Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Petrus 5, 1 – 5 Hat Jesus die Institution Kirche gewollt?
Misericordias Domini
Hat Jesus die Institution Kirche gewollt? 1. Petrus 5, 1 – 5
Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2006
Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde. So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen. Desgleichen, ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter. Petrus 5, 1 – 5
Vor einigen Jahren predigte in einer Frankfurter Kirche ein Vikar. Von der Kanzel konnte er sehen und hören, dass eine Frau weinte. Nach dem Gottesdienst ging er auf diese Frau zu und fragte sie, ob seine Predigt sie so ergriffen hätte. Da antwortete die Frau: „Nein, Herr Vikar, darüber habe ich nicht geflennt. Aber ich habe einen Sohn, und der studiert auch Theologie. Und als Sie auf der Kanzel gestanden haben, da habe ich gedacht: Wenn mein Georg eines Tages das nicht besser macht wie der Herr Vikar, dann habe ich das ganze schöne Geld hinaus geschmissen.“
Diese Begebenheit veranschaulicht eine Denkweise. Es kostet Geld, Prediger auszubilden und es kostet Geld, die Kirche aufrechtzuerhalten. Wenn man Inkompetenz in der Kirche erlebt – oder meint zu erleben – dann kommt schnell die Frage: lohnt es sich, die Kirche und ihre Amtsträger aufrechtzuerhalten? Wenn die Menschen eine Enttäuschung mit der Kirche erleben, stellt sich schnell die Frage, ob nicht das viele Geld, das durch Spenden und Kirchensteuer für die Kirche investiert wird, rausgeschmissenes Geld ist.
Auch unter denen, die treu zur Kirche halten, gibt es Zweifel, ob der ganze Apparat der Kirche notwendig ist. In diesem Zusammenhang hört man Schimpfworte wie „Wasserkopf“ oder man spricht von „Institution Kirche“. Dieser Begriff „Institution Kirche“ ist unweigerlich negativ gemeint: da denkt man an bürokratische Schwerfälligkeit, an arrogante Machtorientierung, an sterile Bequemlichkeit.
Und man fragt sich: Hat Jesus diese Art Kirche gewollt? Könnten wir es nicht viel einfacher haben? Und es gibt eine Menge Personen, die es scheinbar einfacher haben, weil sie ein Christsein ohne Kirche praktizieren. Sie sagen: ich kann eine Beziehung zu Gott ohne Kirche haben. Ich kann ohne Kirche glauben und beten. Ich kann ohne Kirche anständig leben.
Und wer so denkt, kann sich auf die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts stützen. Da haben sogenannte kritische Bibelforscher für sich herausgearbeitet, dass die Entstehung der Kirche angeblich eine nachösterliche Erscheinung ist, die nicht von Jesus beabsichtigt war. Diese Bibelforscher haben eine scharfe Grenze gezogen zwischen der vermeintlich reinen Lehre Jesu und nachträglichen Verfälschungen, wie z. B. der Entstehung von Ämtern in der Kirche, der Verurteilung von abweichenden Meinungen über Jesus oder der Entstehung von Hierarchie und Dogma. Für die liberale Theologie des 19. Jahrhunderts war die Entstehung von festen kirchlichen Strukturen etwas, was Jesus nicht gewollt hatte. Was Jesus angeblich gewollt hatte war, dass jede einzelne Person in individueller Freiheit eine Beziehung zu Gott und zu den Mitmenschen pflegt, ohne den verderblichen Einfluss von institutionalisierter Religion, denn organisierte Religion – nach dieser Denkweise – kann den toleranten Geist Jesu nur unterdrücken und verfälschen.
Und bis heute lebt der Geist dieser sogenannten liberalen Denkweise weiter. Zum Beispiel: vor einigen Wochen ist ein Judasevangelium zum Vorschein gekommen: ein Text, der offenbar ursprünglich im 2. Jahrhundert entstanden ist. In diesem Judasevangelium wird berichtet, wie Jesus seine eigenen Jüngern auslacht, als sie Abendmahl feiern – weil er merkt, dass sie keine Ahnung haben, worum es wirklich geht. Der einzige Jünger, der geistreich genug ist, um Jesus zu verstehen, ist Judas. Und Jesus nimmt Judas beiseite und vertraut ihm eine Geheimlehre an. Judas erfährt, dass es darum geht, dass jeder Mensch die sterbliche Hülle seines Leibes abstreifen muss, damit seine unvergängliche Seele freigesetzt werden kann. Deswegen sollte Judas auch Jesus verraten, damit Jesus von seinem Leib befreit wird. Erlösung ist also für jeden Menschen eine individuelle Sache. Da braucht man keine Sakramente, keine Gottesdienste, kein Dogma, keine Kirchenämter - und übrigens auch keine Auferstehung. Man braucht nur die reine Lehre Jesu, die allerdings von engstirnigen Kirchenmenschen nicht begriffen werden kann.
