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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: „Für uns warf er sich in den Schlamm"

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Heiligabend

„Für uns warf er sich in den Schlamm"

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 24. Dezember 2003 im Kirchsaal Süd

'Stern von Bethlehem', PSch

In der Stadt New York gibt es eine Einrichtung, die sich Straßen-Mission nennt. Diese Mission besteht aus einem Saal, in dem Gottesdienste stattfinden, daneben gibt es einen Raum, in dem Suppe ausgeteilt wird und in dem es einfache Übernachtungsmöglichkeiten gibt. Es gibt hier folgende Regel: wer den Gottesdienst mitmacht, bekommt einen Teller Suppe und eine Übernachtungsmöglichkeit. Die Gottesdienstteilnahme sollte ehrlich gemeint sein, aber es gibt natürlich Personen, die Interesse am Gottesdienst vortäuschen, um hinterher eine warme Mahlzeit und ein Bett zu bekommen. Dazu gehörte ein alter, alkoholsüchtiger Mann, der diese Möglichkeit ausnutzte, so oft er konnte. Eines Abends war der Leiter dieser Mission schlecht gelaunt und müde. Und als er sah, dass dieser Gewohnheitstrinker wieder Suppe und Übernachtung mit Gebet erkaufen wollte, hat er ihn weggejagt. Aber in der Nacht konnte der Missionsleiter nicht schlafen, weil er von einem schlechten Gewissen geplagt wurde. Er stand auf, zog sich an, und ging in die Dunkelheit hinaus, um den Mann zu suchen. Er wusste ungefähr, wo dieser Mann sich aufhielt, und zuletzt fand er ihn: er lag auf dem kalten Boden hinter einer Kneipe. Der Leiter der Straßen-Mission schaute in das Gesicht des alten Mannes, als er schlief, und es geschah etwas. Der Suchende beschreibt dieses Erlebnis mit den folgenden Worten:

„Da geschah etwas Merkwürdiges. Ich schaute auf sein vollbärtiges Gesicht und durch den Schmutz hindurch sah ich etwas, was ich vorher nie gesehen hatte. Ich sah das, was Jesus in den Zöllnern und Sündern sah. Ich war mit Liebe erfüllt. Ich weckte den Mann auf, entschuldigte mich bei ihm, nahm ihn mit zurück und gab ihm einen Teller Suppe und ein Bett.“

Er sagte: „Ich sah das, was Jesus in den Zöllnern und Sündern sah.“ Was hat Jesus gesehen, als er in die Gesichter der Zöllner und Sünder schaute? Die Antwort ist eindeutig: er sah die himmlische Herrlichkeit, für die solche Menschen bestimmt sind. Er hat diese Menschen nicht nur so gesehen, wie sie momentan waren, sondern er hat sie gesehen, wie sie eines Tages aussehen werden, wenn sie sich vor Gott in seiner himmlischen Herrlichkeit befinden.

Und es gibt im Neuen Testament eine Gruppe von Personen, die das Privileg hatten, diese himmlische Herrlichkeit zu sehen, für die wir Menschen vorgesehen sind, nämlich die Hirten bei Bethlehem.

In der Lukasgeschichte wird von zwei Ereignissen berichtet, die scheinbar nebeneinander stehen. Auf der einen Seite gibt es eine gewaltige Erscheinung auf dem Hirtenfeld in der Nähe von Bethlehem: der Engel des Herrn erscheint, die Herrlichkeit Gottes erscheint, die Menge der himmlischen Heerscharen erscheint. Und auf der anderen Seite gibt es ein Kind, in Windeln gewickelt, das in einer Krippe liegt. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Die Antwort lautet: sie gehören organisch zusammen. Das Kind in der Krippe ist unscheinbar, aber seine wahre Identität durften die Hirten sehen. Das Kind in der Krippe sieht zwar wie jedes andere Kind aus, aber im Verborgenen besitzt es die himmlische Herrlichkeit, die für die Hirten sichtbar wurde und die sie in panische Angst versetzte.

'Verkündigung an die Hirten', Taddeo Gaddi, 14. Jhd., Ausschnitt, Baroncelli Kapelle, Santa Croce Kirche, Florenz

Diese Weihnachtsgeschichte ist so vertraut, dass es leicht ist, die sprachlichen Feinheiten zu übersehen. Lukas verbindet das Kind in der Krippe mit der Lichterscheinung auf dem Hirtenfeld, indem er ein schwerwiegendes Wort einsetzt: das Wort heißt in der griechischen Ursprache Kyrios, in der Übersetzung Luthers heißt dieses Wort „Herr“, was für unsere Ohren relativ harmlos klingt.

Dieser Kyrios erscheint gleichzeitig an zwei Orten: Die Hirten sahen den Engel des Kyrios und sie sahen die Herrlichkeit des Kyrios und dann hörten sie den Satz: Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Kyrios, in der Stadt Davids. In diesem Zusammenhang ist Kyrios eine Umschreibung für Gott den Allmächtigen, den Schöpfer des Himmels und der Erde. Die Herrlichkeit Gottes erscheint mit voller Wucht auf einem Hirtenfeld und gleichzeitig erscheint Gott der Allmächtige, der Schöpfer des Himmels und der Erde, als Säugling in einer Futterkrippe, in Windeln gewickelt.

Die Hirten durften sehen, wie himmlische Herrlichkeit und irdische Verwundbarkeit in einer Person vereint waren.

