Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 22, 33 - 49 Wie der Gekreuzigte einen Bandenführer in New York bekehrte

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'Todesstunde', 1980 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Todesstunde', 1980
Walter Habdank. © Galerie Habdank

Gemeinschaft zwischen dem Mann, der zur rechten Seite Jesu gekreuzigt wurde, und Jesus, dessen Hände in einer Segenshaltung erhoben sind.

Karfreitag

Wie der Gekreuzigte einen Bandenführer in New York bekehrte Lukas 22, 33 - 49

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2005

Aber einer der Übeltäter, die am Kreuz hingen, lästerte ihn und sprach: Bist du nicht der Christus? Hilf dir selbst und uns! Da wies ihn der andere zurecht und sprach: Und du fürchtest dich auch nicht vor Gott, der du doch in gleicher Verdammnis bist? Wir sind es zwar mit Recht, denn wir empfangen, was unsre Taten verdienen; dieser aber hat nichts Unrechtes getan. Und er sprach: Jesus, gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst! Und Jesus sprach zu ihm: Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein. Lukas 22, 33 - 49

In den 50er Jahren gab es in der Stadt New York eine Bande mit den Namen Mau Mau’s. Der Führer dieser Bande hieß Nicky Cruz, ein Einwanderer von Puerto Rico. Er beschrieb sein Leben in den 50er Jahren mit den folgenden Worten:

„Als ich die Straßen in der Stadt New York entlangging, da hatten die Leute Angst vor mir, denn ich hatte einen schlimmen Ruf. Ich war ein Bandenführer von 205 Jungen und 175 Mädchen. Sie taten alles, was ich ihnen sagte. Ich habe sie beherrscht! Wir haben viel angerichtet, vom Mord bis zu schlimmen kleineren Delikten. Wir hatten weder Achtung vor dem Leben, noch vor irgendetwas anderem.“

Dieser Anführer wurde verhaftet und musste eine Therapie durchmachen. Aber der Psychologe, der ihn behandelte, hat ihn als hoffnungslosen Fall aufgegeben. Er sagte zu ihm:

"Nicky, für dich gibt es keine Hoffnung mehr, du bist gerade richtig für den elektrischen Stuhl und dann in die Hölle. Du bist so krank, weil du voll von Hass bist. Innerlich bist du vollkommen zerrissen von Hass und Bitterkeit. Ja, ich glaube, du hassest die ganze Welt, jeden, der dir Liebe zeigt, wahrscheinlich wohl auch dich selbst."

Aber dieser Mann, der als hoffnungsloser Fall abgestempelt wurde, erlebte 1958 einen dramatischen Wendepunkt. Er wurde von einem sogenannten Erweckungsprediger besucht. Diesen Erweckungsprediger würde man heute abwertend in die Kategorie „fanatischer Evangelikaler“ einordnen. Er besuchte die Banden New Yorks, weil er glaubte, dass Gott ihn dort hingeschickt hatte. Und in den finsteren Hinterhöfen dieser Stadt erzählte er von der Liebe Gottes in Jesus Christus - mit einer Naivität und einer Hartnäckigkeit, die nur ein Dickschädel aufbringen kann. Dieser Pfarrer wurde einmal von Nicky Cruz auf brutalste Weise zusammengeschlagen - er hat ihm dabei das Nasenbein gebrochen - weil er zu ihm sagte: „Ich möchte dein Freund sein“.

Eines Tages hielt dieser Pfarrer eine Predigt vor 2000 Menschen, bei der Nicky Cruz anwesend war. Er war begleitet von 75 Bandenmitgliedern - ausgestattet mit geladenen Revolvern. In der Predigt wurde von der Kreuzigung Jesu berichtet. Nicky Cruz wurde von dieser Predigt erschüttert. Er sagt folgendes dazu:

„Der Prediger fing an, von Jesus als Gott in Menschengestalt zu reden, wie er gewaltige Wunder wirkte, die nur durch göttliche Allmacht geschehen konnten. Andererseits litt Er wie ein Mensch – wie ich. Doch Er war nur von großer Retterliebe durchdrungen. Er wollte immer nur helfen, soviel er konnte, und trotzdem: Die Menschen haben ihn gekreuzigt! Sie waren so bösartig gegen ihn, sie wollten ihm nicht nur wehtun und ihn demütigen; und da begann ich, ihm nachzufühlen.... Ich habe verstanden, dass er verachtet und ausgestoßen war.“

