Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Matthäus 11, 2 – 10 Wie Gott Gefangene befreit

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'Ausschnitt aus der Bilderreihe Legend des 4. Königes', Walter Habdank. © Galerie Habdank

3. Sonnntag im Advent

Wie Gott Gefangene befreit Matthäus 11, 2 – 10

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2002

Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen: Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen andern warten? Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert. Matthäus 11, 2 – 10

Im Jahre 997 hieß der König von Norwegen Olaf Tryggvason. Dieser König schickte einen Missionar nach Island, einen Priester aus Sachsen mit dem Namen Thangbrand. Er sollte in Island das Evangelium predigen. Dieser Missionar war nicht zimperlich in seinen Methoden. Es gibt ein Dokument, das seine missionarische Tätigkeit beschreibt. Da steht folgendes:
„Im folgenden Frühling machte sich Thangbrand mit seinen Begleitern auf dem Weg, um das Christentum zu predigen. Als sie nach Staffel kamen, lernten sie einen Mann kennen, der dort lebte, der Thorkell hieß. Thorkell sprach sich gegen den Glauben aus und forderte Thangbrand zu einem Einzelkampf auf. Tangbrand kämpfte mit ihm und trug dabei ein Kruzifix vor seinem Schild. Er gewann den Kampf und tötete Thorkell. Dann zogen sie fort und kamen bis Hornirth, wo sie mit Hilldir dem Alten wohnten; er und sein Haushalt nahmen den neuen Glauben an. Danach reisten sie nach Dyrholms und beriefen eine Versammlung, um den Glauben zu predigen, und Ingialld wurde Christ. Sie zogen weiter bis Fleetlithe und predigten auch dort den Glauben, aber Weatherlid der Dichter und sein Sohn Ari sprachen sich gegen den Glauben aus, und deshalb schlugen sie Weatherlid tot.“

Für uns Christen heute ist ein solcher Missionsbericht peinlich. Denn Vertreter Christi, die Menschen umbringen, weil sie sich gegen den christlichen Glauben aussprechen, sind Verräter des Glaubens. Es ist für uns völlig ausgeschlossen, dass dieser Thangbrand im Sinne Jesu Christi gehandelt hatte. Im Gegenteil: es ist eindeutig, dass sein Verhalten eine Verleugnung Jesu Christi darstellt.

Aber es ist gut möglich, dass Johannes der Täufer gehofft hatte, dass Jesus genauso auftreten würde, wie dieser Missionar in Island. Denn Johannes wurde verhaftet und saß im Gefängnis. Er saß im Gefängnis weil er König Herodes getadelt hatte wegen seines Ehebruchs. Und Im Gefängnis bekam Johannes offenbar Zweifel, ob Jesus wirklich der Messias wäre. Denn eine Erwartung, die es damals gab, war, dass der Messias die Gefangenen freisetzen sollte, besonders die Gefangenen, die zu Unrecht verhaftet worden waren. Aber Jesus war scheinbar nicht daran interessiert, Johannes zu befreien. Denn um Johannes zu befreien, hätte er einen bewaffneten Überfall organisieren und dabei einige Wächter umbringen müssen.

Der Anhaltspunkt für die Erwartungen des Johannes sind in dem Propheten Jesaja zu finden. Da gibt es einige Stellen, die beschreiben, was der Messias in der Endzeit vollbringen sollte. Zum Beispiel in Jesaja 35 heißt es:

Saget den verzagten Herzen: »Seid getrost, fürchtet euch nicht! Seht, da ist euer Gott! Er kommt zur Rache; Gott, der da vergilt, kommt und wird euch helfen.« Dann werden die Augen der Blinden aufgetan und die Ohren der Tauben geöffnet werden. Dann werden die Lahmen springen wie ein Hirsch, und die Zunge der Stummen wird frohlocken.

Und in Jesaja 61 heißt es:

Der Geist Gottes des HERRN ist auf mir, weil der HERR mich gesalbt hat. Er hat mich gesandt, den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, dass sie frei und ledig sein sollen; zu verkündigen ein gnädiges Jahr des HERRN und einen Tag der Vergeltung unsres Gottes.

Jesus greift diese Erwartungen aus dem Propheten Jesaja teilweise auf: denn seine Antwort lautet: Geht hin und sagt Johannes wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und Armen wird das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.

Auffallend ist hier, was Jesus nicht erwähnt: er hat bis jetzt keine Gefangenenbefreiung durchgesetzt und er hat offenbar nicht vor, die Vergeltung und Rache auszuführen, die Jesaja angekündigt hatte. Und deshalb lautet die Schlussbemerkung Jesu: „Selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.“

Das Ärgernis für Johannes ist, dass er als Gefangener sterben wird. Und er wird sterben, ohne die Rache und Vergeltung zu sehen, die er selber gepredigt und erwartet hatte.

Und dieses Ärgernis gibt es bis heute. Die vielen Gefangenen, die aus politischen und religiösen Gründen in Gefängnissen sitzen, bleiben gefangen und leiden unter der Ungerechtigkeit ihrer Situation. Sie warten vergeblich auf die Vergeltung, die ihnen zusteht.

Und es ergibt sich die Frage: kann Jesus der Messias sein, wenn es so viele Gefangenen gibt, die zu Unrecht verhaftet wurden und misshandelt werden? Das Judentum glaubt bis heute nicht, dass Jesus der Messias war, denn es gibt noch zu viel Ungerechtigkeit auf dieser Welt. Der Messias sollte Gerechtigkeit verwirklichen und zwar so, dass alle Welt diese Gerechtigkeit sieht und anerkennt.

Aber die Gerechtigkeit, die Gott mit dieser Welt vorhat, ist dadurch gekennzeichnet, dass sie unauffällig anfängt.

