Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 2. Kor. 12, 1 – 10 Die Stärke der Schwachheit

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Vorfastenzeit - Sexagesimae

Die Stärke der Schwachheit 2. Kor. 12, 1 – 10

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2000

'Der  Apostel Paulus', Stavronikita Monastery, Mount Athos, 1546 - Theophanes the Cretan

'Der Apostel Paulus', Stavronikita Monastery, Mount Athos, 1546 - Theophanes the Cretan

Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn. Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er im Leib gewesen? ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? ich weiß es auch nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel. Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -, der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann. Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit. Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört. Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche. Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark. 2. Kor. 12, 1 – 10

Es gibt eine Legende von einem Mann, der die Möglichkeit bekam, Gott aufzusuchen. Dieser Mann stand vor Gott und fragte ihn: „Was ist schwieriger, Mensch zu sein oder Gott zu sein?“

Gott erwiderte: „Gott zu sein ist schwieriger, denn ich muss mich um ein ganzes Universum kümmern; ich bin für Planeten und Galaxien zuständig. Du brauchst dich nur um deine Familie und deinen Beruf zu kümmern.“ Daraufhin sagte der Mann: „Zugegeben, aber du hast grenzenlose Zeit und allmächtige Kraft. Ein Mensch muss sich mit den Begrenzungen abfinden, die ihm auferlegt sind - begrenzte Kraft und eine begrenzte Lebensspanne. Das ist viel schwieriger als Gott sein.“

Gott erwiderte: „Aber du weißt nicht, wovon du redest. Es ist viel schwieriger, Gott zu sein.“ Der Mann sagte: „Ich weiß nicht, warum du so sicher bist, denn du bist nie Mensch gewesen und ich bin nie Gott gewesen. Wie wäre es, wenn wir für eine Sekunde die Rollen tauschen, damit du einmal erleben könntest, wie es ist, Mensch zu sein, und damit ich wissen könnte, wie es ist, Gott zu sein.“

Gott wollte sich auf diesen Vorschlag nicht einlassen, aber der Mann hörte nicht auf, zu bitten und zu betteln. Also gab Gott nach. Die Rollen wurden getauscht. Der Mensch wurde Gott und Gott wurde Mensch.

Und nach dieser Legende hat der Mann, der Gott wurde, sich geweigert, den göttlichen Thron preiszugeben. Er weigerte sich, die Rollen zurück zu tauschen. Und seitdem regiert der Mensch die Welt, und Gott ist seitdem im Exil.

Diese Legende veranschaulicht eine biblische Wahrheit. Nämlich: es steckt in uns Menschen eine Weigerungshaltung: es handelt sich um eine Weigerung, die Begrenztheiten anzunehmen, die uns auferlegt sind: begrenzte Kraft und begrenzte Zeit. Der überfüllte Terminkalender bezeugt diese Weigerung. Der Mensch drängt danach, die Rollen mit Gott zu tauschen; er will die totale Selbstbestimmung, so als ob er Gott wäre, und er drängt Gott dabei an den Rand.

'Charlie Watts', 2007, Bel9ev

Vielleicht haben Sie von der Rockgruppe „The Rolling Stones“ gehört. Charles Watts, der Schlagzeuger der Gruppe, sagte einmal: „Ich bin gegen jegliche Form des organisierten Denkens. Ich bin gegen organisierte Religion wie die Kirche. Ich sehe nicht ein, dass es möglich sein soll, 10.000.000 Menschen so zu organisieren, dass sie alle eine Sache glauben.“

Dieser Rockmusiker bringt eine weitverbreitete Meinung zum Ausdruck: sich einer organisierten Religion anzupassen gilt als Schwäche, als Zeichen der Denkfaulheit, als Zeichen, dass man nicht richtig tickt. Nach dieser Einstellung müsste ein normal denkender Mensch in der Lage sein, seinen Glauben selber zu definieren – ohne auf Dinge wie Kirche angewiesen zu sein. Diese Einstellung lautet: „Ich bestimme, was ich unter dem Begriff „Gott“ verstehe, ich bestimme, auf welche Weise ich Gott anbete – wenn überhaupt. Dazu brauche ich keine Institution Kirche.“

Aber wer so denkt, hat einen Rollentausch vollzogen: der Mensch ist Gott geworden, und Gott ist im Exil.

