Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
Zurück zum Archiv Home der Dreikönigsgemeinde

Evangelisch-Lutherische

DREIKÖNIGSGEMEINDE

Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigt zum Abschiedsgottesdienst von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Kor. 15, 10 Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin

« Predigten Home

Lutherisches Beffchen', 13.06.2011, PSch

Pfingstsonntag

Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin 1. Kor. 15, 10

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt zu seinem Abschiedsgottesdienst am 12. Juni 2011 in der Dreikönigskirche

Vorbemerkung: die Vergleiche zwischen lutherisch, reformiert und uniert, die am Anfang der Predigt aufgeführt werden, sind weitgehend scherzhaft gemeint. Es geht nicht darum, irgendeine Konfessionsrichtung hervorzuheben oder eine andere zu kritisieren, sondern auf eine etwas verspielte Weise zu veranschaulichen, wie Gnade verfälscht wird - auch von Lutheranern. Predigten sind in erster Linie für das Ohr gemeint und mit Tonfall kann man andeuten, welche Aussagen nicht tierisch ernst gemeint sind.

Als ich vor 38 Jahren in Sachsenhausen anfing – zuerst inoffiziell als Hospitierender - hat Pfr. Hipp, der damalige Pfarrer der Südgemeinde, mir erklärt, dass es drei verschiedene Beffchen gibt. Wie Sie wissen besteht ein Beffchen aus zwei Streifen weißen Stoffes. Wenn diese zwei Teile von oben bis unten getrennt sind, dann ist das ein lutherisches Beffchen. Wenn ein Beffchen von oben bis unten zusammengenäht ist, ist das ein reformiertes Beffchen. Und dann gibt es Beffchen, die halb reformiert und halb lutherisch sind; sie sind von oben nach unten bis zur Hälfte zusammengenäht, aber in der unteren Hälfte getrennt. Das ist ein uniertes Beffchen.

Das unierte Beffchen ist für Gemeinden geeignet, die gleichzeitig lutherisch und reformiert sein wollen, bzw. die nicht wissen, ob sie lutherisch oder reformiert sein wollen oder halb reformiert und halb lutherisch sein möchten. Das unierte Beffchen symbolisiert deshalb eine pausenlose Identitätskrise. Deswegen entstand die Parole: „Uniert ruiniert“. Das unierte Beffchen ist für Leute, die ständig dazu verurteilt sind, ihr eigenes Profil immer wieder neu zu definieren. Mit anderen Worten: das unierte Beffchen könnte das Wahrzeichen der evangelischen Kirche sein.

Es gibt, so viel ich weiß, keine offiziellen Erläuterungen für die 3 Arten von Beffchen, und deshalb ist es höchste Zeit, dass das Beffchen theologisch aufgearbeitet wird. Für die zwei Teile des Beffchens gibt es - finde ich - nur eine logische Auslegung: die zwei Teile stehen für Gesetz und Gnade.

Zum Beispiel: was die lutherische Tradition kennzeichnet, ist dass sie eine scharfe Unterscheidung zwischen Gesetz und Gnade vollzieht. Das hatte ich schon in Kalifornien gelernt durch den ersten Präsidenten der Lutheran Church Missouri Synod mit dem Namen Carl Walther. Im 19. Jahrhundert schrieb er ein ganzes Buch über die Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium. Das lutherische Prinzip lautet: die Gnade muss rein und unverfälscht bleiben. Sie darf nicht mit einer gesetzlich orientierten Werkgerechtigkeit vermischt werden. Deshalb also die vollständige Trennung von oben bis unten in dem lutherischen Beffchen. Die Streifen sollen sogar in einem Winkel von etwa 30° auseinandergehen, damit man diese klare Trennung deutlich sieht.

Die Uniert-Evangelischen können sich nicht entscheiden. Sie glauben an Gnade, weil es vorgesehen ist, aber können sie Gnade voll und ganz annehmen? Deswegen tragen sie ein Beffchen, das nur zur Hälfte zusammengenäht ist. Ich habe selber jahrelang ein uniertes Beffchen getragen aus rein ästhetischen Gründen, ohne zu wissen, was ich damit ausdrücke.

