Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 3, 1 – 14 Adventstrubel kann sogar heilsam sein

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3. Sonnntag im Advent

Adventstrubel kann sogar heilsam sein Lukas 3, 1 – 14

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2004

'Arizona, Painted Desert', 2008, PSch

Im fünfzehnten Jahr der Herrschaft des Kaisers Tiberius, als Pontius Pilatus Statthalter in Judäa war und Herodes Landesfürst von Galiläa und sein Bruder Philippus Landesfürst von Ituräa und der Landschaft Trachonitis und Lysanias Landesfürst von Abilene, als Hannas und Kaiphas Hohepriester waren, da geschah das Wort Gottes zu Johannes, dem Sohn des Zacharias, in der Wüste. Und er kam in die ganze Gegend um den Jordan und predigte die Taufe der Buße zur Vergebung der Sünden, wie geschrieben steht im Buch der Reden des Propheten Jesaja (Jesaja 40,3-5): »Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: Bereitet den Weg des Herrn und macht seine Steige eben! Alle Täler sollen erhöht werden, und alle Berge und Hügel sollen erniedrigt werden; und was krumm ist, soll gerade werden, und was uneben ist, soll ebener Weg werden. Und alle Menschen werden den Heiland Gottes sehen.« Lukas 3, 1 – 14

Es gibt Leute, die nie loslassen können; sie müssen den ganzen Tag mit nützlicher Tätigkeit ausfüllen. Sie können nicht aussteigen, auch wenn sie längst das Ruhestandsalter erreicht haben. Zum Beispiel: am 24. März 1816 gab es einen methodistischen Prediger mit dem Namen Francis Asbury, der mit 71 Jahren seine letzte Predigt hielt. Dieser Prediger ist der Inbegriff eines Menschen, der einfach nicht loslassen kann. Denn er war zu schwach, um seine letzte Predigt stehend oder sitzend zu halten; als er diese Predigt hielt, lag er flach auf einem Tisch. Und seine Predigt dauerte eine volle Stunde.

Seine Haltung hier ist alles andere als vorbildlich. Mit seinem Nicht-Loslassen-Können hat er den biblischen Glauben geleugnet. Denn biblischer Glaube fängt damit an, dass ein Mensch seine Alltagswelt loslässt, besonders die Arbeitswelt. Der Glaube beginnt mit Nichts-Tun, mit Ausstieg, mit Weltabstand.

Diese Wahrheit gilt bis heute, auch für unsere scheinbar unkirchliche Bevölkerung. Denn wenn Menschen in Urlaub fahren oder in eine Kur, entdecken sie auf einmal ihre religiösen Fragen. Zum Beispiel ist festgestellt worden, dass das kirchliche Leben auf den Nordsee-Inseln während der Urlaubszeiten blüht. Die Kirchen sind sonntags voll. Und an den Werktagen werden die Andachten und Vorträge nicht nur gut besucht, sondern die Feriengäste lassen sich dabei auf lange und intensive Glaubensgespräche ein. Der Theologe Klaus Berger kennt dieses Phänomen und schreibt folgendes dazu:

Man kann nicht sagen, dass die Feriengäste nichts täten oder bewegungslos dasäßen. Aber sie leben anders, in Gemeinschaft mit Meer und Wolken, Sand und Wind. Sie leben, wie die Vorfahren lange gelebt haben, nahe an der Erde und unter dem Himmel. Und dann haben sie plötzlich Sinn für „Religion“. Dann können sie die alten Texte der Bibel und ihr eigenes Herz viel leichter zusammenbringen: Dann sind Gebet und Gott kein Problem mehr.“