Es gab in Japan eine Fernsehnachrichtensendung kurz vor Weihnachten. In Japan gibt es – wie in westlichen Ländern – einen großen Kaufrausch vor Weihnachten. Ein Fernsehreporter sprach Menschen auf der Straße an und fragte sie: „Warum wird Weihnachten gefeiert?“ Eine Frau - als sie die Frage hörte - lachte verlegen und sagte: „Ich weiß es nicht. Geht es vielleicht um den Tag, an dem Jesus starb?“

Diese Antwort ist falsch, aber sie ist auch richtig. Denn die Geburt Jesu in Bethlehem bedeutet, dass Gott hier unsere Sterblichkeit angenommen hatte, damit wir an seiner Herrlichkeit teilnehmen dürfen. Weil Gott unseren Tod angenommen hat, können wir ewig leben. Denn ewiges Leben hängt davon ab, dass wir eine Beziehung zu Gott finden. Aber normalerweise kann keine Beziehung zwischen Gott und uns bestehen, denn die Kluft zwischen Gott und uns ist zu groß. Wir können nicht zu Gott hochsteigen; er muss zu uns herabsteigen und zwar bis zu der tiefsten Tiefe herabsteigen, damit wir zu ihm und zu seiner Herrlichkeit gehören können.

Es gibt eine Geschichte aus China, die in diesem Zusammenhang als Gleichnis dienen kann. Ein Fürst in China – ein Mandarin – veranstaltete ein Fest. Viele angesehene Personen waren eingeladen. Und die meisten Gäste kamen mit Sänften. Eine Sänfte ist wie eine Kutsche ohne Räder; es gibt stattdessen Trägerstangen und mindestens 4 Personen braucht man, um eine Sänfte durch die Gegend zu tragen. An dem Abend des Festes hatte es angefangen, zu regnen, und vor der Toreinfahrt des Hauses, wo das Fest stattfand, hatte sich eine große Pfütze gebildet. Es kam eine Sänfte und hielt direkt vor dieser Regenpfütze. Ein älterer Mann wollte aussteigen, aber er blieb am Trittbrett hängen und fiel der Länge nach in die Pfütze. Mühsam erhob er sich wieder. Er war von oben bis unten voller Schlamm. Außerdem machten andere Gäste spöttische Bemerkungen. Sein erster Gedanke war: so kann ich mich nicht sehen lassen, ich muss zurück nach Hause und das Fest versäumen. Ein Diener, der den Vorfall beobachtet hatte, meldet ihn dem Mandarin. Dieser eilte sofort hinaus und holte den beschmutzten Gast ein, als er in seine Sänfte zurücksteigen wollte. Der Mandarin bat den Gast, doch zu bleiben, ihm würde der Schmutz an seinen Kleidern nichts ausmachen. Doch der Gast hätte die Blicke und das Getuschel der Leute nicht ertragen können und wollte unbedingt verschwinden. Daraufhin tat der Mandarin etwas Schockierendes: er warf sich in die Regenpfütze. Jetzt war auch er von oben bis unten voller Schlamm. Er stand auf, nahm den Gast bei der Hand und sie gingen Hand in Hand in den Festsaal. Keiner wagte es, etwas über den schmutzigen Gast zu sagen.

Diese Geschichte veranschaulicht, was Gott für uns in Bethlehem tat. Für uns warf er sich in den Schlamm dieser Welt. Gott erniedrigte sich selbst, damit wir mit ihm in einen himmlischen Festsaal gehen könnten. Gott begab sich auf unsere Ebene, und teilte unser Leben, damit wir die Angst vor ihm verlieren und ihn lieben lernen. Die Hirten kannten beide Perspektiven: sie sahen die Herrlichkeit Gottes, die angsterregend war, und sie sahen, wie sich Gott um der Menschen willen klein machen konnte. Und weil Gott für uns durch den Dreck gegangen ist - d.h. durch Leiden und Tod gegangen ist - brauchen wir keine Angst mehr zu haben, egal was eintreten mag. Denn wir sind für die himmlische Herrlichkeit vorgesehen, die am Hirtenfeld in Bethlehem offenbart wurde.

Es gibt einen Jugendlichen, der folgendes festgestellt hat: „Manchmal denke ich, was mache ich, wenn die Bibel nur ein Märchen ist, das sich einer einfach ausgedacht hat....Aber Gott überwindet diesen Zweifel, indem er sich in mir verwirklicht. Wir denken, dass wir solche kleinen, winzigen Leute sind und Gott ist so riesig und so weit weg. Aber Gott kann genauso klein sein, wie du bist. Er kann sich in dir niederlassen. Er ist so groß oder so klein, wie es gerade notwendig ist.“ Genau diese Erfahrung hatten die Hirten: sie erlebten, dass Gott überall erscheinen kann, so groß oder so klein, wie es gerade notwendig ist. Gott zeigte den Hirten seine Größe, damit wir Menschen wissen können, wozu wir bestimmt sind, und Gott zeigte sich klein – als Säugling in einer Futterkrippe, damit er uns dort abholen konnte, wo wir uns befinden.

Wie es in dem Lied heißt, das wir am Anfang sangen: „Er äußert sich all seiner G’walt, wird niedrig und gering und nimmt an eines Knechts Gestalt, der Schöpfer aller Ding.“

Die Abbildung 'Verkündigung an die Hirten', Taddeo Gaddi, 14. Jhd., Baroncelli Kapelle, Santa Croce Kirche, Florenz, gehört zum public domain, weil ihr Copyright abgelaufen ist.

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