'Schlittschuhlaufen', um 1615, Hendrick Avercamp

Das zusammengenähte Beffchen ist hintergründig: es steht nicht für die allgemeine reformierte Tradition, sondern für die puritanische Strömung der Reformierten. Hier sind Gnade und Gesetz eine Einheit. Wer Gnade annimmt, nimmt auch eine kompromisslose Haltung an. Diese Haltung zeigt sich in einer Begebenheit aus Holland. Es gab einen Pfarrer, der Gottesdienste in zwei Kirchen hielt, die durch einen Kanal getrennt waren. Im Sommer konnte er mit einem Boot den Kanal überqueren. Im Winter war der Kanal zugefroren. Er bat die Kirchenältesten um Erlaubnis, sonntags Schlittschuhfahren zu dürfen, um die Eisfläche zu überschreiten. Nach langer Beratung bekam er die Genehmigung, aber mit einer Auflage: er durfte das Schlittschuhfahren am Sonntag nicht genießen; das wäre eine Übertretung des Sabbats. Hier sehen wir eine puritanische Haltung. Auf der einen Seite glauben diese Protestanten an die Gnade Gottes, weil sie dazu verpflichtet sind, aber sie fühlen sich genötigt, die Gnade mit gesetzlicher Strenge zu ergänzen, damit sie die Gnade nicht allzu sehr genießen und dadurch eventuell degenerieren.

Lutheraner dagegen bekennen mit Entschiedenheit: „Gnade allein“. Reformierte und Unierte sagen auch: „Gnade allein, aber...“ Bei den Nicht-Lutheranern gibt es immer ein „aber“. Es heißt: Wir sind schon durch Gnade gerettet, aber...man darf die Gnade nicht ausnutzen.“ Oder es heißt: Alles hängt von Gnade ab, aber...man darf sich nicht hängen lassen, man muss sich trotzdem zusammenreißen. Evangelische können im Allgemeinen es nicht unterlassen, ein „aber“ anzuhängen, wenn sie von Gnade sprechen. Es heißt:

  • Gnade allein, aber man muss auch realistisch bleiben
  • Gnade allein, aber wir haben unsere Vorschriften und Rangordnungen
  • Gnade allein, aber man darf sich nicht ausnutzen lassen
  • Gnade allein, aber erst wenn genügend Reue vorgewiesen worden ist.

Viele Evangelische sind doch nicht überzeugt, dass alles allein von Gnade abhängt.

Ich habe auch lange gebraucht, bis ich verstanden habe, was Gnade bedeutet. Als geläuterter Lutheraner will ich Ihnen sagen, wie ich Gnade verstehe. Gnade bedeutet, das ich bis zum jüngsten Gericht faul herumlungern kann, wenn ich will. Ich stehe nicht unter dem Zwang, irgendetwas vorzuweisen. Ich muss nichts beweisen, nichts rechtfertigen, nichts tun. Ich bin bedingungslos in Ewigkeit angenommen und es gibt nichts, was diese ewigen Geborgenheit in Gott in Frage stellen kann. Das ist die Gnade.

'The Law and the Gospel', 1529, Lucas Cranach der Ältere

Es gibt bei Gnade kein „Ja, aber...“ Ich darf 100.000 Fehler machen und 200.000 Mal versagen. Ich könnte im Namen Jesu Christi bis an das Ende meines Lebens keinen Finger rühren und dahinsiechen, wenn ich wollte. Kein Ja, aber! Deswegen trage ich heute ein lutherisches Beffchen, um das zu dokumentieren.

Das einzige „Ja, aber“, das wir Lutheraner gelten lassen ist, dass ein Mensch, der von Gnade allein getragen wird, nicht faul herumlungern will. Denn Gnade setzt die besten Kräfte und Energien frei. Luther und Paulus, die beide die Bedingungslosigkeit der Gnade bezeugt hatten, waren „Workoholics“ (= Arbeitssüchtige).

