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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Johannes 8, 31 – 36 Ist Wahrheit wichtig?

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Altjahrsabend

Ist Wahrheit wichtig? Johannes 8, 31 – 36

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 31. Dezember 2000

'From Lexington Ave', 2005, Bob Jagendorf

Da sprach nun Jesus zu den Juden, die an ihn glaubten: So ihr bleiben werdet an meiner Rede, so seid ihr meine rechten Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen. Da antworteten sie ihm: Wir sind Abrahams Samen, sind niemals jemandes Knecht gewesen; wie sprichst du denn: "Ihr sollt frei werden"? Denket nur nicht, dass ihr bei euch wollt sagen: Wir haben Abraham zum Vater. Ich sage euch: Gott vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken. Jesus antwortete ihnen und sprach: Wahrlich, wahrlich ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht aber bleibt nicht ewiglich im Hause; der Sohn bleibt ewiglich. So euch nun der Sohn frei macht, so seid ihr recht frei. Johannes 8, 31 – 36

Es wird von einem Wächter erzählt, der in einem Hochhaus arbeitete. Jeden Abend, ehe er nach Hause ging, nahm er den Aufzug zu dem 6. Kellergeschoss – d. h. 6 Stockwerke unter dem Erdgeschoss - und nahm einen Backstein aus der Wand. Er versteckte diesen Stein in einer Tasche, nahm ihn nach Hause und warf ihn in den Garten. Auf diese Weise sammelte er fast jeden Tag Backsteine. Mit diesen Steinen wollte er eine Garage an sein Haus anbauen. Fünf oder sechs Jahre lang sammelte er Steine aus dem tiefsten Kellergeschoss. Und dann eines Tages sind im 42. Stockwerk Risse entstanden. Ein Architekt wurde gerufen. Der Abteilungsleiter, der den Architekten bestellt hatte, hörte, dass der Architekt im Haus war und er suchte ihn im 42. Stockwerk, weil er wissen wollte, was los war. Aber auf diesem Stockwerk war er nicht zu finden, sondern es hieß: er ist im Keller. Der Abteilungsleiter fand ihn in dem 6. Untergeschoss und fragte ihn: „Was machen Sie hier unten? Haben sie nicht gehört: das Problem ist oben in dem 42. Stockwerk!“ Der Architekt erwiderte: „Nein, das Problem ist hier unten in dem Fundament.“

Diese kleine Begebenheit kann als Gleichnis für uns als Christenheit dienen. Was wir zu bezeugen haben ist wie ein Haus mit einem tiefen Fundament. Unser Fundament ist die Bibel und unsere Tradition, die tief in der Menschheitsgeschichte verwurzelt sind. Wenn Risse entstehen – d.h. wenn es Spaltungen und Abspaltungen gibt – dann muss man in der Tiefe nachschauen.

'ReligijneSymbole', 2007, Szczepan1990

Wir sind jetzt am Ende eines Jahres angekommen und in einem solchen Moment wird die Vergänglichkeit des Lebens deutlich. Und die Kirche hier bei uns scheint auch vergänglich zu sein. Die Christenheit hier in Deutschland musste wieder Abspaltungen ertragen. In den letzten 2 Jahren sollen 600.000 Menschen aus den Kirchen ausgetreten sein. Und die Medien berichten immer wieder, dass die Bundesbürger, die sich von der Kirche abwenden, nicht unbedingt in die Religionslosigkeit abwandern, sondern dass sie nach religiösen Formen suchen, die Wahlfreiheit ermöglichen, nach dem Motto: „Was göttlich ist, will ich selber bestimmen“. Zum Beispiel: es wird von einer Ärztin in Bonn berichtet, 55 Jahre alt, die zwar in einem Kirchenchor singt und eine Bibel im Nachttisch liegen hat, die aber auch Yoga und Tai Chi ausprobiert hat, außerdem trifft sie sich regelmäßig mit einem Sufi-Lehrer und lernt gerade vedisches Kochen. Es heißt: das freie religiöse Unternehmertum „boomt“, d.h. es wächst explosivartig. Im letzten Jahr z.B. wurden Bücher der neuen religiösen Bewegungen für schätzungsweise 900 Millionen Mark verkauft – diese Summe ist höher als die Kirchensteuereinnahmen der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau in diesem Jahr. Zu diesem religiösen Supermarkt gehören Reiki-Lehrer, Ausdruckstänzer, Schamanismus, Aura-Soma-Therapie, Rückführungstherapie, Hexenkult, Zwiesprache mit den Ahnen, Heilkristalle, holotrophes Atmen, Numerologie, Transzendentale Meditation, oder fernöstliche Weisheit, zugeschnitten auf westeuropäische Bedürfnisse. Es heißt: wer in diesem religiösen Supermarkt der Spiritualität bestehen will, muss drei Dinge im Angebot haben: Sinngebung, Lebenshilfe und Unterhaltung. Aber ein Wort fehlt hier: nämlich das Wort „Wahrheit“. Wahrheit ist scheinbar weniger gefragt als Sinngebung, Lebenshilfe und Unterhaltung. Aber hier ist der Punkt, an dem sich die Geister scheiden. Für die Christenheit ist Wahrheit ein zentraler Begriff. Wie Jesus in dem Text, der für den heutigen Abend vorgesehen ist, verkündet: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.“

