Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Apg. 16, 23 – 34 In der Finsternis singen können

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'Paulus singt im Kerker', 1979 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Paulus singt im Kerker', 1979 - Walter Habdank.
© Galerie Habdank

Cantate

In der Finsternis singen können Apg. 16, 23 – 34

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2006

Nachdem man sie hart geschlagen hatte, warf man sie ins Gefängnis und befahl dem Aufseher, sie gut zu bewachen. Als er diesen Befehl empfangen hatte, warf er sie in das innerste Gefängnis und legte ihre Füße in den Block. Um Mitternacht aber beteten Paulus und Silas und lobten Gott. Und die Gefangenen hörten sie. Plötzlich aber geschah ein großes Erdbeben, so daß die Grundmauern des Gefängnisses wankten. Und sogleich öffneten sich alle Türen, und von allen fielen die Fesseln ab. Als aber der Aufseher aus dem Schlaf auffuhr und sah die Türen des Gefängnisses offenstehen, zog er das Schwert und wollte sich selbst töten; denn er meinte, die Gefangenen wären entflohen. Paulus aber rief laut: Tu dir nichts an; denn wir sind alle hier! Da forderte der Aufseher ein Licht und stürzte hinein und fiel zitternd Paulus und Silas zu Füßen. Und er führte sie heraus und sprach: Liebe Herren, was muß ich tun, daß ich gerettet werde? Sie sprachen: Glaube an den Herrn Jesus, so wirst du und dein Haus selig! Und sie sagten ihm das Wort des Herrn und allen, die in seinem Hause waren. Und er nahm sie zu sich in derselben Stunde der Nacht und wusch ihnen die Striemen. Und er ließ sich und alle die Seinen sogleich taufen und führte sie in sein Haus und deckte ihnen den Tisch und freute sich mit seinem ganzen Hause, daß er zum Glauben an Gott gekommen war. Apg. 16, 23 – 34

Im Jahre 1872 gab es das erste Telefongespräch. Der Erfinder des Telefons, Alexander Graham Bell, sprach zum ersten Mal über eine Telefonleitung mit einem Mitarbeiter. Und dieser Mitarbeiter war so begeistert, dass er einen Laut von sich gab, der spontan entstanden ist und der damals keine Bedeutung hatte. Er sagte nämlich: „Hallo“. Bis zu diesem Moment hat es dieses Wort nicht gegeben.

Aber die Silbe „Hal“ als Teil eines Ausdrucks der Begeisterung ist offenbar so alt wie die Menschheit. Wenn der Mensch jubelt, entstehen Worte mit der Silbe „Hal“. In Arabisch gibt es das Wort „‚ahalla“ – das Geschrei einer Frau, die ein neugeborenes Kind begrüßt. Und es gibt das arabische Wort „tahallala“ – ein freudiges Schreien. In Deutsch gibt es Worte wie „halali“ oder „hali halo“ als Ausrufe der Jagdbegeisterung. Und in Hebräisch gibt es Hallel - der Jubelruf des Lobpreises. Und von Hallel kommt „Halleluja“, das „lobe den Herrn“ bedeutet. Halleluja ist der Osterruf der Christenheit.

Diese Geschichte mit der Silbe Hal macht deutlich, dass Jubel als etwas eigenmächtiges erlebt wird, was einen Menschen überfallen kann - so wie das Heilshandeln Gottes die Menschen überfällt. Lobpreis ist etwas Urmenschliches, was aus den Menschen herausbricht, etwas, was nicht unterdrückt werden kann.

Zum Beispiel: in der Stadt Richmond im US-Bundestaat Virginia gibt es eine Gegend, in der wohlhabende Menschen wohnen. In diesem Wohnviertel gibt es auch eine Kirche. Wenn die Gemeinde Gottesdienst feiert, hören die Nachbarn das Singen. Aber das Singen wurde als öffentliche Ruhestörung empfunden. Die Bewohner sammelten deshalb Unterschriften für einen Antrag bei dem Stadtrat, um dieses laute Singen zu unterbinden. Auch ein Jude wurde gefragt, ob er unterschreiben möchte, denn die Bewohner hatten fest damit gerechnet, dass gerade er das Singen einer christlichen Gemeinde nicht anhören möchte. Aber er verweigerte seine Unterschrift mit der Begründung: „Ich kann nicht unterschreiben: Denn wenn ich glaubte – wie diese Christen – dass mein Messias gekommen wäre, dann würde ich es von jedem Dach und auf jeder Straße von Richmond rufen – und niemand würde mich davon abbringen.“ Lobpreis als Erwiderung auf das Handeln Gottes kann überfallartig zustande kommen und ist also nicht zu unterdrücken.

