Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Christvesper: „Wer schuldig ist auf Erden...“

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Christvesper

„Wer schuldig ist auf Erden...“

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009 im Kirchsaal Süd

'The Adoration of the Shepherds', 1646, Workshop of Rembrandt

Es gibt einen Gottesdienstbesucher, der folgendes erlebt hat, wie er in seinen eigenen Worten berichtet:

Eines Morgens stieg ich gerade ins Auto, um zur Kirche zu fahren, als eine Nachbarin vorbeikam und mich fragte, wo ich hinwollte.
Ich sagte: „Ich fahre zur Kirche. Wollen Sie mitkommen?“
Sie fragte: „Machen Sie Witze? Auf keinen Fall.“
„Warum nicht?“ fragte ich.
Sie erwiderte: „Ich brauche nicht noch mehr Schuldgefühle. Ich habe schon selbst genug. Da muss ich nicht zur Kirche gehen, um mir noch mehr aufzuladen.“
Ich sagte: „Okay, aber ich würde bei Gelegenheit gern mal mehr darüber hören.“
Sie winkte mir zu, und ich sah, dass sie nicht genau wusste, was sie von meinem Angebot halten sollte.

Diese kleine Auseinandersetzung veranschaulicht etwas, was symptomatisch ist. Es gibt Menschen, die ständig mit einem schlechten Gewissen oder mit unterschwelligen Schuldgefühlen leben, weil sie das Gefühl haben, dass sie zu wenig tun, dass sie zu viele Fehler machen, dass sie zu feige, zu träge oder zu undiszipliniert sind, dass sie immer wieder versagen. Weil die Kirche öfters von Sünde und Schuld redet, könnte man auf die Idee kommen, dass es sogar der Wille Gottes ist, dass wir ständig an unsere Schuld denken und dass es eine christliche Tugend ist, ein schlechtes Gewissen zu pflegen.

Ich erinnere mich an eine Zeit – das war in den 70er Jahren - als ich dauerhaft mit einem schlechten Gewissen lebte, weil ich den Eindruck hatte, dass ich zu wenig tue, dass bei mir zu viel unerledigt bleibt, dass ich zu wenig weiß, dass ich meinen Aufgaben nicht gewachsen bin. Ich erzählte einem Altersheimseelsorger von diesem Zustand. Und er erwiderte: „Wer dauerhaft mit einem schlechten Gewissen lebt, braucht ein schlechtes Gewissen.“ Ich habe damals nicht verstanden, was er gemeint hat.

Aber inzwischen habe ich gelernt, dass ein schlechtes Gewissen eine Verkrüppelung ist, an die man sich gewöhnen kann. Und ich habe gelernt, dass es nicht heilsam ist, dauerhaft mit Schuldgefühlen zu leben. Es ist nicht der Wille Gottes für uns, dass wir ständig mit dem Gefühl leben, dass wir versagt haben.

Gott will, dass wir Sündhaftigkeit erkennen, aber das ist nicht dasselbe wie ein schlechtes Gewissen zu pflegen. Denn Schuldgefühle sind auf die Dauer nicht heilsam, sondern dämonisch. Eine der wichtigsten Entdeckungen Martin Luthers war, dass ein gepeinigtes Gewissen nicht zu Gott hinführt, sondern von ihm weg. Ein belastetes Gewissen ist ein Sklavenhalter, von dem man befreit werden muss. Es ist eine Verkrüppelung, für die man Heilung braucht. Alle Gewaltherrschaften – ob in einer Regierung oder in einer Familie - haben mindestens einen gemeinsamen Nenner: sie versklaven ihre Untertanen, indem sie das Gewissen manipulieren.

