Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 2. Kor. 12, 7 – 10 Gnade ist in den Schwachen mächtig

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'Apostle Paul', 1633 (?), Rembrandt van Rijn

Reformation

Gnade ist in den Schwachen mächtig 2. Kor. 12, 7 – 10


Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2010

Vor zwei Wochen hatte ich eine Andacht mit Kindergartenkindern hier in diesem Kirchsaal. Ich wollte mit den Kindern über Martin Luther sprechen. Ich erwähnte, dass wir es Martin Luther zu verdanken haben, dass es eine evangelische Kirche gibt. Ich fragte die Kinder: „Wer von euch ist evangelisch?“ Es gab keine Antwort. Dann fragte ich: Vielleicht ist jemand katholisch?“ Keine Antwort. Dann fragte ich noch einmal: „Ist jemand von euch evangelisch oder katholisch?“ Schließlich sagte ein Mädchen: „Ich glaube, dass ich Deutsche bin.“ Diese Begebenheit entspricht möglicherweise der Situation unserer evangelischen Bevölkerung. Wie viele Menschen wissen, was „evangelisch“ bedeutet?

Als ich in den 70er Jahren nach Deutschland kam, bekam ich den Eindruck, dass evangelische Identität zusammengefasst ist in der Aussage: „Tue recht und scheue niemand!“ Das schien das Bekenntnis der Protestanten zu sein, bzw. einer älteren Generation von Protestanten. Aber heute an diesem Reformationstag sollten wir uns bewusst machen, wer wir sind. Und in diesem Zusammenhang scheint mir eine Stelle aus dem 2. Korintherbrief des Paulus hilfreich zu sein. Im Kapitel 12 heißt es:

Damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe. Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche.
Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten, um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.

Es gibt eine jüdische Legende von einem König, der zur Zeit des Auszugs Israels aus Ägypten lebte. Er hatte gehört, dass Mose ein Sklavenbefreier, ein Wundertäter und ein Prophet sein sollte. Er gab seinem Hofmaler den Auftrag, Mose aufzusuchen und von ihm ein Bild zu malen, damit der König sich an seinem Anblick erfreuen konnte. Als der Maler mit dem Bild zurückkam, waren der König und seine Berater entsetzt. Denn sie sahen das Bild eines Fieslings. In seinem Gesicht waren Habsucht, Fanatismus und Jähzorn zu erkennen. Der König war wütend und sagte zu dem Maler: „Du hast mich betrogen, du bist gar nicht bei Mose gewesen. Das kann nicht das Gesicht eines Gesandten Gottes sein.“ Der Maler hat aber darauf bestanden, dass er nicht nur bei Mose war, sondern dass sein Bild genau zeigte, wie Mose aussieht. Also ging der König selber in die Sinaiwüste, um Mose aufzusuchen. Als er Mose sah, zeigte er ihm das Bildnis und sagte: „Das Bild ist ein Betrug: es zeigt einen Menschen, dem nicht zu trauen ist. Aber ich sehe in deinem Gesicht, dass Du Gott gesehen hast.

'Moses mosaic' on display at the Cathedral Basilica of Saint Louis, 2008, TheWB

Mose antwortete: „Das Bild ist nicht trügerisch. Es zeigt mich so, wie ich bin – voller Habsucht, Fanatismus und Jähzorn. Aber Gott hat mir erlaubt, zu erkennen, wie gnädig er ist. Und nun bin ich sein Prophet, der seine Herrlichkeit gesehen und bezeugen darf. Ich bin ein Fiesling und ich bin gleichzeitig ein anderer. Denn ich lebe von Gottes Gnade.“

Diese Legende veranschaulicht eine biblische Eigenart. Die biblischen Personen, die den Willen Gottes verwirklichten, haben alle eine Macke gehabt. Wenn biblische Personen heute unter uns wären und sich für eine Kirchenvorstandswahl zur Verfügung stellen würden, würden wir sie nicht wählen wollen.