Zum Beispiel: in China sind Christen verhaftet und misshandelt worden, besonders während der sogenannten Kulturrevolution in den 60er und 70er Jahren. Eine Christin – mit Namen Chen – wurde verhaftet und gefoltert. Sie wurde anschließend in eine Zelle mit zwei verhärteten kriminellen Frauen zusammen geworfen. Diese zwei Frauen zeigten nur Verachtung für die Christin. In der Nacht konnte sie nicht schlafen, denn ihre zwei Mitgefangenen haben gestöhnt und geweint, weil sie Todesängste hatten. Chen hatte Mitleid mit diesen zwei Frauen und betete für sie. Danach fastete sie und gab ihre Mahlzeiten weiter an diese zwei Frauen. Die zwei konnten nicht verstehen, warum die Christin so etwas tut, aber sie nahmen die zusätzliche Speise ohne Zögerung an. Nach einer Weile wurde die Atmosphäre in dieser Zelle anders. Die zwei Frauen waren tief gerührt, dass jemand so viel Zuneigung zeigt, ohne eine Gegenleistung zu erwarten. Schließlich erfuhren sie von dem Glauben der Christin und nahmen ihren Glauben an, obwohl sie wussten, dass sie damit eine Todesstrafe riskierten. Die zwei kriminellen Frauen waren danach so auffallend anders geworden, dass sie frühzeitig entlassen wurden. Heute sind beide Frauen aktive Mitarbeiterinnen in einer christlichen Gemeinde.

Diese Begebenheit zeigt, wie Jesus Gefangene befreit: nicht mit Gewalt, sondern durch das Zeugnis einer bedingungslosen Liebe, die eine Verwandlung des Herzens bewirkt.

'Ausschnitt aus der Bilderreihe Legend des 4. Königes', Walter Habdank. © Galerie Habdank

Einmal trafen sich zwei Juden, die zusammen in einem Konzentrationslager waren. Der eine fragte den anderen: „Hast du den Nazis vergeben?“ Der antwortete: „Ja“. Der Fragesteller sagte daraufhin: „Aber ich nicht. Ich bin immer noch voller Hass.“ Der Freund erwiderte: „Dann haben sie dich immer noch im Gefängnis.“ Auch hier wird deutlich, welche Art Gefangenenbefreiung Jesus einleitete: sie beginnt mit Gnade und Vergebung.

Wie gesagt: diese Art Gerechtigkeit sieht unauffällig aus und spielt sich weitgehend im Verborgenen ab. Aber zuletzt soll diese Art Gerechtigkeit die ganze Welt erfassen und verwandeln. Denn erst am Ende der Welt wird erkennbar, welche Art Gerechtigkeit ausschlaggebend ist: nicht die Gerechtigkeit, die aus Vergeltung und Rache besteht, sondern die Gerechtigkeit Gottes, die aus Gnade besteht.

Erst am Ende der Zeit wird erkennbar, wie Gott seine Schöpfung durch Gnade und Barmherzigkeit vollendet hat. Wir sind alle noch am Werden. Wir sind noch nicht das, was wir sein werden. Und deshalb soll niemand jetzt verurteilt werden, denn wie es im Neuen Testament wortwörtlich heißt: „es ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden.“

Und deswegen ist Christsein ein Warten und deswegen gibt es auch eine Adventszeit im Kirchenjahr, um uns daran zu erinnern, dass wir auf etwas warten. Wir sind noch in der Nachtzeit dieser Welt und warten auf den kommenden Tag. Wir warten auf die Wiederkunft Christi in Macht und Herrlichkeit.

Und diese Dimension des Glaubens kommt bei uns zu kurz. Denn unsere Bevölkerung kann nicht warten. Sie kann nicht einmal auf Weihnachten warten, sondern überspringt die Adventszeit und fängt an, so früh wie möglich das Konsumerlebnis Weihnachten zu genießen. Und unsere Welt hat keine Geduld mit Menschen, die nicht sofort etwas bringen, denn sofortige Funktionstauglichkeit wird verlangt. Es gibt keine Geduld mit Versagern. Wer nicht jederzeit moralisch und leistungsmäßig einwandfrei ist, wird angegriffen. Das gilt besonders für die Kirche. Gerade die heftige Reaktion neulich auf die Bereitschaft der evangelischen Kirche, homosexuelle Paare zu segnen, hat gezeigt, dass es Menschen gibt, die eine vollendete Kirche verlangen, eine Kirche, die unangreifbar ist. Dass die Kirche im Werden ist und das sie auf das Vollendete noch warten muss, haben wenige Menschen im Blick. Aber für die Christenheit liegt das Wesentliche noch vor uns.

Wir müssen als Gemeinde also aufpassen, dass wir nicht die Geduld miteinander, mit der Gemeinde und mit der Kirche verlieren. Manchmal sind wir Christen wie Johannes der Täufer: wir wollen vollendete Ergebnisse sehen und bekommen nur bruchstückhafte Zeichen, die auf eine künftige Wirklichkeit hinweisen. Und was Johannes von Jesus mitgeteilt bekam, gilt auch für uns: selig ist, wer sich nicht daran ärgert, dass Jesus die unendliche Geduld Gottes verkörpert und diese Art Geduld von seinen Anhängern fordert. Wie es in dem Römerbrief heißt: Wenn wir aber auf das hoffen, was wir nicht sehen, so warten wir darauf in Geduld. Und wie es im Hebräerbrief heißt: Geduld aber habt ihr nötig, damit ihr den Willen Gottes tut und das Verheißene empfangt. Möge Gott uns helfen, dass wir in Geduld warten. Amen.

Das Kunstwerk 'Last Angel', Nicholas Roerich, 1942 und dessen Reproduktion gehören weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.

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