Die Wahrheit, um die es hier geht, besteht nicht bloß aus Informationen. Denn Jesus Christus ist selber der Inbegriff der Wahrheit. Wie er sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben“. Und die Wahrheit, die er verkörpert, ist in der Bibel und in jüdischer, christlicher Tradition verwurzelt. Wer sich diese Wahrheit aneignen will, hat viel zu lernen. Es handelt sich hier um eine Wahrheit, die man nicht bloß in einem Wochenendseminar lernen kann.

Aber wir leben in einem ungeduldigen Zeitalter. Die Angebote der neuen religiösen Bewegungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sie schnell zur Sache kommen. In einer Zeitschrift wird von „Instant“-Spiritualität (d.h. Sofort-Spiritualität) gesprochen. Es handelt sich hier um Angebote, die in einer einzigen Tagung oder in einem einzigen Wochenendworkshop eine sofortige Lebenshilfe bieten. Die Christenheit kann mit solchen Schnellkursen nicht konkurrieren, denn für uns geht es um eine Wahrheit, die man nur mit Geduld und Ausdauer aufschließen kann.

In einer amerikanischen Sonntagsschule gab es eine Gruppe für 7-Jährige, in der das Auswendiglernen von Bibelworten betont wurde. Ein Junge, der zu dieser Gruppe gehörte, war sehr engagiert. Zu Hause übte er die Texte, die er auswendig lernen sollte. Sein Vater hatte mitbekommen, was er machte, und er fragte ihn, warum er bei diesem Auswendiglernen so eifrig sei. Er fragte ihn: „Welche Belohnung oder Auszeichnung wirst du bekommen, wenn Du diese Texte gelernt hast.“ Der Junge erwiderte mit kindlicher Unbefangenheit: „Wenn wir alles gelernt haben, dann dürfen wir als Belohnung noch mehr lernen.“

Dieser Junge veranschaulicht, wie christlicher Glaube aussieht. Dieser Glaube ist ein ständiges Lernen. Es ist ein Lernen, das nie aufhört – bis an das Lebensende. Wer etwas gelernt hat, darf noch mehr lernen. In dem Johannestext heißt es: „Wenn ihr bleiben werdet an meinem Wort, so seid ihr wahrhaftig meine Jünger und werdet die Wahrheit erkennen.“ Das Wort „Jünger“ bedeutet Schüler oder Lehrling. Ein Jünger ist ein Lernender. „Machet zu Jüngern alle Völker“, lautet unser Auftrag. Wer nicht selber ein Lernender ist, kann niemanden zum Lernen anregen.

Und die Wahrheit, die Jesus verkörpert, ist in einer Tradition verankert, die eine 3000-jährige Glaubensgeschichte umfasst. Deswegen gibt es so viel zu lernen. Man könnte ein Leben lang lernen, und trotzdem nicht alles begreifen, was wichtig ist. Es gibt immer etwas Neues zu entdecken. Deswegen ist der christlicher Glaube auch so faszinierend, weil er so tiefgründig ist. Für Menschen, die in einer Lebenskrise Sofortlösungen suchen, wird der christliche Glaube vielleicht eine Enttäuschung sein, denn wer christliche Wahrheit entdecken will, sollte bereit sein, mehr als eine paar Abende oder ein paar Wochenenden oder ein Konfirmandenjahr zu investieren.

Denn diese Wahrheit ist größer als sachlich-richtige Information. In diesem Zusammenhang denke ich an ein Interview. Als Jimmy Carter Präsident war, wurde seine Mutter Lilian eine bekannte Person. Ein Journalist hat um ein Interview mit ihr gebeten. Er war besonders an einer Sache interessiert: diese Lilian Carter hatte den Ruf, eine völlig aufrichtige, bewusst christliche Person zu sein, und diesen Ruf empfand der Journalist als eine Herausforderung. Der Journalist fragte: „Ist es wirklich wahr, - wie behauptet wird - dass Sie nie gelogen haben und dass Sie ihren Sohn auch so erzogen haben?“ Die Mutter des Präsidenten erwiderte: „Das stimmt, ich habe nie eine bewusste Lüge erzählt und ich musste meinen Sohn Jimmy nie wegen einer Lüge bestrafen.“ Der Journalist konnte das nicht glauben und fragte zurück: „Meinen Sie wirklich, dass Sie nie – wirklich nie gelogen haben?“ Lilian Carter zögerte einen Moment und sagte: „Also, es kann sein, dass ich gelegentlich eine Notlüge erzählt haben.“ Der Journalist stürzte sich auf dieses Zugeständnis und sagte: „Aha! Und könnten Sie mir ein Beispiel erzählen?“ Die Frau sagte: „Ja, sicherlich. Zum Beispiel als Sie durch die Tür kamen, habe ich gesagt, dass ich mich freue, Sie zu sehen.“