In dem Text aus dem 2. Korintherbrief, der für heute vorgesehen ist, führt uns Paulus vor, wie der Mensch seine Rolle vor Gott findet. Zuerst weist er vor, dass er auf irgendeine organisierte Religion eigentlich nicht angewiesen wäre. Denn er hatte eine ekstatische Vision. Er wurde in den Himmel entrückt und durfte die Herrlichkeit Gottes sehen. Nach jüdischer Tradition gab es nur vier Menschen, die das erleben durften, was Paulus hier berichtet. Nach dieser Tradition sind vier Rabbiner in das Paradies entrückt worden und sie durften Gott sehen, wie er ist. Einer, der Ben Azai hieß, ist sofort gestorben. Rabbi Ben Soma wurde danach wahnsinnig. Rabbi Elischa ben Avuyah wurde ein Ketzer, ein Feind Gottes, der versuchte, den Glauben zu zerstören, indem er den Sabbat bewusst übertreten hatte. Nur Rabbi Akiba stieg in Frieden zu Gott auf und in Frieden wieder herab. Nun ist es auch Paulus gegeben worden, die himmlische Herrlichkeit Gottes zu erleben und trotzdem am Leben und bei Verstand zu bleiben. Wenn es jemand gibt, der auf sogenannte organisierte Religion verzichten könnte, dann wäre es Paulus.

'L'Extase de saint Paul', 2005, Johann

Und es gibt einen Punkt, bei dem er seine Grenzen überspringen will: er hat nämlich ein Leiden, ein „Pfahl ins Fleisch“, wie er es nennt. Was dieses Leiden war, lässt sich nicht eindeutig sagen. Bibelausleger haben eine Reihe von Vermutungen gehabt, für die es auch Indizien gibt: vielleicht war es Epilepsie, vielleicht ein Augenleiden, vielleicht unerträgliche Migräne, vielleicht ein Sprachfehler, vielleicht eine Triebhaftigkeit, die er nicht beherrschen konnte. Er hat dreimal zu Gott gefleht, dieses Leiden zu entfernen, aber er bekam als Antwort: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Paulus sollte sich also Gott fügen, indem er sein Leiden annimmt, damit er sich nicht überhebt.

Aber was heißt das konkret? Es heißt konkret: man erfindet nicht seine eigene Religion – so als ob man eine Gottheit wäre – sondern man unterstellt sich freiwillig einer vorgegebenen Überlieferung. Es heißt konkret, dass man sich dafür entscheidet, sich einer Glaubenstradition unterzuordnen, damit man sich Gott unterordnen kann. Alles andere wäre Selbsttäuschung.

Und Paulus unterstellte sich gleichzeitig zwei Glaubensüberlieferungen: Judentum und Christentum. Er blieb der Torah des Judentums treu, und er hielt sich mit wortwörtlicher Treue an die überlieferte Form des Evangeliums. Paulus betonte mehrmals, dass er eigentlich frei war von jeglicher Gesetzlichkeit einer Glaubenstradition. „Alles ist erlaubt“ schrieb er. Das galt besonders für ihn. Wenn es jemand gab, der seine eigene Religion hätte erfinden können, dann Paulus. Aber damit er sich nicht überhebt, ist ihm ein Pfahl ins Fleisch gegeben worden, damit er seine menschliche Schwachheit nicht vergisst; damit er nicht vergisst, dass er total auf die Gnade Gottes angewiesen ist.

Deswegen brauchen wir zum Beispiel die gottesdienstlichen Traditionen, die uns überliefert sind. Denn sie verkünden uns die Gnade Gottes. Ich kann mir nicht selber die Vergebung Gottes zusprechen; diese Gnade muss mir zugesprochen werden. Ich kann mir selber Gott nicht herbeiführen; ich bin darauf angewiesen, dass Gott selber entscheidet, wie er mich aufsucht. Und Gott hat sich dafür entschieden, uns in dem Evangelium, in dem Taufwasser und in Brot und Kelch aufzusuchen. Indem ich mich in dieser Tradition füge, füge ich mich Gott.

