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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Röm 11, 32 – 36 Wir sind alle in demselben Viehwagen

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Trinitatis

Wir sind alle in demselben Viehwagen Röm 11, 32 – 36

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2004

'Railroad track in Birkenau (Auschwitz II) concentration camp' 2001, Darwinek

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.
O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege! Denn »wer hat des Herrn Sinn erkannt, oder wer ist sein Ratgeber gewesen?« (Jesaja 40,13) Oder »wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?« (Hiob 41,3) Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen. Röm 11, 32 – 36

Als Holland während des 2. Weltkriegs besetzt wurde, waren alle Juden in Gefahr. Es wird von einem holländischen Pfarrer und seiner Familie berichtet, die Juden in ihrer Wohnung versteckten. Nach diesem Bericht -von dem ich nicht weiß, ob er historisch korrekt ist oder nicht - wurde die heimliche Tätigkeit dieser Pfarrfamilie entlarvt und alle Familienmitglieder wurden verhaftet. Sie wurden in einen Eisenbahn-Viehwagen geladen, und sollten in ein Todeslager transportiert werden. In dem dunklen Wagen wurden der Pfarrer und seine Familie mit anderen Gefangenen eng zusammengepfercht. Sie waren alle außer sich vor Angst. Nach einer langwierigen Nacht kam der Zug ans Ziel. Die Türen wurden geöffnet und die Insassen mussten sich vor dem Wagen in einer Reihe aufstellen. Die Mitglieder der holländischen Pfarrfamilie wussten, dass ihnen unbeschreiblicher Horror bevorstand, dass sie einander nie wieder sehen würden und dass sie nicht mehr lange zu leben hätten. Aber plötzlich haben alle Gefangenen eine schockierende Entdeckung gemacht: sie befanden sich nicht in einem Todeslager und sie waren nicht mehr in Deutschland, sie waren in der Schweiz. Und hier waren sie sicher. Sie konnten zuerst nicht glauben, was eingetreten war.

Denn während der Fahrt hatte irgendein Eisenbahnarbeiter es gewagt, eine Weiche falsch zu stellen und der Zug fuhr ohne Erlaubnis über die schweizerische Grenze.

Wir können heute nicht mehr nachvollziehen, was diese Gefangenen empfunden hatten, als sie merkten, dass sie nicht in der Hölle gelandet waren, die sie erwartet hatten, sondern eine unglaubliche Gnade erfahren hatten. Es hatte für diese Gefangenen absolut keine Hoffnung gegeben, aber plötzlich waren sie doch gerettet. Sie hatten fest damit gerechnet, mit unbeschreiblichem Leid vernichtet zu werden, und plötzlich bekamen sie ein neues Leben geschenkt.

Wie gesagt: ob dieser Bericht historisch zutreffend ist oder nicht, lässt sich nicht bestätigen. Aber das spielt in diesem Zusammenhang keine Rolle: denn was diese Gefangenen erlebten, kann für uns als Gleichnis dienen: ein Gleichnis, dass uns helfen kann, zu verstehen, was Paulus in dem vorgesehenen Römerbrieftext vermitteln will. Der Römerbrieftext ist der Abschluss eines Abschnitts, in dem Paulus versucht, das Verhältnis der Juden zu Jesus Christus zu deuten. Es geht darum, dass das Judentum Jesus als Messiaskandidat eindeutig abgelehnt hatte. Dies war eine bewusste Glaubensentscheidung und diese Entscheidung bedeutete - nach Ansicht des Paulus - dass das Judentum sich gegen Gott gestellt hatte. Aber auf der anderen Seite behauptet Paulus, dass Gott alles im Griff hat, dass Gott zuletzt sogar verantwortlich dafür ist, dass die Mehrzahl der Juden Jesus ablehnte, denn diese Ablehnung hat die christliche Botschaft in die heidnische Welt getrieben. Und Paulus rechnet fest damit, dass Gott zuletzt „alle Juden“ zu Jesus führen wird.