Hier sehen wir, dass Wahrheit mehr ist als objektive Fakten. Die Wahrheit Jesu Christi beinhaltet auch Rücksichtnahme und Höflichkeit. Es gibt eine Neigung heute, einfach alles zu sagen, was man denkt - im Namen der sogenannten Wahrheit - ohne Rücksicht darauf, ob jemand verletzt oder verleumdet wird. Aber in Jesus wurde eine Wahrheit offenbart, die Behutsamkeit beinhaltet. In dem Matthäusevangelium heißt es von Jesus: „Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen.“ Was Wahrheit betrifft, gibt es also immer viel zu lernen. Aber nur die Wahrheit kann zuletzt Befreiung bringen: „Die Wahrheit wird euch frei machen“, sagte Jesus.

Aber als Jesus von Freiheit sprach, fühlten sich seine jüdischen Gesprächspartner nicht angesprochen. Sie erwiderten: Wir sind Abrahams Kinder und sind niemals jemandes Knecht gewesen. Wie sprichst du dann: Ihr sollt frei werden? Und Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht.

'Stanley and Livingstone in The Illustrated London News 1872, Henry Morton Stanley

Mit „Sünde“ meinte Jesus, dass seine Gesprächspartner von Gott entfremdet waren und wer von Gott entfremdet ist, hat keine Lebensgewissheit – man hat keine Gewissheit, wohin das Leben zuletzt führt und ob das Leben gut ausgeht. Deswegen redete Jesus von dem Unterschied zwischen einem Knecht und einem Sohn: „ Wer Sünde tut, der ist der Sünde Knecht. Der Knecht bleibt nicht ewig im Haus; der Sohn bleibt ewig.“ Ein Knecht hat kein dauerhaftes zu Hause; er kann jederzeit ausgesetzt werden, denn er hat kein Wohnrecht. Ein Sohn dagegen weiß, wo er hingehört. Er hat ein dauerhaftes zu Hause.“ Das ist der Unterschied zwischen Wahrheit erkennen – d.h. Gott kennen, zu Gott gehören wie ein Sohn oder eine Tochter - und Wahrheit nicht erkennen, d.h. von Gott entfremdet sein, ein Sklave der Ungewissheit zu sein.

Im vorigen Jahrhundert gab es in Ostafrika einen Forschungsreisenden mit dem Namen David Livingston. Er war ein mutiger Missionar, er war mehrmals in Lebensgefahr, wurde von einem Löwen gebissen und bekämpfte den Sklavenhandel der Araber. Kurz vor seinem Tod im Jahre 1873 lag er auf seinem Bett, als ob er zusammengebrochen wäre. Sein Begleiter, Sir Henry Stanley, fand ihn in dieser Haltung und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Livingston erwiderte: „Ja, es ist alles in Ordnung. Ich bin nur dabei, die Bibel noch einmal durchzulesen, falls ich etwas in meinem Leben korrigieren müsste, ehe ich Jesus begegne.“ Hier sehen wir, wie es aussieht, wenn ein Mensch die Wahrheit entdeckt hat, die Jesus heißt: Bis an sein Lebensende bleibt er ein Lernender, und dieses Lernen ist mehr als Wissen sammeln, denn es handelt sich um eine Bereitschaft, das eigene Leben anhand der Wahrheit Jesu Christi zu korrigieren. Und ein solcher Mensch weiß, zu wem er gehört und lebt in der Gewissheit, dass er zu Gott heimkehrt. Möge Gott uns helfen, die Wahrheit zu erkennen und durch die Wahrheit frei zu werden.

Möge Gott uns helfen, dass wir im neuen Jahr bei der Suche nach Wahrheit bleiben, - in Geduld und Ausdauer dabei bleiben - in der Gewissheit, dass uns nichts von der Liebe Gottes in Jesus Christus trennen kann, weder Jetziges noch Zukünftiges.

Die Photographie 'From Lexington Ave', 2005, Bob Jagendorf, wurde unter den Bedingungen der Creative Commons „Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported.
Die Abbildung 'ReligijneSymbole', 2007, Szczepan1990, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Das Bild 'Stanley and Livingstone in The Illustrated London News 1872, Henry Morton Stanley, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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