Aber das heißt nicht, dass Lobpreis automatisch in jeder Situation vorkommt. Im Alten Testament gibt es auffallende Einschränkungen. In dem ganzen ersten Buch Mose z. B. gibt es keinen Lobgesang. Es gibt kein Singen in der Bibel bis zu dem Auszug der hebräischen Sklaven aus Ägypten. Erst als die befreiten Sklaven am jenseitigen Ufer des Schilfmeeres stehen, wo sie beobachtet hatten, dass ihre Feinde vernichtet wurden und dass sie endgültig frei sind – erst dann gab es Singen. Da heißt es:

„Damals sangen Mose und die Israeliten dies Lied dem HERRN und sprachen: Ich will dem HERRN singen, denn er hat eine herrliche Tat getan...Der HERR ist meine Stärke und mein Lobgesang.“

'Die trauernden Juden an den Wassern Babylons', Eduard Bendemann, nach 1832, Jüdisches Museum Frankfurt

'Die trauernden Juden an den Wassern Babylons', Eduard Bendemann, nach 1832, Jüdisches Museum Frankfurt

Das Volk Israel kann also Singen, wenn es Befreiung erlebt. Aber Israel kann nicht in der Gefangenschaft singen. In Psalm 137 wird die babylonische Gefangenschaft mit den folgenden Worten geschildert:

An den Wassern zu Babel saßen wir und weinten, wenn wir an Zion gedachten. Unsere Harfen hängten wir an die Weiden dort im Lande. Denn die uns gefangenhielten, hießen uns dort singen und in unserm Heulen fröhlich sein: «Singet uns ein Lied von Zion!» Wie könnten wir des HERRN Lied singen in fremdem Lande?

Auch im Totenreich gibt es keinen Lobgesang. Wie es in Ps. 115 heißt:

Die Toten werden dich, HERR, nicht loben, keiner, der hinunterfährt in die Stille.

Oder Jesaja 38

Denn die Toten loben dich nicht, und der Tod rühmt dich nicht.

Aber mit der Auferstehung Jesu Christi tritt etwas Neues ein. Die Urchristenheit war davon überzeugt, dass Christus nach seiner Kreuzigung in das Totenreich eingebrochen ist, um die Gefangenen dort freizulassen. Es entstand ein christlicher Mythos, dass Christus um Mitternacht vor Ostersonntag gewaltsam in das Totenreich eingebrochen ist und alle gefesselten Toten von ihren Banden befreite – grundsätzlich alle. Die Totenwelt wurde mit Licht überflutet und die Auferstandenen stimmten einen Lobgesang an. Zum ersten Mal sangen die Toten – nach dieser Legende.

Die Befreiung von Paulus und Silas aus dem Gefängnis in Philippi spiegelt diesen Mythos von dem Abstieg Christi in das Totenreich wider. Im Gefängnis waren Paulus und Silas in totaler Dunkelheit, wie die Toten im Totenreich. Die Befreiung wurde um Mitternacht eingeleitet. Alle Türen wurden aufgebrochen; von allen fielen die Fesseln ab. Grundsätzlich alle Gefangenen wurden frei gesetzt. Und Licht drang in die Finsternis ein. Alles spielte sich im Gefängnis von Philippi so ab wie in dem Totenreich bei dem Abstieg Christi.

Aber besonders auffallend ist es, dass Paulus und Silas um Mitternacht Gott loben, obwohl noch nichts eingetreten ist, obwohl sie in dem sogenannten innersten Gefängnis gefesselt sind und obwohl sie offene Wunden haben, weil sie misshandelt worden sind. In der Tiefe der Nacht wird Gott gelobt, als ob die Befreiung schon eingetreten wäre.