Aber die gottesdienstliche Tradition ist nur der Ausgangspunkt. Sich unter der Gnade Gottes fügen muss auch im Alltag fortgesetzt werden.

'Zulu men eating - Native types of Africa', zwischen 1920 und 1930, Frank and Frances Carpenter

Es gibt einen Bericht aus Afrika, der uns helfen kann, zu begreifen, was von uns gefordert ist. In dem Zulu-Stamm hat die Frau eines Häuptlings ohne die Erlaubnis ihres Mannes eine christliche Gemeinde besucht und wurde im Laufe der Zeit Christin. Als der Zulu-Häuptling das erfuhr, schlug er seine Frau zusammen, bis sie bewusstlos wurde. Später kehrte er zu der Stelle zurück, wo er sie liegen gelassen hatte. Sie lag immer noch da: zu schwach, um sich zu bewegen, aber wieder bei Bewusstsein. Der Mann fragte sie spöttisch: „Was wird dein Jesus Christus für dich jetzt tun können?“ In einer solchen Situation gibt es nur eine Möglichkeit, wie ein Christusanhänger reagieren kann. Diese Frau erwiderte sanft: „Er hilft mir, dir zu vergeben!“

Dieser Moment veranschaulicht, wie Christsein in einer Welt funktioniert, in der die Menschen sich auf den Thron Gottes setzen und Gott unter den Angeschlagenen wohnt. Scheinbar ist Hass stärker als Liebe. Scheinbar ist Rache stärker als Vergebung. Scheinbar ist rohe Gewalt stärker als Verwundbarkeit. Und scheinbar sind bösartige Menschen stärker als Gott. Aber diese Frau, die ohnmächtig am Boden lag, verkörperte die ganze Allmacht Gottes, als sie von Vergebung sprach. In diesem Moment fügte sie sich in eine feste Glaubenstradition. Sie reagierte, wie Tausende von verfolgten Christen vor ihr reagiert hatten. Sie erlebte in diesem Moment dieselbe Stimme, die Paulus hörte, die sprach: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Für uns als Gemeinde bedeutet diese Botschaft, dass wir nicht unter Erfolgszwang stehen. Als Gemeinde erleben wir öfters, dass wir es nicht schaffen, die Ziele zu erreichen, die wir uns vornehmen. Es wird der Kirche immer wieder vorgehalten, dass sie eine Niederlage nach der anderen einstecken muss.

In einer solchen Situation besteht die Gefahr, dass wir versuchen, Stärke vorzuspielen, dass wir so tun, als ob die Fehler alle bei den anderen liegen. Aber in der Christenheit darf man schwach sein.

In einer Welt, die erfolgssüchtig ist, und in der die Menschen sich auf den Thron Gottes setzen, stehen wir als Anhänger Jesu Christi nicht unter Erfolgszwang, sondern wir dürfen – wie Paulus – die Worte vernehmen: „Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“

Schwäche soll deshalb nicht überspielt werden, sondern was unsere Schwächen und Fehler betrifft, sollen wir sie in Offenheit annehmen. Denn nur so wird die Gnade Gottes unter uns zur Geltung kommen.

Das Kunstwerk 'Der Apostel Paulus', Stavronikita Monastery, Mount Athos, 1546 - Theophanes the Cretan, ist im public domain lizensiert, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Gemälde 'L'Extase de saint Paul', 2005, Johann, ist im public domain lizensiert, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie'Charlie Watts', 2007, Bel9ev, ist im public domain lizensiert, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Photographie 'Zulu men eating - Native types of Africa', zwischen 1920 und 1930, Frank and Frances Carpenter, ist im public domain, weil es keine bekannten Restriktionen auf die Photographien in der Frank and Frances Carpenter Collection gibt.

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