Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Joh 3,1-8 Unterernährtes Christsein

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Jesus und Nikodemus, 1850

Trinitatis

Unterernährtes Christsein Joh 3,1-8

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2003

Es war aber ein Mensch unter den Pharisäern mit Namen Nikodemus, einer von den Oberen der Juden. Der kam zu Jesus bei Nacht und sprach zu ihm: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm. Jesus antwortete und sprach zu ihm: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen. Nikodemus spricht zu ihm: Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden? Jesus antwortete: Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen. Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren ist, das ist Geist. Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe: Ihr müsst von neuem geboren werden. Der Wind bläst, wo er will, und du hörst sein Sausen wohl; aber du weißt nicht, woher er kommt und wohin er fährt. So ist es bei jedem, der aus dem Geist geboren ist. Joh 3,1-8

Ende der 70er Jahre ging eine Gruppe von Medizinern durch die Dörfer Ägyptens, um ein Gesundheitsprogramm einzuführen. Diese Gruppe stellte fest, dass fast alle Säuglinge unterernährt waren - und zwar nicht deswegen, weil es nicht genug zum Essen gab, sondern weil die Mütter nicht wussten, wie ein gesunder Säugling aussieht. Diese ägyptischen Mütter hatten nie im Leben ein vollständig ernährtes Kleinkind gesehen. Sie hatten nur Kleinkinder gesehen, die zu mager waren, und die Mütter dachten, dass es normal wäre, so mager auszusehen. Deswegen ahnten sie nicht, dass sie ihre Kinder regelmäßig unterernährt hatten.

Diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen, wenn es um die Frage geht: wie sieht ein gesundes Christsein aus? In der evangelischen Kirche gibt es eine Neigung, ein Christsein für normal zu halten, das abgemagert ist. Wir geben uns mit einem Christsein zufrieden, das eigentlich unterernährt ist, weil wir nicht wissen, wie ein vollständiges Christsein aussieht.

Es ist z. B. ein Merkmal dieses unvollständigen Christseins, dass es introvertiert ist. Ein unterernährter Christ lebt im Glauben für sich selbst und spürt keine Verantwortung, seinen Glauben mit anderen zu teilen. Als Veranschaulichung dieser Ichbezogenheit dient eine Begebenheit. Einmal trafen sich zwei Geschäftspartner an einem Sonntagmorgen zum Frühstück. Als sie auseinander gingen, fragte einer den anderen: „Was machst du heute morgen?“ Er erwiderte: „Ich spiele Golf. Und was machst du?“ Der Geschäftspartner sagte - etwas kleinlaut: „Ich gehe in die Kirche zum Gottesdienst.“ Der Golfspieler fragte: „Seit wann machst du das?“ „Seit meiner Kindheit“ war die Antwort. Dann sagte der Golfspieler: „Ich finde, du sollst die Kirche aufgeben.“ Der Kirchgänger fragte: „Aber wieso?“ Und die Antwort lautete: „Seit 20 Jahren sind wir Geschäftspartner. Wir haben intensiv zusammengearbeitet, wir haben zusammen an Sitzungen teilgenommen, wir haben unzählige Male gemeinsam zu Mittag gegessen, und in diesen 20 Jahren hast du mir nicht ein einziges Mal von deinem Glauben erzählt, und du hast mich nie dazu eingeladen, an irgendetwas in deiner Kirchengemeinde teilzunehmen. Es ist ganz offensichtlich, dass die Sache dir sehr wenig bedeutet.“ Dieser Vorgang ist typisch für unser evangelisches Christsein: ein typischer Protestant redet nicht über den eigenen Glauben und spricht keine Einladungen aus. Denn der Glaube ist – traditionsgemäß - auf die eigene Person und auf die eigenen Bedürfnisse fixiert.

