Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Gnade bedeutet ein Freudenfest

« Predigten Home

'Fiorello H. LaGuardia, mayor of New York City. 'Mayor La Guardia speaks over WNYC on Grade A milk from Budget Room', 1940, Fred Palumbo, World Telegram staff photographer

Reformation

Gnade bedeutet ein Freudenfest


Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005 im Kirchsaal Süd

Es gibt in der Stadt New York einen Flughafen, der LaGuardia heißt. Der Flughafen ist nach einem ehemaligen Bürgermeister der Stadt benannt, der in den 30er und 40er Jahren im Amt war. Dieser Bürgermeister war für spontane Überraschungen gut. Zum Beispiel: manchmal fuhr er mit, wenn die Feuerwehr oder die Polizei einen Einsatz hatten. Manchmal hatte er ein Waisenhaus aufgesucht, alle Bewohner zu einem Baseballstadium mitgenommen und die Kosten für die Eintrittskarten übernommen. Wenn Zeitungen streikten, las er sonntags im Radio die Komikheftseite für Kinder. Und einmal im Januar 1935 übernahm er die Rolle des Richters in einem sogenannten Nachtgericht: ein Gericht, das abends stattfindet und für kleine Delikte zuständig ist.

Der erste Fall, der vorgetragen wurde, war eine alte Frau, die Brot gestohlen hatte. Sie erklärte, dass sie das Brot für ihre Enkelkinder gestohlen hatte, damit sie nicht verhungerten, denn ihre Tochter war krank und alleinstehend. Der Ladenbesitzer bestand darauf, dass die Diebin zu bestrafen sei. Er sagte: „Es ist eine schlechte Nachbarschaft und die Leute müssen lernen, das Gesetz zu respektieren.“ LaGuardia stöhnte und sagte zu der Frau: „Ich muss sie bestrafen: Das Gesetz erlaubt keine Ausnahmen: Sie müssen $10 bezahlen oder 10 Tage im Gefängnis verbringen.“ Aber sofort griff er in seine Tasche und holte $10 heraus, um die Strafe zu bezahlen. Und dann sagte er: „Die Strafe ist also bezahlt. Und jetzt erkläre ich außerdem, dass alle Anwesenden ein Bußgeld von 50 Cents zahlen müssen, weil sie in einer Stadt leben, in der eine Person Brot stehlen muss, damit ihre Enkelkinder essen können.“ $74,50 wurden gesammelt und der Großmutter überreicht. Zu denen, die zahlen mussten, gehörten der Ladenbesitzer, etwa 70 Kleinkriminelle und Verkehrssünder und Polizisten. Und nachdem das sogenannte Bußgeld gesammelt worden war, standen alle auf und klatschten Beifall. In diesem Gerichtssaal entstand ein spontanes Freudenfest.

Dieses Ereignis veranschaulicht, wie Gnade zu verstehen ist. Gnade bedeutet nicht, dass Gesetz und Ordnung nicht mehr gelten. Gnade hebt ethische Gebote nicht auf. Und Gnade ist nicht bloß ein juristischer Vorgang, denn Gnade ist mehr als stellvertretende Schuldbezahlung oder Schuldenerlass. Gnade ist etwas Gemeinschaftsstiftendes.

Diese Frau, die gestohlen hatte, stand zunächst außerhalb der menschlichen Gemeinschaft und musste damit rechnen, dass auch ihr Verhältnis zu Gott gestört war. Ob sie an Gott glaubte oder nicht, spielte keine Rolle – ihr Verhältnis zu Gott war durch den Diebstahl gestört. Und dann trat Gnade ein. Gnade bedeutete nicht nur, dass Schuld erlassen wurde, sondern dass diese Frau auf einmal Teil einer Solidargemeinschaft war; sie stand nicht mehr allein und ihre Würde wurde wiederhergestellt. Und eigenartigerweise spielte es keine Rolle, ob die Frau, die gestohlen hatte, ihre Tat bereut hatte oder nicht. Gnade ereignete sich, ehe sie die Gelegenheit hatte, irgendeine Schuld einzugestehen. Und außerdem hat Gnade bewirkt, dass Menschen, die sonst voneinander entfremdet sind – Ladenbesitzer und Diebe, Parksünder und Polizisten, auf einmal zusammengehörten und eine gemeinsame Freude teilten.