Nicky Cruz, Yarek Shalom, 2007

In diesem Moment erkannte dieser Bandenführer, dass Gott in Jesus Mensch geworden war, dass er das schlimmste Leiden auf sich genommen hatte, und auf diese Weise die Entfremdung überbrückt hatte, die ihn von Gott trennte. Er erkannte in dem Gekreuzigten, dass Gott unsere schlimmsten Schmerzen und unsere tiefste Einsamkeit kennt, denn er hat alles selber durchgemacht. Diese Erkenntnis verwandelte Nicky Cruz. Er wurde befreit von seinem Hass und Selbst-Hass und zum ersten Mal in seinem Leben war er fähig, einen anderen Menschen zu lieben. Nicht nur er, sondern viele aus seiner Bande wurden verwandelt – und nicht nur oberflächlich und nicht nur vorübergehend, sondern grundlegend und dauerhaft.

Was hier beschrieben wird ist eine urchristliche Dynamik. Buchstäblich Millionen von Menschen haben in dem gekreuzigten Jesus eine Offenbarung der Liebe Gottes gesehen und sind durch diese Erkenntnis grundlegend und dauerhaft verändert worden.

Der Allererste, der durch die Kreuzigung Jesu verwandelt wurde, war der sogenannte Übeltäter zur rechten Seite Jesu. Dieser Mann ist der Erste einer Reihe von Millionen Menschen, die in dem gekreuzigten Jesus einen Zugang zu einem neuen, unvergänglichen Leben fanden. Dieser sogenannte Übeltäter zeigt uns, was man in Jesus am Kreuz sehen kann.

Die Menschen, die nur vordergründig schauen, sehen in Jesus einen hilflosen Versager, der sich selbst nicht helfen konnte. Dreimal in dem Lukasbericht wird Jesus vorgehalten, dass er sich selbst nicht helfen kann. Aber der Mann zur Rechten sieht das unschuldige Leiden und die Vergebungsbereitschaft. Und er sieht in Jesus, dass eine Tür offen ist, die zu dem Reich Gottes führt. Er will deshalb mit Jesus bleiben und richtet dementsprechend ein Gebet an Jesus. Und das Gebet wird erhört. Er ist der Erste, der mit Jesus ins Paradies eingeht.

Nach der Auferstehung Jesu gab es einen vergleichbaren Vorgang bei Thomas. Thomas war nicht dabei, als der auferstandene Christus unter den Jüngern zum ersten Mal erschienen war. Eine Woche später war Thomas dabei, und er erkannte, dass Jesus nicht nur wieder am Leben war, sondern er sagte zu diesem Jesus: „Mein Herr und mein Gott“. Niemand sonst im Neuen Testament hat es jemals gewagt, so direkt zu Jesus zu sagen: Du bist Gott. Normalerweise wäre eine solche Aussage eine Gotteslästerung. Aber Thomas hat dieses erstaunliche Bekenntnis geliefert, weil er die Narben Jesu gesehen hatte. Die Narben an den Händen Jesu und an seiner Seite, wo die Lanze ihn durchbohrt hatte, sind Hinweise auf den Gott, den wir Christen anbeten. Er ist ein Gott, der Mensch wurde, der gelitten hat, der auferstanden ist. Die Narben waren ein sichtbares Zeichen, dass Gott unsere Situation aus eigener Erfahrung kennt, dass er mit uns fühlt und mit uns leidet, und dass er alles Leiden überwinden kann. Thomas ist wie der Übeltäter zur Rechten Jesu: Beide sehen in den Wunden Jesu eine Offenbarung Gottes.

Aber es gibt in diesem Zusammenhang eine verblüffende Wahrheit, die oft übersehen wird. Bei dieser Überbrückung der Kluft zwischen Gott und uns Menschen, geht es in dem ersten Moment nicht darum, dass Gott Mitgefühl mit uns hat, sondern umgekehrt: dass wir Menschen mit Gott mitfühlen.

Vorhin wurde der Bandenführer zitiert. Als er zum ersten Mal in seinem Leben von dem gekreuzigten Jesus hörte, sagte er: „da begann ich, ihm nachzufühlen.... Ich habe verstanden, dass er verachtet und ausgestoßen war.“ Er sagte nicht: da begann ich zu erkennen, dass Er mir nachfühlt, dass Er versteht, dass ich verachtet und ausgestoßen bin – sondern umgekehrt: da begann ich, Ihm nachzufühlen.... Ich habe verstanden, dass Er verachtet und ausgestoßen war.

