Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Hosianna - Die Sehnsucht des Herzens nach Gott

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'The Procession in the Streets of Jerusalem', between 1886 and 1894, James Joseph Jacques Tissot

1. Sonnntag im Advent

Hosianna - Die Sehnsucht des Herzens nach Gott

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2008

Am ersten Advent erklingt das Wort Hosianna mehrmals: in Lesungen und in Liedern. Hosianna bedeutet wortwörtlich: „Hilf doch!“ Hosianna ist ein Schrei nach Erlösung. Und wenn es heißt „Hosianna in der Höhe“ so ist das eine Aufforderung an die Engel im Himmel, mit den Menschen zu schreien: Die Engel sollen den Menschen bei ihrem Verlangen nach Erlösung helfen, indem sie mitflehen. Hosianna ist ein Ruf der Verzweiflung. Er wird von Menschen gerufen, die wissen, wie erlösungsbedürftig sie sind.

Man könnte deshalb die Menschheit in zwei Kategorien einteilen: Menschen, die Hosianna rufen, und Menschen, die nicht Hosianna rufen.

Zu der zweiten Kategorie gehören z. B. junge Menschen in Schweden, die bei einer Umfrage mitgewirkt haben. Im Jahre 1979 gab es eine Befragung zum Thema, was das Leben sinnvoll macht.

  • 87% meinten, dass eine gute Arbeitsstelle dem Leben Sinn geben würde.
  • 85% meinten, dass ein guter Ehepartner zu einem sinnvollen Leben gehört.
  • 84% meinten, dass durch Sport und Freizeitbeschäftigungen das Leben Sinn bekommt.

Auffallend waren die Ergebnisse, die bei 15% der Befragten zum Vorschein kamen.

  • 15% meinten, dass Lesen in der Bibel und Gebet einem helfen könnte, Sinn im Leben zu finden.
  • Aber 15% meinten auch, dass Alkohol dazu beitragen könnte, das Leben sinnvoll zu machen.

Nur 8% hielten die Frage für wichtig, ob das Leben einen Sinn hat. Und 75% meinten, dass die Frage, ob Gott existiert, für die Sinnfrage irrelevant ist. Und die Frage, ob Jesus eine echte historische Person war oder nicht, hielten 80% für unwichtig.

Diese Ergebnisse aus Schweden zeigen etwas Allgemeines, das nicht auf Skandinavien begrenzt ist. Es gibt eine große Mehrheit von Menschen, die offenbar keine Erlösungsbedürftigkeit spürt. Sie suchen Lebenserfüllung im Beruf, Familie und Freizeitbeschäftigungen – was natürlich völlig normal ist. Und ob man darüber hinaus etwas Lebenssinn in Alkohol oder in der Bibel sucht, ist scheinbar eine nebensächliche Geschmacksfrage. Ob Gott da ist und ob Jesus gelebt hat, sind für diese große Mehrheit unwesentlich. Wenn Jesus heute in eine westeuropäische Stadt einziehen würde, würde es keine Volksmassen geben, die Hosianna rufen. Denn Erlösung durch einen Messias wird in der heutigen Zeit nicht ersehnt.

'The 'Braille Patterns' Unicode range (2800-28FF)', 2007, Prince Kassad

Aber es gibt Menschen, die wissen, dass sie auf eine Erlösung angewiesen sind, die von außerhalb der eigenen Person kommen muss – Menschen, die in der Tiefe der Seele Hosianna rufen. Es gibt z. B. einen Mann in der Stadt Kansas City in dem Mittelwesten der USA. Es gab dort eine Explosion – offenbar durch Terroristen verursacht -, die verheerenden Folgen hatte.