  • Noah z. B. war einmal so betrunken, dass er seine Kleider auszog und nicht merkte, dass er nackt war.
  • Abraham war überzeugt, dass er im Namen Gottes seinen eigenen Sohn als Brandopfer töten sollte.
  • Sein Enkel Jakob war ein Schlitzohr.
  • Mose könnte den Kriminellen in einem Tatortkrimi darstellen, denn in Ägypten beging er Totschlag, begrub sein Opfer in der Erde und floh ins Ausland.
  • Sein Nachfolger Josua war der erste, der heilige Kriege durchführte, bei denen es darum ging, ganze Städte im Namen Gottes auszulöschen.
  • David war die Verkörperung einer Bildzeitungsgeschichte: er war ein Ehebrecher und ein heimtückischer Mörder.
  • Salomo hatte 300 Frauen und 700 Nebenfrauen.
  • Der Prophet Elia könnte den schlimmsten Taliban-Terroristen Konkurrenz machen, denn er tötete eigenhändig 450 Priester einer heidnischen Religion. Danach zeigte er Symptome von Burnoutsyndrom und Depression.
  • Der Prophet Hosea war mit einer Prostituierten verheiratet.
  • Der Prophet Jona hielt widerwillig die schlechteste Predigt aller Zeiten. Ich möchte auch nicht wissen, wie er gerochen hatte, als er aus einem Fischbauch ausgespuckt wurde.
  • Petrus war gewalttätig, er setzte sein Schwert ein, um Jesus zu verteidigen, danach leugnete er Jesus aus Feigheit, als ein harmloses Dienstmädchen ihn fragte, ob er zu Jesus gehörte; er war einmal sogar das Sprachrohr des Satans.
  • Paulus war ein fanatischer Christenverfolger; er predigte viel zu lange, obwohl er nach eigener Aussage ein schlechter Redner war; bei Gemeindeversammlungen erteilte er Frauen Redeverbot.

Die Bibel ist schonungslos, wenn es darum geht, die Schwächen der Personen zu zeigen, die für Gott eine Rolle spielten. Und damit werden zwei Botschaften verkündet:

  • erstens: Gott wählt nicht Stärke aus, sondern Schwäche und Schande, um seinen Willen zu verwirklichen damit deutlich wird, dass
  • zweitens: absolut alles von der Gnade Gottes abhängt.

Das heißt: es kommt nicht darauf an, wie tugendhaft wir sind oder wie viel moralische Integrität wir besitzen. Es kommt allein darauf an, ob wir bereit sind, unsere Schwächen anzuerkennen und Gottes Gnade anzunehmen.

'Martin Luther', 1529, Lucas Cranach der Ältere

Es gibt die Vorstellung, dass Christsein etwas mit Werten zu tun hat. Es gibt bestimmte Tugenden, die von Christen erwartet werden. Christenmenschen sollten ehrlich, freundlich, tolerant, sozial, hilfsbereit und anständig sein. Sie sollten nicht über andere lästern, sie sollten nicht ausrasten, sie sollten nicht stur, autoritär oder arrogant sein. Heutzutage sollten Christen außerdem ein soziales Gewissen haben, umweltfreundlich handeln, Zivilcourage zeigen, für Frieden und Gerechtigkeit kämpfen.

Aber diese Vorstellung, dass es darauf ankommt, sich bestimmte christliche Tugenden anzueignen, stellt die Sache völlig auf den Kopf. Christsein beginnt nicht mit Werten, sondern Christsein fängt mit der Buße an, wie Martin Luther sagen würde. Christsein fängt dort, an, wo wir schwach und sündhaft sind.

Am 31. Oktober 1517 verkündete Luther 95 Thesen und die erste lautete:
Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: "Tut Buße" usw. (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“

Das Wort „Buße“ klingt ziemlich mittelalterlich und erweckt unselige Assoziationen. Buße bedeutete in früheren Zeiten, in Sack und Asche herumzulaufen oder sich selbst auszupeitschen. Buße bedeutete Fasten. Buße bedeutete zu beichten, dass man ein armer, sündiger Mensch sei, der ewige Verdammnis verdient hätte. Buße hieß, sich selbst erniedrigen und bestrafen. Luther hat alle Formen der Buße ausprobiert: er hat gefastet, bis er seine Gesundheit ruiniert hatte, er hat im Winter ohne Decke auf dem Boden geschlafen, er konnte 6 Stunden im Beichtstuhl verbringen. Aber er hat Frieden mit Gott nicht gefunden, bis er entdeckte, was Buße wirklich bedeutet.

Buße – und das heißt Christsein - fängt mit der Frage an: An welcher Stelle könnte mein Leben total zusammenbrechen? Wo bin ich am meisten verwundbar?