Dieser Theologe spricht das Thema an, dass unser Lukastext verkündet. Johannes der Täufer hat die Menschen in die Wüste gelockt. Denn es heißt: „Es ist eine Stimme eines Predigers in der Wüste: „Bereitet den Weg des Herrn“ Ursprünglich hieß es: „In der Wüste bereitet dem Herrn den Weg“. Auffallend ist hier, was Johannes nicht tut. Er geht nicht in die Städte und Dörfer; er sucht die Menschen nicht dort auf, wo sie wohnen und arbeiten. Sondern er geht in die Wüste und wartet darauf, dass die Menschen aus ihrem Alltag aussteigen und zu ihm pilgern. Denn wenn es um die Begegnung mit Gott geht, spielt es offenbar eine Rolle, wo wir uns befinden. Um Gott zu begegnen, muss man zuerst die Alltagswelt loslassen.

Ich habe selber erlebt, wie die Wüste auf die menschliche Seele wirken kann. Als ich 20 Jahre alt war, bekam ich die Gelegenheit, etwa 6 Monate lang in einer Wüstengegend zu leben. Und in der Wüste, wo man unendlich weit sehen kann, kommt man auf ganz andere Gedanken als sonst. Die üblichen Ablenkungen und Zerstreuungen der Zivilisation fallen weg. In der Wüste ist es, als ob man nackt vor Gott steht; und diese Erfahrung ist heilsam, sogar heilsnotwendig. Man wird gezwungen, genau zu überlegen, was man glaubt und warum man es glaubt. Und der Mensch lernt in der Wüste, dass er total auf die Zuwendung Gottes angewiesen ist, dass es absolut keine Hoffnung gibt, außer der gnädigen Zuwendung Gottes. Mit anderen Worten: wenn die normalen Zerstreuungen des Alltags wegfallen, erlebt man die Wüste, die in der eigenen Seele vorkommt. Und das ist gut so.

'Weihnachtsmarkt in Frankfurt am Main', 2009, PSch

Dementsprechend ist es auffallend, dass die drei großen monotheistischen Weltreligionen – d. h. die drei Weltreligionen, die an einen einzigen Gott glauben, Judentum, Christentum, Islam – in der Wüste ihren Ursprung hatten.

Diese Wahrheit wurde zuerst an dem Volk Israel offenbart. Denn während der Wüstenwanderung Israels wurde die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk grundsätzlich geklärt: da hat Israel gelernt, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern von den Worten, die aus dem Munde Gottes kommen.

Und Jesus leitete seine öffentliche Wirkung ein, indem er zuallererst in die Wüste ging, um seine Beziehung zu Gott, Teufel und Welt eindeutig zu klären. Und Johannes der Täufer, der Vorläufer Jesu, bereitete die Menschen auf den kommenden Messias vor, indem er in der Wüste predigte.

Die Wüste ist in der Bibel der Ort der Begegnung mit Gott und des neuen Anfangs. Wie Gott durch den Propheten Hosea spricht: „Ich will sie (Israel) locken und will sie in die Wüste führen und freundlich mit ihr reden ... dorthin will sie willig folgen wie zur Zeit ihrer Jugend, als sie aus Ägyptenland zog.“

Auch Martin Luther, der keine Wüste kannte – im erdkundlichen Sinne - wusste, dass der Mensch die Wüste braucht. Denn er schrieb: „Es wird niemand gelehrt mit viel Lesen und Denken. Es ist eine höhere Schule, wo man Gottes Wort lernt. Man muss in die Wüste kommen. Dann kommt Christus und der Mensch wird so, dass er die ganze Welt richten kann.“ Es ist klar, dass Luther uns hier nicht dazu auffordern will, eine Urlaubsreise in die Sahara zu buchen. Er meint „Wüste“ in einem übertragenen Sinne.

Und das bringt uns zu der Adventszeit. In früheren Zeiten war die Adventszeit ein Gang in die Wüste, denn früher war die Adventszeit eine strenge Fastenzeit. Der Mensch sollte auf bestimmte Genüsse verzichten und erlebte auf diese Weise eine Art Wüste. Fasten bedeutete, auf bestimmte Leckerbissen zu verzichten, wie z. B. Fleisch, Eier und Gebäck; auf diese Weise konnte der Mensch die Wüste in der eigenen Seele wahrnehmen. Durch Fasten konnte man sich auf eine erneute Begegnung mit Gott vorbereiten.