In diesem Zusammenhang könnte man auch an eine Mercedes-Werbung denken, die vor einigen Jahren vorkam. In dieser Werbung wurde gezeigt, wie ein Mercedes in eine Betonmauer knallt. Ein Ingenieur im weißen Kittel ging auf das beschädigte Auto zu und stellte fest, dass der Schaden minimal war. Dann beschrieb er die Bauweise eines Mercedes, die für die Insassen viel Sicherheit bei einem Aufprall bietet. Danach fragte ein Reporter, warum Mercedes seine Sicherheitsvorkehrungen nicht patentiert hätte, denn andere Autofirmen hatten die Sicherheitsmerkmale vom Mercedes kostenlos übernommen. Und der Ingenieur erwiderte: „Wir wollten unsere Sicherheitsentdeckungen nicht für uns behalten, denn manche Dinge im Leben sind so wichtig, dass man sie nicht für sich allein behalten darf.“ Was hier für Autos gilt, gilt besonders für Glaubensinhalte: „Manche Dinge im Leben sind so wichtig, dass man sie nicht für sich allein behalten darf.“ Ein Christsein, das unterentwickelt ist, wird diese Perspektive allerdings nicht empfinden, sondern wird introvertiert bleiben.

Wilde Bienen, 2008, Carly & Art

Ein anderes Merkmal für ein unterernährtes Christsein ist ein Mangel an Gemeinschaft. In diesem Zusammenhang könnten wir etwas von den Mormonen lernen, oder wie sie offiziell heißen: die Kirche Jesu Christi der Heiligen der letzten Tage. Es handelt sich zwar um eine Glaubensgemeinschaft, die aus der Perspektive der Christenheit eine Sekte ist; aber sie haben ein gutes Symbol. Das Symbol dieser Gemeinschaft ist ein Bienenstock. Honigbienen sind ein Symbol für Fleiß und die Mormonen wollen so fleißig wie die Bienen sein. Aber Honigbienen haben eine andere Eigenart: nämlich, sie sind darauf angewiesen, Teil einer Gemeinschaft zu sein. Es ist festgestellt worden, dass eine Honigbiene, die von der Gemeinschaft isoliert wird, nicht überleben kann. Einer, der sich hier auskennt, schrieb folgendes: „Man kann Bienen halten, aber niemals eine einzige Biene: Wenn eine Honigbiene isoliert wird, dann hat sie keine Chance: auch wenn sie die günstigsten Temperaturen hätte, auch wenn sie genügend Wasser und Nahrung hätte, würde sie innerhalb von zwei oder drei Tagen sterben. Ohne Gemeinschaft ist eine Honigbiene nicht lebensfähig.“ Und diese Wahrheit gilt auch für Christen. Ohne eine lebendige Beziehung zu einer christlichen Gemeinschaft ist ein Christ nicht lebensfähig. Aber wer glaubt das schon? Denn gerade Protestanten neigen stark dazu, zu meinen, dass sie ohne christliche Gemeinschaft gut auskommen. Und diese abgemagerte, karge Form des Christseins gilt in unserem Land als normal.

Der Text, der für heute vorgesehen ist, spricht diese Situation an. Nikodemus war ein Anhänger Christi. Denn es heißt:

Er kommt zu Jesus und sagt: Meister, wir wissen, du bist ein Lehrer, von Gott gekommen; denn niemand kann die Zeichen tun, die du tust, es sei denn Gott mit ihm.

Dieser Nikodemus legte ein Bekenntnis ab: er bekannte, dass Jesus von Gott gesandt wurde, dass seine Lehre göttlich ist, und dass Gott mit ihm ist, denn sonst hätte er Zeichen und Wunder nicht vollbringen können. Es gibt eine Menge Kirchenmitglieder, die nicht bereit wären, so viel von Jesus anzuerkennen, wie Nikodemus es tat. Und trotzdem ist Jesus mit dem Zustand von Nikodemus nicht zufrieden. Denn etwas Wesentliches fehlt ihm noch. Jesus reagiert auf sein Bekenntnis mit der Aufforderung:

Wahrlich, wahrlich, ich sage dir: Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen... Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.

Was Jesus hier anspricht ist die Taufe. Die Taufe bedeutet Wiedergeburt, die Taufe bedeutet die Übertragung des heiligen Geistes. Und diese Übertragung des heiligen Geistes hatte sichtbare Folgen: Christsein bedeutete in der Urchristenheit, dass der Getaufte aktiv zu einer Gemeinde gehörte und als Zeuge Jesu Christi galt. Das ist es, was Nikodemus fehlte: er war zwar bereit, heimlich seine Zugehörigkeit zu Christus zu bekennen, - denn er kam zu Jesus in der Nacht - aber er war noch nicht in einer Gemeinde integriert und er war noch nicht so weit, dass er sich als Zeuge Jesu Christi verstand. Er hatte die Taufe mit Wasser und Geist noch nicht empfangen.