Es handelt sich hier um ein Paradox. Auf der einen Seite hat der Mensch die Freiheit, Gott abzulehnen, auch wenn er damit seine eigene Verdammnis einleitet; aber auf der anderen Seite will Gott niemanden loslassen – besonders die Juden nicht – und er wird so lange auf die Menschen einwirken, bis seine Gnade bei jedem Menschen zur Geltung gekommen ist. Paulus fasst seine Betrachtung zusammen mit dem Satz:

Denn Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.

Gedenkstätte Mittelbau-Dora, einer der Waggons, in denen Häftlinge transportiert wurden, 2007, Thorsten Schramm

Was bedeutet dieser rätselhafter Satz? Nach den Ansichten des Paulus ist die Menschheit vergleichbar mit den Gefangenen, die in jenem Viehwagen von Holland unterwegs waren: Christen und Juden, Gläubige und Gottlose, waren hier zusammen eingeschlossen und konnten nicht mehr ihr Schicksal bestimmen. Sie waren alle für Vernichtung bestimmt. Aber während sie unterwegs waren, hat jemand heimlich eine Weiche gestellt, so dass am Ende des Weges eine große Befreiung eingetreten war. Und diese Befreiung war eine unfassbare Gnade.

Und so ist es mit der Menschheit. Alle Menschen sind in einer Gefangenschaft eingeschlossen. Denn kein Mensch kann von sich aus Gott aufsuchen; Gott muss uns aufsuchen. Kein Mensch könnte sich für Gott entscheiden, wenn Gott sich nicht für uns entscheidet. Kein Mensch kann sein ewiges Schicksal bestimmen, das liegt allein in der Hand Gottes. Kein Mensch kann einen Platz in der ewigen Geborgenheit Gottes erwerben oder verdienen. Wie Paulus schreibt:

»wer hat ihm etwas zuvor gegeben, dass Gott es ihm vergelten müsste?«.

Kein Mensch kann mit eigener Kraft aus seiner Vergänglichkeit aussteigen. Wir sind alle in demselben Boot, bzw. Viehwagen, eingeschlossen. Wir waren alle für Vernichtung bestimmt. Aber Gott arbeitet im Hintergrund und wird die Weichen so stellen, dass wir zuletzt alle seine unermessliche Gnade erfahren werden. Auch jenseits der Grenze des Todes kann Gott weiter wirken und eine Befreiung verwirklichen, die für uns unvorstellbar ist. Denn alles liegt in der Hand Gottes: die Lebenden und die Verstorbenen, die sichtbare und die unsichtbare Wirklichkeit. Wie Paulus schreibt:

Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge.

Wie gesagt: es handelt sich hier um ein Paradox. Denn scheinbar sind die Menschen frei und mündig. Als Dietrich Bonhoeffer im Jahre 1944 im Gefängnis saß, stellte er fest, dass die Welt mündig geworden war, dass sie ohne die Bevormundung von Gott und Kirche alle wichtigen Entscheidungen trifft. Wie er schrieb: „Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese Gott’“.

Im Moment lese ich einen abenteuerlichen Roman: es geht um eine Sekte, die angeblich Geheim-Dokumente besitzt, die der Vatikan vernichten will, weil diese Dokumente das Christentum als Lüge entlarven würden. Diese Sekte hat diese Dokumente seit Jahrhunderten gehütet und hat bis jetzt gewartet, sie zu veröffentlichen, denn – wie es im Buch heißt: „Jetzt sind die Menschen reif geworden. Sie brauchen die Bevormundung der Kirche nicht mehr, sondern können heute selbständig für sich selbst denken.“ Auch wenn dieser Satz aus einem Roman stammt, entspricht er einer weitverbreiteten Einstellung. Scheinbar braucht niemand mehr die Anleitung einer organisierten Religion. Scheinbar sind wir alle reif und mündig geworden und können selbständig entscheiden, was wir glauben und nicht glauben. Die religiöse Welt ist ein Selbstbedienungsladen geworden, wo der mündige Kunde selbständig entscheidet, was er will und nicht haben will. In seinen Einkaufswagen nimmt er vielleicht Taufe mit, aber lässt Abendmahl getrost in den Regalen stehen. Er nimmt Weihnachten und vielleicht auch Erntedankfest, aber auf Ostern und Pfingsten wird verzichtet, denn das sind Reisezeiten. In der östlichen Abteilung des religiösen Supermarkts nimmt er vielleicht Joga und Meditation mit. Auch Schuldgefühle oder Trauer werden ohne kirchlichen oder göttlichen Beistand verarbeitet: alles kann man allein mit sich selbst klären.

