über ihren Glauben. Eine Kirchengemeinde ist oft wie ein Verein, der weitgehend auf Mitgliederbetreuung ausgerichtet ist. Hat diese Art Kirchengemeinde eine langfristige Zukunft?

In dieser Situation müssen wir es auf jeden Fall vermeiden, die jetzige Gestalt des evangelischen Glaubens für etwas Göttliches zu halten. Die jetzige Gestalt der Kirche ist immer nur etwas Vorläufiges; Gott allein ist das Endgültige. Es ist denkbar, dass die jetzige Gestalt der Kirche vergehen muss, damit Christus lebendiger zur Geltung kommen kann.

Unsere Situation heute ist teilweise vergleichbar mit der Situation, die Jeremia kannte. Die Menschen damals mussten den Tempel, die heilige Stadt und das gelobte Land preisgeben, damit eine bessere Glaubensgestalt entstehen konnte. Das konnten viele nicht tun, weil sie dem Aberglauben verfallen waren. Vielleicht wird Gott die Gestalt unserer Kirche erhalten und erneuern, und vielleicht ist es der Wille Gottes, dass wir um die Erhaltung des Jetzigen kämpfen, aber vielleicht wird Gott die jetzige Gestalt der Kirche untergehen lassen. Gott wird in seiner souveränen Freiheit bestimmen, was geschehen sollte. Es ist unsere Aufgabe, seine Bestimmungsfreiheit anzuerkennen und ständig nach seinem Willen zu suchen.

In der Stadt Kobryn in der ehemaligen Sowjetunion gibt es eine Baptistengemeinde, die 1925 entstanden ist. Diese Gemeinde hatte nie einen offiziell erlaubten Versammlungsort. Aber im Jahre 1993 bekam diese Baptistengemeinde die Erlaubnis, eine Kirche zu bauen. Sie bekam außerdem die Erlaubnis, Baumaterial von einem ehemaligen Raketensilo zu nehmen; dazu gehörten auch Baracken. Sie demolierten also diese ehemalige militärische Anlage und machten dabei eine verblüffende Entdeckung. Als eine Backsteinmauer abgerissen wurde, kam ein Brief zum Vorschein, der 42 Jahre zuvor eingemauert worden war. In dem Brief war zu lesen: „Diese Backsteine stammten von polnisch orthodoxen und russisch orthodoxen Kirchen. Falls diese militärische Anlage jemals abgerissen wird, bitten wir darum, dass diese Steine verwendet werden, um neue Kirchen zu bauen.“ Unter Stalin wurden Kirchen abgerissen und deren Baumaterial verwendet, um Raketenstützpunkte zu bauen. Jetzt war das Umgekehrte eingetreten.

Und diese Begebenheit kann als Gleichnis für uns dienen. Es ist unsere Aufgabe, unseren Dienst in der Gemeinde treu auszuführen. Das, was wir jetzt mit Treue und Liebe erhalten und aufbauen, ist nicht umsonst, sondern unsere Traditionen und Einrichtungen sind die Bausteine der Kirche. Auch wenn es vielleicht eines Tages vorkommen sollte, dass die jetzige Gestalt der Kirche vergehen sollte, wird das, was jetzt vorhanden ist, als Rohstoff dienen für das, was künftig entstehen wird. Als die Juden nach Jerusalem zurückkehrten und die Mauer der Stadt neu aufbauten, haben sie in den Ruinen das Baumaterial gefunden, mit dem sie neu anfangen konnten. In diesem Sinne wird das, was wir jetzt bewahren, als Baumaterial dienen für das, was Gott mit uns vorhat.

Möge Gott uns von allem Aberglauben befreien, damit wir frei sind für die Zukunft, in die er uns hineinführen will.

Das Bild 'The Temple of God in the Holy City' gehört zum public domain, weil das copyright agbelaufen ist.
Das Glasfenster 'Caïn et Abel', 2008, Vassil (Vitrail de la Création, début du 16ème siècle, église de la Madeleine de Troyes. Les scènes illustrent le livre de la Genèse), wurde von ihrem Urheber zur uneingeschränkten Nutzung freigegeben. Diese Datei ist damit gemeinfrei („public domain“). Dies gilt weltweit.
Das Bild 'The Flight of the Prisoners', c. 1896-1902, James Tissot, ist im public domain, weil sein copyright agbelaufen ist.

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