Für alle, die unter Schuld und Gewissen leiden, enthält die Weihnachtsgeschichte nach Lukas eine wunderbare Botschaft. Hier wird offenbart, wie Gott mit Menschen umgeht, die von Schuldgefühlen erstickt werden. Der Anhaltspunkt für diese Betrachtung sind die Hirten. Wenn es Menschen gibt, die dauerhaft ein schlechtes Gewissen haben sollten, dann waren es die Hirten. In alten Lehrbüchern des Judentums kann man nachlesen, welchen Ruf die Hirten in Palästina hatten. Die Rabbiner haben es nicht zugelassen, dass Hirten bei einer Gerichtsverhandlung eine verantwortliche Rolle übernehmen. Es gab mindestens 5 Sorten von Menschen, die als Zeugen vor Gericht nicht auftreten durften: Frauen, Räuber, Zöllner, Wucherer und Hirten. Hirten galten grundsätzlich als nicht vertrauenswürdig, denn sie waren dafür bekannt, dass sie ihre Herden auf Land weiden ließen, das ihnen nicht gehörte. Sie galten außerdem als kultisch unrein. Ihre Hände berührten alle möglichen Dinge, die sie nicht nur unrein, sondern auch übelriechend machten. Sie durften deshalb einen Gottesdienst im Tempel nicht besuchen. Es gab um den Tempel herum Abgrenzungsmauern, und Hirten gehörten zu denen, die einen genau definierten Abstand von dem Allerheiligen einhalten mussten, dem Raum, in dem Gott sich niedergelassen hatte. Außerdem haben Hirten notwendigerweise am Sabbat gearbeitet und haben dadurch regelmäßíg eines der 10 Geboten übertreten.

Und es gab zwei Sorten von Menschen im jüdischen Palästina, denen gegenüber es es keine Verpflichtung gab, Wohltätigkeit zu gewähren: nämlich Heiden und Hirten. Wenn wir das auf heutige Verhältnisse übertragen, würde das heißen, dass Hirten nicht einmal würdig wären, Sozialhilfe zu empfangen.

'The Annunciation to the Shepherds', Les Très Riches Heures du duc de Berry, Folio 48r

Wenn es Personen gibt, die dafür prädestiniert wären, mit Schuldgefühlen und schlechtem Gewissen dauerhaft belastet zu sein, dann waren es Hirten zur Zeit Jesu. Und das Gemeine dabei war, dass es keine Befreiung gab. Die Hirten waren wie heutige Mobbingopfer, gegen Rufmord kann man sich nicht wehren; Argumente sind nutzlos, wenn es um Ausgrenzung geht.

Aber ausgerechnet waren es Hirten, die eine Galavorstellung der himmlischen Herrlichkeit bekamen. Die Herrlichkeit des Herrn erschien am Hirtenfeld, was Luther andeutet mit den Worten: „Die Klarheit des Herrn leuchtete um sie“. Diese Erscheinung ist absolut unglaublich. Es wäre etwas Vergleichbares, wenn die Titanic, die 1912 im Nordatlantik untergegangen ist, heute Abend von dem Boden des Ozeans aufsteigen würde, und würde in seinem ursprünglich intakten Zustand oberhalb dieses Gemeindehauses in der Luft schweben. Auf dem Hirtenfeld passierte etwas, was es nicht geben darf, weil es unmöglich ist.

Damit man eine Ahnung bekommt, wie ungeheuerlich diese Erscheinung am Hirtenfeld war, muss man wissen, was der Begriff „Herrlichkeit Gottes“ bedeutet.

Der Begriff Herrlichkeit bezieht sich auf eine sichtbare, leuchtende Erscheinungsform Gottes. Die Herrlichkeit Gottes erschien zum ersten Mal am Fuß des Berges Sinai, 1200 Jahre vor der Geburt Jesu: sie wurde oberhalb der Stiftshütte als leuchtende Wolke sichtbar. Und als der erste Tempel in Jerusalem gebaut wurde, füllte die Herrlichkeit Gottes das Haus. Kurz vor der Zerstörung des Tempels hatte der Prophet Hesekiel eine Vision, wie die Herrlichkeit den Tempel verließ. Danach wurde die Herrlichkeit Gottes nie wieder gesehen. Als der zweite Tempel gebaut wurde, hat das Volk vergeblich darauf gewartet, dass die Herrlichkeit Gottes zu dem Tempel zurückkehrt. 600 Jahre lang war die Herrlichkeit Gottes verschwunden. Aber jetzt zur Geburt Jesu erscheint sie wieder, aber nicht im Tempel in Jerusalem, sondern ausgerechnet auf einem Hirtenfeld bei Bethlehem – bei denen, die kultisch unrein und von dem Tempelgottesdienst ausgeschlossen waren. Hirten, die vor Gericht nicht als Zeugen auftreten durften, werden zu den Kronzeugen der Wiederkehr der Herrlichkeit Gottes. Mose wollte die Herrlichkeit Gottes sehen und durfte nicht: aber die Hirten durften, damit wir alle wissen können, was uns zuletzt in Ewigkeit bevorsteht.