Aber diese Mündigkeit hat eine verborgene Schattenseite. Diese Schattenseite lässt sich kurz und knapp mit einem Spruch ausdrücken. Der Spruch lautet: „Ein Mensch wird als Original geboren und stirbt als Kopie.“ Wenn Menschen sich von Gott und seiner Kirche selbständig machen, wollen sie damit ihre Originalität herausstellen. Niemand will zu einer Schafherde gehören. Deswegen reden Kirchendistanzierte verächtlich von den „Schäfchen„, welche die Kirche angeblich ausmachen. „Wie viele Schäfchen hat Ihre Gemeinde?“, ist eine Frage, die jeder Pfarrer kennt.

Jeder von uns will einzigartig sein. Und deswegen fällt es manchen schwer, sich einem Glaubenssystem und einer Gottesdiensttradition unterzuordnen. Man will nicht ein stummes Schäfchen sein, das sich vorschreiben lässt, was es glauben und denken sollte, sondern man will eine mündige Persönlichkeit sein, die selber bestimmt, was sie glaubt und denkt. Aber eigenartigerweise sind Menschen, die selbständig über ihren Glauben verfügen wollen, auffallend unoriginell. Ich hoffe, dass es nicht allzu herablassend klingt, wenn ich sage, dass es deprimierend ist, mit Kirchendistanzierten über Glaubensinhalte zu sprechen, weil man keine originellen Gedanken hört, sondern immer nur dieselben abgedroschenen Redewendungen. Menschen, die dem christlichen Glauben gegenüber gleichgültig sind, sind nicht Originale, sondern sie sind Kopien voneinander. Sie sind gefangen in stereotypen Gedanken; sie befinden sich in einer geistigen Sackgasse. Man hört, wie ein Satz beginnt, und weiß genau, wie der Satz zu Ende gehen wird. Menschen, die sich von „organisierter Religion“ selbständig gemacht haben, sind auffallend steril in ihren Gedankengängen.

Paulus kannte diesen Vorgang. Denn in seinem Römerbrief beschreibt er, was passiert, wenn Menschen Gott als Gott nicht anerkennen wollen, sondern sich von ihm selbständig machen. Paulus schreibt, dass Gott solche Menschen nicht hindert, ihren eigenen Weg zu gehen, sondern er überlässt sie sich selbst. Sie können machen, was sie wollen. Aber es ist, als ob solche Menschen „eingeschlossen“ sind, denn sie sind Gefangene ihrer eigenen Gedankengänge. Wie Paulus schreibt: „Gott hat alle eingeschlossen in den Ungehorsam, damit er sich aller erbarme.“ D. h. wir, die wir zu den treuen Kirchenmitgliedern gehören, können nicht auf die Kirchendistanzierten herabschauen. Wir sind in demselben Boot mit allen Atheisten, mit allen Sektierern, mit allen Esoterikern, mit allen Gleichgültigen. Wir sind genau wie sie total auf die Gnade Gottes angewiesen. Der große Vorteil, den wir aber haben, ist, dass wir schon jetzt wissen dürfen, wo die Lebensreise hinführt. Wir wissen, was Gott mit der Menschheit vorhat. Wir wissen, dass in Gott zuletzt alles, was geschehen ist, einen Sinn bekommen wird. Deshalb können wir mit Paulus bekennen:

O welch eine Tiefe des Reichtums, beides, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unbegreiflich sind seine Gerichte und unerforschlich seine Wege!...Denn von ihm und durch ihn und zu ihm sind alle Dinge. Ihm sei Ehre in Ewigkeit! Amen.

Die Photographien 'Railroad track in Birkenau (Auschwitz II) concentration camp' 2001, Darwinek, sowie 'Gedenkstätte Mittelbau-Dora, einer der Waggons, in denen Häftlinge transportiert wurden', 2007, Thorsten Schramm, wurden unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Dateien unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.

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