'Shade and Darkness - the Evening of the Deluge', 1843, Joseph Mallord William Turner

Ich möchte diesen Punkt mit einem persönlich Beispiel erläutern. Seit meiner frühesten Kindheit war ich so gut wie jeden Sonntag im Kindergottesdienst und im Gottesdienst gewesen. Meine ersten 9 Schuljahre waren in einer lutherischen Schule, in der es jeden Tag Religionsunterricht gab und regelmäßige Schulgottesdienste. Ich war in meiner Gemeinde Chormitglied, Organist und Sonntagsschullehrer. Eine bessere Grundlage im Glauben könnte man nicht bekommen. Aber als ich 20 Jahre alt war, erlebte ich, wie verwundbar ich bin. Innerhalb von wenigen Tagen war meine gesamte Glaubenswelt zusammengebrochen. Dieser Zusammenbruch wurde durch Kleinigkeiten eingeleitet. Eines Abends saß ich in einer Kapelle und übte auf der Orgel ein Stück aus dem Orgelbüchlein von Bach. Die Tiefgründigkeit dieser Musik löste in mir etwas aus, was ich zuerst nicht identifizieren konnte. Aber es war, als ob ich zum ersten Mal im Leben entdeckt hätte, dass etwas mit meiner Glaubensfestigkeit nicht stimmte. Kurz danach gab es eine Begegnung mit einem Sektenmitglied und auf einmal brach alles zusammen. Ich befand mich in einem finsteren Abgrund und konnte nicht mehr beten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Gebete nicht durch die Decke kommen. Was ich erlebte war das, was die Bibel mit dem Begriff „Hölle“ meint. Hölle ist die Erkenntnis, dass alles nichtig ist außer Gott. Ich war von Gott entfremdet und diese Trennung war eine unendliche Kluft, die nicht zu überbrücken war. Es gab keine Hoffnung mehr. Alles war nichtig. Diese Art „Hölle“ lauert in jedem Menschen und kann jederzeit zum Vorschein kommen.

Entfremdung von Gott ist das Schlimmste, was ein Mensch erleben kann. Denn wenn eine Trennung von Gott eingetreten ist, gibt es in dieser Situation absolut keine Hilfe mehr. Kein Mensch kann einem helfen. Keine menschliche Leistung kann die Kluft überbrücken. Diese Entfremdung scheint für alle Ewigkeit zu gelten.

Dieses Erlebnis der Hölle war aber das größte Geschenk meines Lebens, denn zum ersten Mal hatte ich erkannt, dass absolut alles von der Gnade Gottes abhängt, dass es absolut keine Rettung gibt außer Gnade allein. Und Gnade wird nicht in einem luftleeren Raum vermittelt, sondern durch Wort und Sakrament, wie ich hinterher erfuhr.

Und so sieht Buße aus, so wie Buße von Luther gemeint ist. Es fängt mit der Frage an: wo könnte mein Leben total scheitern, so dass nur Gnade allein mich retten könnte? An dieser Stelle fängt Christsein an. Jeder Tag sollte mit der Erkenntnis anfangen, dass Gnade allein zwischen mir und der Nichtigkeit steht. Das ist es, was evangelische Identität ausmacht.

Paulus hat diese Wahrheit eindrucksvoll bezeugt in seinem 2. Korintherbrief. Er hatte einen sogenannten Pfahl im Fleisch gehabt,. Was damit gemeint ist, ist nicht bekannt. Vielleicht war es Epilepsie, vielleicht waren es Migräne, vielleicht Depression. Dreimal hat Paulus Gott gebeten, diesen Pfahl im Fleisch zu entfernen. Die Antwort Gottes lautete:

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei mir wohne. ...denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.“

Möge Gott uns helfen, dass wir unsere Schwachheiten annehmen und Gott dafür danken, dass wir sie haben. Denn nur wenn wir die eigenen Wunden und Unzulänglichkeiten annehmen – als ob sie Geschenke Gottes wären - , können wir in Gemeinschaft mit Gott leben und anderen Menschen gegenüber einfühlsam und barmherzig sein, so wie Gott einfühlsam und barmherzig ist.

Das Mosaik 'Moses mosaic' on display at the Cathedral Basilica of Saint Louis, 2008, TheWB, ist lizensiert unter der Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.
Das Gemälde 'Martin Luther', 1529, Lucas Cranach der Ältere, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Apostle Paul', 1633 (?), Rembrandt van Rijn, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Das Bild 'Shade and Darkness - the Evening of the Deluge', 1843, Joseph Mallord William Turner, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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