Und dann heißt es: „Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk wiederfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr.“ Hirten erleben die unmittelbare Nähe der Herrlichkeit Gottes und sie sollen sich nicht fürchten. Gott in seiner Heiligkeit erscheint vor Menschen, die unrein sind und die Gebote übertreten, und seine Anwesenheit soll keine Schuldgefühle oder schlechtes Gewissen auslösen, sondern Freiheit von Furcht und große Freude. Keiner von uns würde einen von diesen damaligen palästinensischen Hirten als Anhalter im Auto mitnehmen wollen, denn das Auto würde hinterher fürchterlich stinken, aber Gott in seiner Herrlichkeit und himmlische Heerscharen von Engeln wollen ausgerechnet in der Nähe dieser Hirten sein.

Und es gibt eine weitere Überraschung: der Engel sagt zu den Hirten: „Ich verkündige Euch große Freude...Euch ist heute der Heiland geboren...“ Es ist, als ob der Engel sagen wollte: Die Erscheinung der Herrlichkeit Gottes und die Geburt des Messias geschehen allein um der Hirten willen. Aber was gemeint ist, ist, dass die Hirten die Repräsentanten der Menschheit sind. Alle, die ausgegrenzt sind – wie die Hirten - alle, die unter Schuldgefühlen und unter schlechtem Gewissen leiden, wie es den Hirten eingeredet wurde, sollen eine totale Befreiung wahrnehmen. Die Kluft zwischen der Heiligkeit Gottes und der Unheiligkeit der Menschen ist überbrückt worden - wobei die Hirten der Inbegriff der Unheiligkeit sind. Himmel und Erde berühren sich an einem wunden Punkt, damit Heilung beginnen kann. Die Heilung der Welt beginnt an dem Hirtenfeld bei Bethlehem.

Und dieser Heilungsprozess, der auf dem Hirtenfeld anfing, wird für uns heute greifbar gemacht, wenn wir Abendmahl feiern. Im Abendmahl wird das wiederholt, was auf dem Hirtenfeld geschah: Himmel und Erde berühren sich, Heiligkeit und Unheiligkeit kommen zusammen, „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede bei den Menschen seines Wohlgefallens“ wird in jedem Abendmahlsgottesdienst gesungen. Und in der Abendmahlsliturgie heißt es: „Darum mit allen Engeln und Erzengeln und mit dem ganzen Heere der himmlischen Heerscharen singen wir dir und deiner Herrlichkeit einen Lobgesang“. Diese Worte sind eine Erinnerung an das, was auf dem Hirtenfeld geschah.

Schuldgefühle haben hier keinen Platz mehr. Gott will uns Menschen von allen Schuldgefühlen und von einem belasteten Gewissen endgültig befreien. Die Ereignisse auf dem Hirtenfeld offenbaren, dass es nicht der Wille Gottes ist, dass wir uns von einem schlechten Gewissen verkrüppeln und tyrannisieren lassen. Es gehört nicht zum guten Ton eines Christenmenschen, Schuldgefühle zu pflegen.

Wie es in einem Adventslied von Jochen Klepper heißt:

'Licht in der Finsternis', 1976 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Licht in der Finsternis', 1976
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Dem alle Engel dienen,
wird nun ein Kind und Knecht.
Gott selber ist erschienen
zur Sühne für sein Recht.
Wer schuldig ist auf Erden,
verhüll nicht mehr sein Haupt.
Er soll errettet werden,
wenn er dem Kinde glaubt.

Die Nacht ist schon im Schwinden,
macht euch zum Stalle auf!
Ihr sollt das Heil dort finden,
das aller Zeiten Lauf
von Anfang an verkündet,
seit eure Schuld geschah.
Nun hat sich euch verbündet,
den Gott selbst ausersah.



Noch manche Nacht wird fallen
auf Menschenleid und -schuld.
Doch wandert nun mit allen
der Stern der Gotteshuld.
Beglänzt von seinem Lichte,
hält euch kein Dunkel mehr,
von Gottes Angesichte
kam euch die Rettung her.

Gott will im Dunkel wohnen
und hat es doch erhellt.
Als wollte er belohnen,
so richtet er die Welt.
Der sich den Erdkreis baute,
der lässt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute,
kommt dort aus dem Gericht.

Das Gemälde 'The Adoration of the Shepherds', 1646, Workshop of Rembrandt, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Abbildung 'The Annunciation to the Shepherds', Les Très Riches Heures du duc de Berry, Folio 48r, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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