Gnade ist auch kein abstraktes Prinzip, sondern ist etwas, was in Menschen Fleisch und Blut annimmt. In den letzten 37 Jahren bin ich von der Gnade getragen worden. Ich habe in der Süd- und Dreikönigsgemeinde eine Gnade gespürt, die mich gestützt hat. Sonst hätte ich es nicht 37 Jahre lang ausgehalten. Wenn eine Gemeinde die Gnade Gottes nicht verkörpert, kann ein Pfarrer nicht funktionieren. Es gibt keine andere Grundlage für den Pfarrberuf als Gnade allein. Denn jeder Pfarrer hat Schwächen und Unzulänglichkeiten. Ich habe meine eigenen inneren Verkrampfungen und Lähmungen. Wenn das von der Gemeinde mit der Gnade Jesu Christi nicht getragen wird, dann ist es in einer Gemeinde nicht auszuhalten.

Die Gnade, die Menschen verkörpern, kommt allerdings nicht aus dem Inneren des Herzens, sondern sie kommt von außerhalb der eigenen Person; sie muss empfangen und angeeignet werden. Denn die Gnade besteht darin, dass Gott Mensch geworden ist, dass er in Jesus von Nazareth unter uns gewohnt hat, dass er in Jesus Christus für uns gelitten, gestorben, begraben und auferstanden ist, dass er durch seinen Geist dauerhaft in uns und unter uns wohnt, dass er durch Brot und Kelch seinen Beistand sichtbar, spürbar und essbar und trinkbar gemacht hat.

'Abendmahl bei einem Gottesdienst in der Dreikönigskirche', 2007, Heptagon

Was wir heute am Pfingsten feiern, ist dass Gott uns handfeste Zeichen gegeben hat, die sichtbar machen, dass er dauerhaft mit uns ist: nämlich die Existenz der Kirche, die Existenz von unzähligen christlichen Gemeinden, die von Wort und Sakrament leben. Jeder Gottesdienst ist ein Pfingstwunder, auch wenn nur 2 oder 3 anwesend sind.

Dass unsere Dreikönigsgemeinde die Gnade Gottes verkörpert, hängt auch damit zusammen, dass wir Weihnachten, Ostern und Pfingsten inhaltsreich feiern, dass wir danach streben, möglichst oft und möglichst facettenreich das Altarsakrament zu feiern.

Als Abschiedstext habe ich deshalb eine Stelle aus dem 1. Korintherbrief ausgewählt: „Durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ Aber genausogut könnte es heißen: Durch Gottes Gnade sind wir, was wir sind.

In einer Gemeinde ist es unvermeidbar, dass es Konflikte geben wird, besonders wenn drei Gemeinden sich zusammenlegen, wie das bei uns vor 14 Jahren geschah. Es ist viel leichter, Christen zu trennen als Christen zusammenzuführen.

Es gibt in diesem Kontext eine Anekdote von einem Theologieprofessor, der seine Studenten fragte, wann die evangelische Kirche entstanden ist. Einige meinten: bei Luthers Thesenverkündigung, andere meinten: bei dem Reichstag zu Augsburg. Andere wollten die Entstehung der evangelischen Kirche in Verbindung mit dem ersten christlichen Pfingstfest in Jerusalem bringen. Schließlich gab der Professor die sogenannte richtige Antwort: „Die evangelische Kirche ist etwa 1600 Jahre vor der Zeitrechnung entstanden: nämlich, als Abraham zu Lot sagte: „Gehst du in diese Richtung, dann gehe ich in die entgegengesetzte Richtung; gehst du links, dann gehe ich rechts. Gehst du Richtung Osten, dann gehe ich Richtung Westen.“

'Abraham and Lot separating', Unknown date (author lived 1607-1677), Wenceslas Hollar

Diese Anekdote veranschaulicht eine historische Erfahrung. Wir Evangelische verstehen Zersplitterung und Individualismus. Das fällt uns leicht. Aber wenn es darum geht, eine neue Einheit zu bilden, dann entstehen Konflikte, die heftig und verbissen sein können. Konflikte entstehen, wenn Menschen nicht genügend Zeit oder Geduld aufbringen, um einander richtig kennenzulernen, ehe sie schwerwiegende Entscheidungen miteinander treffen. Konflikte entstehen auch, weil es Persönlichkeiten gibt, die nicht zusammenpassen. Wir haben in unserer Gemeinde manchmal Auseinandersetzungen gehabt, die kaum auszuhalten waren. Das ist zu erwarten, weil wir noch nicht in Gnade vollendet worden sind.