In diesem Zusammenhang ist es hilfreich, eine Begebenheit zu betrachten. Es geht um zwei Schwestern. Diese Schwestern waren unverheiratet und lebten zusammen in einer Wohnung. Eines Tages hatten sie einen bitteren Streit und danach redeten sie kein Wort miteinander. Sie blieben zusammen in der Wohnung, - denn keine von ihnen konnte es sich leisten auszuziehen - aber mit Kreide wurden Linien auf dem Boden gezeichnet, um die Wohn- und Schlafbereiche zu trennen. Die Schwestern lebten jahrelang in einem Zustand der Entfremdung: jede hat ihre eigenen Mahlzeiten vorbereitet, sie schliefen in demselben Schlafzimmer, sie konnten einander immer wieder sehen, aber sie redeten kein Wort miteinander und jede blieb auf der eigenen Seite der Kreidelinie. Und dann in einer Nacht stand eine Schwester auf, um das Badezimmer aufzusuchen. Sie stolperte über ihre eigenen Füße und landete auf dem Boden so ungeschickt, dass sie einen Oberschenkelhalsbruch bekam. Die andere Schwester hörte ihren Schrei und überquerte die Kreidelinie, um ihr zu helfen. Sie rief den Notarzt an und hielt ihre Schwester in den Armen, während sie auf den Krankenwagen warteten. In dem Moment war alle Entfremdung überwunden. Das Überschreiten der Trennungslinie geschah, weil eine Person Mitleid mit einem Leidenden spürte.

Und so ist es auch zwischen Gott und uns. Ein Mensch empfindet Mitlied mit dem gekreuzigten Jesus und überquert damit die Trennungslinie zwischen ihm und Gott.

Es gibt eine Auslegungstradition, die behauptet, dass Gott durch den Tod Jesu am Kreuz mit uns versöhnt wurde. Aber die Reihenfolge ist umgekehrt. Nicht Gott muss mit uns versöhnt werden, sondern wir müssen mit Gott versöhnt werden. Paulus schreibt in dem 2. Korintherbrief: „Lasst euch mit Gott versöhnen.“ Nicht Gott hat etwas gegen uns, sondern wir haben etwas gegen Gott. Nicht Gott muss besänftigt werden, sondern wir Menschen. Nicht Gott ist voller Feindseligkeit, sondern wir Menschen. Nicht Gott führt Kreuzigungen aus, sondern Menschen. Und deswegen fängt Versöhnung an, wenn Menschen aus Mitgefühl Jesus gegenüber die Entfremdungslinie überqueren. Gott kommt zu uns in Jesus am Kreuz, aber er wartet darauf, dass wir auf ihn zugehen. Gott kommt zu uns in Brot und Wein, aber er wartet darauf, dass wir zu seinem Altar kommen, um das Geschenk seiner Liebe anzunehmen.

Dietrich Bonhoeffer schrieb dementsprechend in einem Gedicht folgendes:

Menschen gehen zu Gott in ihrer Not. Flehen um Hilfe, bitten um Glück und Brot.
Um Errettung aus Krankheit, Schuld und Tod. So tun sie alle, Christen und Heiden.
Menschen gehen zu Gott in Seiner Not, finden Ihn arm, geschmäht, ohne Obdach und Brot,
sehn Ihn verschlungen von Sünde, Schwachheit und Tod, Christen stehen bei Gott in Seinen Leiden.

Hier ist also der Vorgang, der Menschen zu Christen macht: „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden.“ Damit fängt Christsein an. Christen betrachten die Leidensgeschichte Jesu und empfinden Mitgefühl. Auf diese Weise entdecken wir, dass Gott mit uns Mitgefühl hat. Das Gedicht Bonhoeffers schließt mit den Worten:

Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not, sättigt den Leib und die Seele mit Seinem Brot, stirbt für Christen und Heiden den Kreuzestod, und vergibt ihnen beiden.

Möge Gott uns helfen, nicht nur zu erkennen, wie Gott in Jesus am Golgatha gelitten hat, sondern wir er auch heute mit uns Menschen leidet. Denn dieses Mitleiden ist unser Trost und unsere Befreiung – im Leben und im Sterben. Amen.

Die Photographie von Nicky Cruz, Yarek Shalom, 2007, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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