Jesus erwartet offenbar sehr viel von der Taufe. Aber wie ist es heute? Ist die Taufe heute vielleicht weniger wirksam als damals zur Zeit der Urchristenheit, weil wir Säuglinge und Kleinkinder taufen, anstatt mündige Menschen? Die Antwort lautet: „Nein“. Die Taufe ist nach wie vor ein Moment der Wiedergeburt und ein Moment der Übertragung des heiligen Geistes. Der heilige Geist ist vorhanden. Aber wie Jesus zu Nikodemus sagte: dieser Geist ist vergleichbar mit dem Wind. Und da, wo Verhärtung vorkommt, wird dieser Wind des Geistes nicht zur Geltung kommen; denn Wind kann nicht durch Stein wehen. Und das ist unser Problem heute: die Gleichgültigkeit Gott gegenüber, die in Menschenherzen heute vorkommt, ist manchmal steinhart.

Wie unsere Bevölkerung heute veranlagt ist, zeigt eine Anekdote. Ein Mann wollte mit der Bahn zur Arbeit fahren und war spät dran. Damit er rechtzeitig zur Bahnstation käme, nahm er eine Abkürzung über die Eisenbahngleise. Durch eine Ungeschicklichkeit rutschte sein rechter Fuß zwischen zwei Balken, und er konnte seinen Fuß nicht befreien. Und dann hörte er ein verdächtiges Geräusch, schaute hoch und sah einen Zug auf sich zukommen. Er versuchte mit aller Gewalt, sich zu befreien, aber sein Fuß war auf eine teuflische Weise festgeklemmt. Als er merkte, dass der Zug näher gekommen war, fing er an zu beten: „O Gott, hilf mir.“ Aber es tat sich nichts. Er schaute den Zug an und betete: „Gott, wenn du mich befreist, werde ich wieder in die Kirche gehen. Das verspreche ich dir.“ Aber es tat sich nichts und der Zug war jetzt bedrohlich nahe. Der Mann betete intensiver: „Gott, wenn du mich befreist, werde ich meinen Lebensstil ändern; ich werde Nächstenliebe praktizieren und großzügige Spenden leisten.“ Der Zug kam immer näher und das Gebet wurde immer verzweifelter: „Gott, wenn du willst, gehe ich auch als Missionar nach Afrika, aber es muss bald etwas passieren.“ Plötzlich war sein Fuß frei und sein Leben war gerettet. Der Mann schaute Richtung Himmel und sagte: „Ich habe Dich umsonst bemüht, denn ich konnte mich doch selbst befreien.“

Dieser Vorgang veranschaulicht, wie Menschen heute veranlagt sind. Solange alles gut geht, ist Gott kein Thema. Wenn eine Krise eintritt, wird auf einmal intensiv gebetet. Ist die Krise glücklich überstanden, ist Gott plötzlich wieder irrelevant. Das Leben geht weiter; Gott wird nicht gedankt, Gott wird nicht gebraucht, an der Beziehung zu Gott hat sich nichts geändert, denn anscheinend kann man alles allein bewältigen. So sieht Gleichgültigkeit heute aus und diese Gleichgültigkeit gilt als normal und sie ist auch steinhart.

Was Menschen brauchen ist eine Widergeburt und nur der Geist Gottes kann zuletzt so etwas bewirken. In diesem Zusammenhang gibt es eine schöne Verheißung in dem Propheten Hesekiel, wo Gott spricht:

Ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen und euch ein fleischernes Herz geben. (Hes 36,26)

Möge Gott uns helfen, dass wir um seinen Geist bitten, dass er unser Christsein vollständig macht, dass jeder von uns in einer christlichen Gemeinschaft integriert ist, dass jeder von uns sich als Zeuge Jesu Christi versteht.

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Die Photographie 'Wilde Bienen, 2008, Carly & Art', ist lizenziert unter der Creative Commons-Lizenz Attribution ShareAlike 2.0.

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