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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Ps. 118 Drei Gebote einer Überlebensstrategie

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Kantatengottesdienst: Ps. 118 Drei Gebote einer Überlebensstrategie

Gehalten von Pfarrer Phil Schmidt am 8. Juli 2007 in der Bergkirche

'Gulag prisoners at work', 1936-1937

Der HERR ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht; was können mir Menschen tun?
Der HERR ist mit mir, mir zu helfen; und ich werde herabsehen auf meine Feinde.

Ps. 118

Am Ende des Krieges 1945 wurde Ungarn von der Sowjetunion besetzt. Zuerst gab es Freude über die Befreiung von der Naziherrschaft, aber dann wurden Kirchen geschlossen. Ein römisch-katholischer Priester protestierte dagegen. Er wurde deswegen verhaftet und zu einer 10-jährigen Gefangenschaft in Sibirien verurteilt. In dem Gulag in Sibirien haben er und seine Glaubensgenossen sofort gemerkt, dass die Überlebungschancen gering waren. Aber sie haben nicht resigniert, sondern sie haben zusammen eine Überlebensstrategie ausgearbeitet. Diese Überlebensstrategie bestand aus 3 Geboten.

Gebot Nummer 1 lautete: Du sollst nicht klagen. Diese Regel ist überraschend, denn normalerweise denkt man, dass es gesund ist, den Frust von der Seele abzuladen. Scheinbar ist es ein urmenschliches Bedürfnis, über alles Mögliche zu meckern.

Es gibt dazu eine Anekdote. Ein Mann ist gestorben und kommt in den Himmel. Als Erstes sieht er einen Kasten mit der Überschrift: „Beschwerdekasten“. Daneben sind Zettel, die man ausfüllen und einwerfen kann. Das kann er nicht verstehen, denn er ist im Himmel. Im Paradies müsste alles perfekt sein, und eigentlich müssten alle mit himmlischer Wonne erfüllt sein. Als jemand vorbeikommt, fragt er: Warum gibt es hier einen Kasten für Beschwerden? Der Angesprochene erwiderte: „Weil es Menschen gibt, die nur dann wirklich glückselig sind, wenn sie sich beschweren können!“ So sind wir Menschen; ständiges Hadern kann zu einem Lebensinhalt werden.

In diesem Zusammenhang sollte man an die Wüstenwanderung des Volkes Israels denken. In der Wüste steckte dieses Volk in einem unerbittlichen Überlebenskampf. Denn die Israeliten lebten ständig in der Gefahr, in der Wüste zu sterben. Und das Volk hat gegen Mose und gegen Gott „gemurrt“ – wie Luther übersetzte. Das Murren des Volkes lautete: Gab es nicht genug Gräber in Ägypten? Warum hast du uns in die Wüste geführt, wenn es nur darum geht, hier zu verhungern und zu verdursten?

Und in der Sinai-Wüste offenbarte sich eine grundlegende Wahrheit: nämlich - der Gegensatz zu Gottvertrauen ist nicht Unglauben. Der Gegensatz zu Gottvertrauen ist ständiges Meckern. Meckern ist nicht gesund, sondern eine Form der Selbstzerfleischung. Mit dem Begriff Meckern – oder Murren – ist nicht konstruktive Kritik gemeint. Auch Streitkultur ist nicht gemeint. Gemeint ist eine Haltung der Verbitterung, die leugnet, dass Gott vertrauenswürdig ist.

'Lena River', 2005, Natxo Rodriguez

Die Glaubensgemeinschaft in dem sibirischen Gefängnislager, die vorhin erwähnt wurde, hat sofort erkannt, dass sie sich keine Verbitterung leisten konnten: wer in einer irdischen Hölle überleben will, muss auf Hadern verzichten. Deswegen lautete das erste Gebot: Du sollst nicht klagen. Und dementsprechend gab es ein zweites Gebot dieser Überlebensstrategie. Das zweite Gebot lautete: Du sollst jeden Tag einen Segen entdecken.

So wie es nicht leicht war, auf Klagen zu verzichten, so war es auch schwer, in dem Totenreich eines sowjetischen Gulags so etwas wie Segen zu entdecken. Am Ende jedes Tages kamen die gläubigen Menschen zusammen und haben versucht, von dem Segen zu sprechen, den es im Laufe des Tages gegeben hatte. Die Beiträge waren bescheiden. Einer erzählte z. B. „Heute war es nicht so kalt wie sonst“. Oder es wurde von der Heilung einer Blase am Fuß erzählt. Oder dass es etwas mehr zu essen gab als sonst. Oder dass die Wächter nicht so unmenschlich waren, wie sonst. Und wer den besten Segen genannt hatte, durfte sich ein Lied wünschen und die Gefangenen haben dieses Lied gesungen. Mit Singen wurde Segen gefeiert.

Diese ersten zwei Gebote waren die Voraussetzung für die Erfüllung eines dritten Gebots. Das dritte Gebot lautete: Du darfst nie vergessen, dass Gott mit dir ist. Auch dieses Gebot war nicht leicht einzuhalten, denn es gab so gut wie kein sichtbares Zeichen für die Nähe Gottes. Wir Menschen sind so geschaffen, dass wir auf sichtbare und spürbare Hinweise angewiesen sind, dass Gott anwesend ist. Aber auch in Sibirien gab es sichtbare Zeichen für die Nähe Gottes. Die Glaubensgenossen hatten sich nämlich vorgenommen, die Eucharistie zu feiern.