'Weihnachtsmarkt in Frankfurt am Main', 2009, PSch

Wie wir alle wissen, ist uns die Adventszeit als Fastenzeit verloren gegangen. Aber trotzdem: auch in ihrer heutigen Gestalt hat die Adventszeit eine ähnliche Wirkung wie die Wüste. Denn in der Adventszeit stehen wir der Schöpfung ein Stück näher als sonst: die früh einsetzende Dunkelheit, Frost und Schnee, Tannen und Kiefernzweige in den Wohnungen, die klare Luft, die uns erlaubt, auch in einer Großstadt mehr Sterne als sonst zu sehen, die Flammen der Kerzen und die unzähligen Lichterketten in der Dunkelheit – das alles zieht uns aus dem normalen Alltag heraus und führt uns in einen Ausnahmezustand hinein. Und das braucht ein Mensch, damit er seine Beziehung zu Gott neu klären kann.

Es gibt einen Theologen mit dem Namen Matthias Morgenroth, der ein Buch mit dem Titel „Heiligabend Religion“ schrieb. Und er bejaht Weihnachten in seiner jetzigen Gestalt – auch wenn es klar ist, dass vieles mit diesem Fest nicht stimmt, denn besonders dieses Fest bietet den Menschen eine Auszeit an, bei der sie Abstand bekommen vom Alltag. Er schreibt folgendes:

Feste sind Auszeiten, in denen Menschen sich auf das besinnen, was ihnen wichtig ist, was ihre Kultur ausmacht, was ihnen heilig ist. In unzähligen Symbolen, Reden, Geschichten und Liedern. Und gleichzeitig zeigen sie auch, dass der Alltag nicht alles ist. Dass die alternde Welt nicht die einzige ist ... Dazu braucht es den Ausstieg aus der Alltagszeit, um es leibhaft zu erfahren. Dazu braucht es Feste, Abstand, Welt-Abstand ... Welt-Abstand heißt: Menschen werden von Zeit zu Zeit selbstbezüglich, sie treten heraus aus der Welt, in der sie leben und schauen sie sich an. Sie erleben ihre Freiheit. Sie besinnen sich aufs Ganze. Auf das Leben ... Sie können Lebensmuster erkennen, Lebensfragen und Sinnzusammenhänge ... Dann stellen sie religiöse Fragen. Dann suchen sie religiöse Antworten.

Und deswegen sind die Kirchen seiner Meinung nach voll am Heiligabend. Deswegen sind die Kirchen voll, wenn das Weihnachtsoratorium aufgeführt wird. Diese überladene Weihnachtsfestzeit, die schon im November anfängt, hat also etwas Gutes, sogar Heilsames, und sogar Heilsnotwendiges. Diese Festzeit führt uns – ob wir es wollen oder nicht – aus dem Alltag heraus. Und wenn Menschen ihren Alltag loslassen, kommen auf einmal die Glaubensfragen hoch, die sonst verdrängt bleiben.

Als Christenheit müssen wir diese Advents- und Weihnachtszeit nicht griesgrämig verurteilen. Wir sollen auch kein schlechtes Gewissen haben, wenn wir die Adventszeit nicht mehr als Fastenzeit einhalten. Denn Glühwein und Lebkuchen, der Weihnachtstrubel und die Tausende von Lichterketten haben auch eine seelische Wirkung, die heilsam ist. Denn wenn die Menschen ihre Alltagswelt loslassen - egal aus welchem Grund - besteht die Möglichkeit, dass sie die Wüste in der eigenen Seele erleben und offen werden für eine Begegnung mit Gott. Amen.

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