Er hat beide Arme verloren, und sein Gesicht wurde so stark verletzt, dass er nichts mehr sehen konnte. Nach menschlichen Ermessen war das Leben dieses Mannes nicht mehr lebenswert. Für ihn reduzierte sich das Leben auf eine einzige Sehnsucht: er war ein bewusst gläubiger Christ und wollte unbedingt die Bibel lesen. Aber wie sollte er das machen? Dann hörte er von einer Frau in England, die auch blind war und ihre Hände nicht benutzen konnte, die mit ihren Lippen eine Bibel lesen konnte, die in Blindenschrift geschrieben war. Er lernte also die Blindenschrift und bekam eine entsprechende Bibel. Aber dann ergab sich ein weiteres Hindernis. Wegen seiner Gesichtsverletzungen funktionierten die Nerven in seinen Lippen nicht mehr. Er presste seine Lippen gegen die Blindenschrift und spürte nichts. Aber dann machte er eine Entdeckung: aus Versehen berührte seine Zunge die Schrift und er stellte plötzlich fest, dass er mit seiner Zunge die Schrift lesen konnte. Und mit seiner Zunge hat er die ganze Bibel schon vier Mal durchgelesen. Hier ist also eine neue Auslegungsmöglichkeit des Psalmwortes: „Schmecket und sehet wie freundlich der Herr ist.“

Ohne diesen blinden Mann näher zu kennen, kann man kategorisch feststellen: dieser Mann wusste, wie erlösungsbedürftig er war, und er hat in der Tiefe seiner Seele eine Erlösung gefunden, die für alle Ewigkeit gültig bleiben wird. Aber er hätte diese Erfahrung nicht gemacht, wenn das Leben für ihn normal abgelaufen wäre. Wie das Volk Israel hatte er eine Wüstenwanderung durchgemacht, die ihm die Nähe Gottes vermittelte. Durch eine Bombendetonation wurde er in eine Art Wüste versetzt. Alle Beschäftigungen und Ablenkungen, die diese Welt sonst zu bieten hat, waren für diesen Mann buchstäblich mit einem Schlag weg. Er ist von dem Licht in die Finsternis gegangen. Aber dort, wo es finster war, hat er mit seiner Zunge das ewige Licht gefunden. Und wo es wüst und öde ist, hat er die Fülle des ewigen Lebens gefunden.

Und was diesem Mann widerfahren ist, ist eine charakteristische Dynamik. In der Geschichte der Christenheit gibt es unzählige Beispiele von Menschen, die so gut wie nichts hatten, aber gerade weil sie nichts hatten, wussten sie, wie erlösungsbedürftig sie sind. Solche Menschen hatten eine Sehnsucht nach Gott, die in unserer heutigen westlichen Welt unvorstellbar ist.

'Mari Jones', 2006,  Brian0324

Zum Beispiel am Ende des 18. Jahrhunderts gab es in Wales ein Mädchen mit dem Namen Mary Jones. Ihr Vater war gestorben, als sie 4 Jahre alt war. Sie lebte in Armut. Sie konnte sich z. B. keine Schuhe leisten. Wenn diese junge Person heute leben würde, würde sie ihre Freizeit mit Dingen wie Fernsehen, MP3-Player, MP4, oder MP5, SMS-Austausch, Partys, Auslandsreisen und Shopping ausfüllen.. Aber damals gab es solche Möglichkeiten nicht. Sie hatte eine einzige große Freude im Leben. So oft sie konnte, lief sie eine halbe Stunde – barfuss - zu einem Bauernhaus, denn es gab in diesem Haus die einzige Bibel in der Gegend. Egal wie das Wetter war - ob Regen oder Schnee - ging sie regelmäßig zu diesem Haus, um die Bibel zu lesen und Bibelverse auswendig zu lernen. Jahrelang hat sie ihr Geld gespart - in der Hoffnung, eines Tages eine Bibel zu kaufen. Als sie genügend Geld hatte, war sie 15 Jahre alt. Um eine Bibel zu kaufen musste sie zu der Stadt Bala laufen: 40 Kilometer entfernt. Sie hatte eine solche Sehnsucht, eine eigene Bibel zu besitzen, dass sie fast die ganzen 40 Kilometer gerannt ist. Sie bekam nicht nur eine Bibel, sondern bekam zwei weitere geschenkt. Kategorisch möchte ich behaupten, dass kein Jugendlicher heute jemals die Fülle der Freude erleben wird, die diese Person erlebte, als sie ihre eigene Bibel bekam. Nachdem sie ihre Bibel kaufte, schrieb sie folgendes:

„Jawohl, ich habe endlich eine Bibel, jetzt muss ich heimwärts gehen. Jeder Seele in meinem Dorf werde ich ihre Wahrheiten beibringen. In ihren kostbaren Seiten sehe ich die Liebe Gottes für die Menschen. Welch unermessliche Freude, in meiner eigenen Bibel zu lesen - von Seiner großen Liebe zu mir.“

Dieses Mädchen in Wales und der blinde Mann in Kansas City gelten in der heutigen Zeit als Exoten. Solche Menschen, die ein solches Verlangen nach Gott haben, dass Bibellesen ein zentraler Lebensinhalt für sie ist, würde man heute als „Fanatiker“ bezeichnen.

Und daraus ergibt sich eine Frage: War die junge Frau in Wales – mit ihrer unbändigen Sehnsucht nach Gottes Wort - genau so, wie wir alle sein sollten? War das Bombenopfer, das jedes Hindernis überwand, um die Bibel zu lesen – genau so, wie wir alle sein sollten? Anders gefragt: die Bewohner Jerusalems haben mit herzzerreißendem Eifer Hosianna gerufen, als Jesus einzog; waren diese Menschen hoffnungslos verblendet gewesen, oder sind sie eine Darstellung, wie wir alle sein sollten?

Die Antwort der Bibel auf diese Fragen ist eindeutig. Wer seine Erlösungsbedürftigkeit nicht spürt, bei dem fehlt etwas Wesentliches. Es gibt ein biblisches Wort dafür, wenn ein Mensch nicht spürt, wie sehr sein Herz Gott braucht. Das Wort heißt Sünde. Sünde ist nichts anderes als die Entfremdung von der tiefsten Sehnsucht des Herzens, die nur Gott erfüllen kann.

Weihnachtliches Schaufenster in Frankfurt am Main, 2011, PSch

Die Adventszeit war ursprünglich so gedacht, dass man durch Fasten und durch Reizentzug eine eigene Wüstenwanderung inszenieren sollte, um das Herz von Ablenkung und Zerstreuung zu reinigen, damit die Sehnsucht des Herzens nach Gott erneut zum Vorschein kommen könnte. Es ist nach wie vor möglich – wenn man ungeheuere Willenskraft aufbringt – Advent als karge Fastenzeit zu begehen.

Aber in der heutigen Zeit werden eher Kreativität und Flexibilität gefordert. Außer Fasten gibt es auch andere Wege, die eigene Erlösungsbedürftigkeit zu spüren. Ich spüre meine Erlösungsbedürftigkeit, wenn ich durch die Stadt gehe an einem Dezemberabend und sehe, wie steril manche Kaufhausschaufenster aussehen. Sterile Kaufhausangebote anzuschauen ist für mich eine Art Meditation. Der Trubel einer Großstadt in der Adventszeit ist auch wie eine Wüstenerfahrung. Konzerte in der Adventszeit können auch das Verlangen des Herzens nach Erlösung zum Vorschein bringen.

Am 1. Advent wird uns ein Erlöser präsentiert. Aber er wird nur dann für uns ein Erlöser, wenn wir zu ihm Hosianna rufen.

Möge Gott uns helfen, den Hosianna-Ruf zu entdecken, der tief in der Seele zu finden ist.

Das Gemälde 'The Procession in the Streets of Jerusalem', between 1886 and 1894, James Joseph Jacques Tissot, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.
Der Urheber der Abbildung 'The 'Braille Patterns' Unicode range (2800-28FF)', 2007, Prince Kassad, hat diese dem public domain zur Verfügung gestellt.
Die Zeichnung 'Mari Jones', 2006, Brian0324, ist gemeinfrei, weil seine urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 70 Jahren nach dem Tod des Urhebers.

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PSch