Und gerade wenn es Konflikte gibt, ist es lebensnotwendig, dass wir allein von der reinen Gnade Jesu Christi leben – ohne wenn und aber. Gnade bedeutet:

  • niemand darf gedemütigt werden,
  • niemand muss sich rechtfertigen,
  • niemand wird losgelassen,
  • niemand wird mit seinen Schmerzen alleingelassen.

Konflikte haben dazu geführt, dass einige Personen, auch Personen, die treu und fleißig für die Gemeinde gearbeitet hatten, sich aus dem Kirchenvorstand oder aus der Gemeinde zurückgezogen haben. Das habe ich schon gleich zu Beginn vor 37 Jahre erlebt. Solche Entfremdungen sind leider kaum zu bewältigen. Eine Gemeinde kann nicht alle Probleme und Kontroversen lösen. Wenn wir versuchen würden, alle Probleme zu lösen, würden neue Auseinandersetzungen entstehen, die vielleicht noch schlimmer sind als die ursprünglichen Probleme.

Es gibt in dieser Hinsicht eine Spruchkarte, die ich in Kalifornien gefunden und 40 Jahre lang aufgehoben habe, die mit ironischem Humor verkündet: „Wir müssen viele Sitzungen veranstalten, um Probleme zu behandeln, die nicht entstehen würden, wenn wir weniger Sitzungen hätten.“ In den letzten Jahrzehnten haben ich feststellen müssen, dass diese ironische Aussage nicht ohne Wahrheit ist.

Es wird also vorkommen, dass eine Gemeinde Schwierigkeiten bekommt, die nicht zu lösen sind und die dazu führen, dass Spaltung eintritt.

Und hier kommt die Gnade zum Vorschein als ein Stachel im Herzen. Deshalb möchte ich zum Abschluss eine zweite Definition von Gnade anbieten: Gnade bedeutet nicht nur, dass ich so faul sein darf, wie ich will. Sie bedeutet auch, dass es einen ständigen Schmerz irgendwo im Herzen geben wird, weil es Konflikte gibt, die unbewältigt geblieben sind. Wenn man die Schmerzen der Andersdenkenden nicht mitfühlt, ist das ein gnadenloser Zustand.

Gnade ist Mitgefühl mit allen. Gnade kann niemanden endgültig abschreiben. Gnade bedeutet, dass es eine Unruhe im Herzen geben wird, - wie Augustin es sagen würde - bis wir alle in Gott zur Ruhe gekommen sind. Gnade wartet sehnsüchtig auf den Tag, an dem die Spaltungen innerhalb der Christenheit endgültig überbrückt worden sind, bis wir in der ewigen Herrlichkeit Gottes vereint werden.

Deshalb besteht mein Abschlussgebet für diese Gemeinde aus dem letzten Satz der Bibel. Der letzte Satz der Bibel, Offenbarung 22, Vers 21, lautet: „Die Gnade des Herrn Jesus sei mit allen!“ Gott wird nicht ruhen, bis er seine Gnade überall und endgültig verwirklicht hat. Wenn die Gnade Gottes mit uns ist, dann werden wir auch nicht zur Ruhe kommen, bis die Gnade Gottes zur Geltung gekommen ist: überall und endgültig.

Die Abbildung 'Schlittschuhlaufen', um 1615, Hendrick Avercamp, und deren Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.
Das Bild 'The Law and the Gospel', 1529, Lucas Cranach der Ältere, ist gemeinfrei, weil ihre urheberrechtliche Schutzfrist abgelaufen ist. Dies gilt für alle Staaten mit einer gesetzlichen Schutzfrist von 100 Jahren oder weniger nach dem Tod des Urhebers.
Es ist erlaubt, die Photographie 'Abendmahl bei einem Gottesdienst in der Dreikönigskirche', 2007, Heptagon, unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Die Abbildung 'Abraham and Lot separating', Unknown date (author lived 1607-1677), Wenceslas Hollar, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

^ Zum Seitenanfang

PSch