Und hier ist der Unterschied zu der Zeit vor der Auferstehung Christi. Vorher war das Volk Israel nicht in der Lage, Gott in der Gefangenschaft zu loben. Im Exil gab es keinen Lobgesang; Gefangene und Tote loben Gott nicht – heißt die ursprüngliche Botschaft des Alten Testamentes. Aber seit der Auferstehung Christi gibt es keine Einschränkung mehr: Gott wird überall gelobt, auch in der tiefsten Finsternis und auch in den schlimmsten Gefängnissen.

Wenn es etwas gibt, was tausendfach dokumentiert worden ist, dann ist es die Eigenart von Christen, dass sie im Gefängnis Gott Loblieder singen. In China zum Beispiel wurde ein Missionar verhaftet und in Isolationshaft gesteckt. Eines Tages konnte er hören, wie ein Gefangener jenseits einer Mauer angefangen hatte zu singen. Er hörte in Chinesisch das Weihnachtslied: „Herbei, ob ihr Gläub’gen“. Danach wurde eine Reihe von Weihnachtsliedern gesungen. Der Missionar hatte ein Problem mit seinen Stimmbändern, aber er hat ein englisches Kirchenlied gepfiffen mit dem Titel: „Gott sei mit dir, bis wir uns wiedersehen.“ Der verborgene Sänger hatte zugehört und erwiderte mit einem entsprechenden Loblied. Der Missionar hat den verborgenen Sänger nie sehen können, aber dieses Singen und Pfeifen, das durch die Gefängnismauern hindurchging, hat ihn getröstet und gestärkt.

Oder im Ostblock gab es einen Pfarrer, der 14 Jahre in einem kommunistischen Gefängnis verbrachte, drei davon in Einzelhaft 9 Meter unter der Erdoberfläche. Wie Paulus und Silas trug er offene Wunden der Misshandlung. Er hat trotzdem Gott gelobt – zuerst aus einem Pflichtgefühl heraus – nicht weil es ihm danach zumute war. Aber als er in diesem Lobgesang ausharrte, erlebte er die Nähe und die Schönheit Gottes, er bekam Visionen des Himmels und diese Visionen haben ihn am Leben erhalten. Ärzte im Westen haben ihm hinterher bestätigt, dass es ein Wunder war, dass er noch lebte. Rein medizinisch gesehen, hätte er längst tot sein müssen. Er glaubte, dass Loblieder ihn am Leben erhalten hatten.

Und so könnte man endlos weiter berichten – von Christen, die in der Gefangenschaft Loblieder sangen - in Sibirien, in Hanoi, in Alabama, in Chile, in Isolationshaft, in Konzentrationslagern, in Arbeitslagern. Christen haben immer wieder in tiefster Finsternis Gott Loblieder gesungen, weil sie in entscheidenden Augenblicken von der Nähe Gottes umfasst und getragen wurden. Wie am Anfang erwähnt: Jubel wird öfters als etwas Eigenmächtiges erlebt, was einen Christenmenschen überfallen kann.

Die Osterzeit, in der wir uns befinden, ist eine Aufforderung, Gott zu loben, der uns von der Gefangenschaft der Vergänglichkeit befreit hat. Wie Paulus und Silas vorgeführt haben: Lobgesang hängt nicht von der äußeren Situation ab. Wir können oft nicht bestimmen, wie es uns geht und wie wir uns fühlen, aber wir können bestimmen, was unsere Stimmbänder tun. Singen ist manchmal eine Willensentscheidung, gegen die eigene Lustlosigkeit.

Aber Singen bezeugt die österliche Befreiung, die Christus für uns verwirklicht hat. In einer Hinsicht haben die Propheten des alten Bundes recht gehabt: ein Gefangener und ein Toter können nicht singen. Die Unfähigkeit, Gott zu loben ist Zeichen einer tödlichen Gefangenschaft. Wer aber zu Christus gehört ist grundsätzlich kein Gefangener und kein Toter. Unsere Loblieder sind unsere Freiheitslieder. Und möge Gott uns helfen, ihn mit unseren Liedern zu verherrlichen, heute und in Ewigkeit.

Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat. © Galerie Habdank, www.habdank-walter.de
Wir danken dem Jüdischen Museum Frankfurt für die freundliche Genehmigung, das Gemälde 'Die trauernden Juden an den Wassern Babylons', Eduard Bendemann, nach 1832, kostenfrei auf unserer website zeigen zu dürfen.

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