'Ukok Plateau', 2006, Kobsev

Abgesehen davon, dass es streng verboten war, einen Gottesdienst zu halten, fehlte alles, was man für eine Abendmahlsfeier brauchte: es gab keine Bibel, kein Brot und keinen Wein. Aber nach und nach kam doch alles zusammen: eine polnische Bibel wurde hereingeschmuggelt – getarnt als ein Buch über Kunst, ein jüdischer Gefangener spendete Matzen und aus Johannesbeeren wurde heimlich ein Wein fermentiert. Es gab dann eine geheime Eucharistiefeier, bei der die Anwesenheit Gottes zu sehen, zu hören und zu schmecken war.

Und der ungarische Priester hat tatsächlich diese 10-jährige Gefangenschaft überlebt – und er lebt heute. In diesem Jahr hat er bei einer internationalen Versammlung von seinen Erfahrungen berichtet.

Diese Erlebnisse in einem Gefangenenlager sind eine Auslegung der Kantate, die wir vorhin gehört haben. Der Text dieser Kantate, der aus Psalm 118 stammt, lautet:

Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht. Was können mir Menschen tun?
Der HERR ist mit mir, mir zu helfen; und ich werde herabsehen auf meine Feinde.

Diese Redewendung „Der Herr ist mit mir“ klingt für unsere Ohren fast wie eine Belanglosigkeit. Aber die ganze biblische Botschaft ist in dieser Formulierung zusammengefasst.

Es ist eine Eigentümlichkeit der biblischen Offenbarung, dass der Gott Israels, der sich in Jesus offenbarte, die Nähe der Menschen aufsucht. Die Götter der antiken Welt waren in dieser Hinsicht ganz anders: es gab außerhalb der Bibel keine Vorstellung von einem Gott, der höchstpersönlich mit einem ist, der einfach durch seine Nähe Beistand leistet. 114 Mal im Alten Testament wird verkündet, dass Gott mit einer Person oder mit seinem Volk ist. Und die Offenbarung in Jesus Christus wird mit der hebräischen Bezeichnung Immanuel zusammengefasst, die übersetzt lautet: „Gott mit uns“.
Dementsprechend sagte Jesus: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ Und wo Jesus ist, da ist Gott persönlich anwesend. Die letzten Worte Jesu nach dem Matthäusevangelium lauten: „Siehe ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende.“ Dietrich Bonhoeffer fand in seiner Todeszelle Trost, indem er schrieb: „Gott ist mit uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag.“ Die Aussage aus der Kantate: „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht. Was können mir Menschen tun?“ – diese Aussage ist der Inbegriff der biblischen Botschaft.

Gott wird mit uns sein, egal ob wir das glauben oder nicht, egal was wir tun oder nicht tun. Aber damit die Anwesenheit Gottes auch eine heilsame Wirkung haben kann, kann der Mensch tatsächlich etwas tun. Und die drei Gebote aus dem Gulag in Sibirien geben hilfreiche Hinweise: Du sollst nicht meckern, du sollst den Segen Gottes täglich wahrnehmen, du sollst nie vergessen, dass Gott mit dir ist.

Wie das konkret aussehen kann, zeigte eine afrikanische Frau. Die Frau eines Zulu-Häuptlings besuchte unerlaubterweise einen christlichen Gottesdienst. Als ihr Mann davon hörte, war er entsetzt und schlug sie brutal zusammen. Sie lag auf dem Boden bewusstlos und er ließ sie liegen und ging weg. Später kam er zurück und sie lag immer noch da, aber sie war bei Bewusstsein. Der Zulu-Stammführer fragte spöttisch: „Und was kann dein Jesus Christus für dich jetzt tun?“ Die Frau erwiderte: „Er hilft mir, dir zu vergeben.“ Diese Frau verkörpert die drei Gebote aus Sibirien. Normalerweise würde jede Person in ihrer Situation voller bitterer Anklage stecken, wäre völlig verzweifelt und würde sich fragen: wo ist Gott? Aber diese Frau spürte die Nähe und den Segen Gottes durch ihre Vergebungsbereitschaft. Und obwohl sie am Boden lag, hat sie – wie es im Psalm 118 heißt – auf ihre Feinde herabgeschaut. Sie verkörpert die Aussage: „Der Herr ist mit mir. Was können mir Menschen tun?“

Oder ein Soldat, der in einem Bürgerkrieg seinen Arm verloren hatte, sagte dazu folgendes:

„Ich bin nicht unglücklich und nicht deprimiert, denn ich bin überzeugt, dass sich diese scheinbare Katastrophe in einen Segen verwandeln wird – entweder in diesem Leben oder in dem kommenden. Ich kann warten bis Gott – zu einer Zeit, die er zu bestimmen hat – mir zeigt, wozu dieses Leiden dienen wird. Deswegen bin ich schon jetzt dankbar für den Segen, den mein verlorener Arm mir bringen wird.“

Auch hier - anstatt bitterer Anklage - wird fest mit einem Segen gerechnet, weil Gott mit uns ist - heute und in Ewigkeit.

Eine solche Glaubenshaltung hat eine ganz praktische Auswirkung: sie kann dazu beitragen, dass Menschen und Glaubensgemeinschaften überleben – trotz Krisen und Katastrophen. Der Ausgangspunkt für diese Überlebensstrategie ist eine Reihe von Willensentscheidungen:

  1. die Entscheidung, auf bittere Anklage zu verzichten
  2. die Entscheidung, nach Segen zu suchen
  3. und die Entscheidung, nie zu vergessen, dass Gott mit uns ist und mit uns bleibt – heute und für immer.

Die Photographie 'Gulag prisoners at work', 1936-1937 ist im public domain in Russland.
Die Photographie 'Lena River', 2005, Natxo Rodriguez, ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.
Die Photographie 'Ukok Plateau', 2006, Kobsev, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

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