Und diese Gerichtsverhandlung ist eine Vorschau, was uns Menschen erwartet, wenn wir jenseits der Grenze des Todes vor dem Richterstuhl Gottes stehen. Auf der einen Seite: Es wird nichts beschönigt, es wird nichts unter den Teppich gekehrt. Aber der Richter ist einer, der die Schuld der Menschheit auf sich genommen hatte, als er am Kreuz hing. Und die Gnade wird auch in dieser Situation nicht bloß ein Schuldenerlass sein, sondern sie wird gemeinschaftsstiftend wirken. Zu dieser Gemeinschaft in Gott werden alle Sorten von Menschen gehören und sie werden eine gemeinsame Freude teilen.

'Rückkehr des Sohnes', 1978 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Rückkehr des Sohnes', 1978
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Die biblische Vorlage für diese Erscheinungsform der Gnade ist das Gleichnis von dem verlorenen Sohn. Sie kennen diese Geschichte: Der Sohn lässt seinen Vater im Stich, er verschwendet sein Geld, er lebt nur für egoistisches Vergnügen, und dann, nachdem er alles verloren hat und sein Leben aussichtslos geworden ist, will er heimkehren – und zwar, nicht aus edlen Motiven, sondern weil er Hunger hat. Er denkt sich ein Reuebekenntnis aus, aber es bleibt eine offene Frage, ob diese Reue echt ist. Als er heimkehrt, wird er von dem Vater mit überschwänglicher Liebe und Freude empfangen. Der Heimkehrer bekommt keine Gelegenheit, sein Reuebekenntnis auszusprechen – das spielt keine Rolle mehr. Es gibt keine Vorhaltungen, es gibt keine Probezeit, es gibt keine Bestrafung. Der Sohn wird sofort mit voller Würde als Sohn des Hauses wieder aufgenommen.

Der ältere Sohn, der die ganze Zeit anständig geblieben ist, schaut das an und ist angewidert. Er stellt indirekt die Frage: wo bleiben da Gesetz und Ordnung? Gelten ethische Richtlinien nicht mehr? Kann man machen, was man will? Wird man sogar dafür belohnt, dass man vergnügungssüchtig gelebt hat? Und der Vater erwidert: eine Auferstehung ist hier eingetreten; dein Bruder war tot und ist wieder lebendig. Auferstehung feiern hat absolute Priorität; alles andere ist zweitrangig.

Denn Gnade ist in erster Linie eine Auferweckung der Toten. Gnade bedeutet, dass alle Menschen für Auferstehung vorgesehen sind. Die einzige Voraussetzung dafür, an einer allgemeinen Auferstehung der Toten teilzunehmen, ist tot zu sein – und Entfremdung von Gott ist der Inbegriff des Todes. Es gibt Menschen, die in diesem Sinne tot sind – auch wenn sie physisch noch leben. Gnade bedeutet also nicht bloß Schuldenerlass. Gnade bedeutet Auferstehung. Gnade bedeutet ein Freudenfest im Himmel, zu dem alle Menschen eingeladen sind. Und diese Gnade kann man weder verdienen noch erwerben. Sie wird geschenkt. Deswegen heißt sie Gnade.

Die Szene im dem Gerichtssaal von New York aus dem Jahre 1935 ist eine kleine Vorschau, was uns allen bevorsteht, wenn wir jenseits des Todes vor Gott stehen. Und diese Gnade feiern wir heute am Reformationsfest.

Die Photographie 'Fiorello H. LaGuardia, mayor of New York City. 'Mayor La Guardia speaks over WNYC on Grade A milk from Budget Room', 1940, Fred Palumbo, World Telegram staff photographer, wurde von der Abteilung 'Prints and Photographs' der Nationalbibliothek der USA unter der digitalen ID [1] zur Verfügung gestellt.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

PSch

^ Zum Seitenanfang