In Tageszeitungen und in Fernsehberichten wurde dieses Judasevangelium vorgestellt und ausgewertet. Was dabei zum Vorschein kam, ist berechenbar. Das Judasevangelium wurde natürlich als Sensation gefeiert, die die Grundfeste des Christentums erschüttern könnte. Es wurde die Frage gestellt: Will die offizielle Kirche – besonders die katholische Kirche - hier etwas unterdrücken? Dass das Judasevangelium nicht in die Bibel aufgenommen wurde, wurde als Ausdruck einer intoleranten Gewaltherrschaft ausgelegt. Die Kirche damals wollte angeblich keine freie Diskussion über Jesus zulassen, sondern hat abweichende Meinungen abgewürgt – und zwar weil die Kirche als Institution intolerant, steril und machtorientiert war - und immer noch ist. So lautet die Bewertung der Institution Kirche.
In diesem Zusammenhang kann der Text, der für heute vorgesehen ist, etwas Orientierung geben. Wie haben vorhin folgendes gehört:
Die Ältesten unter euch ermahne ich (Petrus), der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll: Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist; achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt; nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund; nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde...Desgleichen, ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter.
Von diesem Text können wir folgendes erkennen:
Erstens: die Gemeinde wird mit einer Schafherde verglichen; das heißt: die Mitglieder der Kirche sind auf etwas angewiesen, was über ihnen steht. Ein Christ kann nicht einfach für sich selbst entscheiden, was er glauben und tun sollte, sondern er ist auf Glaubensinhalte und auf Weisungen angewiesen, die von außerhalb der eigenen Person kommen - und zwar von oben herab – aber nicht vom Himmel herab – denn das wäre zu abstrakt und zu unsicher, sondern von Menschen, die beauftragt worden sind. Und zweitens: Petrus weiß, dass diese beauftragten Personen besonderen Versuchungen ausgesetzt sind, dass es in dieser Hierarchie Amtsmissbrauch und fehlende Motivation geben kann; deswegen spricht er Ermahnungen aus. Trotzdem erwartet er, dass diese Leiter der Gemeinde, die mit apostolischer Autorität beauftrag worden sind, anerkannt werden, denn er schreibt: „Ihr Jüngeren, ordnet euch den Ältesten unter.“
Denn es gibt keine Alternative: die Kirche muss Strukturen haben, die sicherstellen, dass das Evangelium von Generation zu Generation bewahrt wird. Es darf nicht vorkommen, dass Schafe nach eigenem Ermessen nach Futter suchen müssen und in die Irre gehen und umkommen – wenn man bei dem Bild der Schafherde bleibt.
Der Ausgangspunkt für diese Strukturen ist, dass die Apostel von Jesus persönlich beauftragt wurden. Außerdem schreibt Petrus, dass er Zeuge der Leiden Christi war (was beinhaltet, dass er auch Zeuge der Auferstehung war). Er war Zeuge, nicht nur in dem Sinne, dass er Jesus selbst mit eigenen Augen gesehen hatte, sondern noch wichtiger war es, dass er und die anderen Apostel Auslegungen der Heils-Ereignisse bekamen, die Jesus selbst vermittelte und die verbindliche Glaubensinhalte darstellen. Und diese verbindlichen Inhalte wurden von der Apostel-Generation an die Nachfolge-Generationen weitergeleitet.
Es gibt also für uns heute keinen direkten Zugang zu Jesus. Der Weg zu Jesus geht über die Apostel und deren Nachfolger. Es gibt keine sogenannte reine Lehre Jesu, die unabhängig von der apostolischen Tradition herauszuschälen wäre. Wer den reinen, wahren Jesus sucht – abgetrennt von dem, was nach ihm kam - wird offenbar nur die eigenen Wunschvorstellungen über Jesus entdecken.
Aber es geht hier nicht nur um die Objektivität oder die Verbindlichkeit unseres Glaubens. Es geht hier um etwas, was viel wichtiger ist.
Es gibt eine alte Frau, die als Putzfrau in einem Hotel arbeitet– obwohl sie Arthritis hat. Ihr Tag beginnt um 6 Uhr morgens. Einmal ist ein Gast des Hotels mit ihr ins Gespräch gekommen und erfuhr, dass sie von Montag bis Samstag ab sechs Uhr den Boden sauber macht – auf ihren Knien, ein Putzeimer daneben; ihre Hände sind rot geworden. Der Gast sagte zu ihr: „Mindestens können Sie sonntagsmorgens ausschlafen. Hoffentlich ruhen Sie sich gründlich aus an diesem Tag.“ Die Frau erwiderte: „Nein, am Sonntag steh' ich auch früh auf, um mit meinen Enkelkindern in die Kirche zu gehen.“ Der Gast fragte: „Aber würde es Ihnen nicht helfen, Ihre Kraft aufrechtzuerhalten, wenn Sie sich sonntags richtig ausschlafen würden?“ Die Großmutter sagte: „Der Kirchgang am Sonntag ist das einzige, was mir die Kraft gibt, die anderen sechs Tage zu überstehen.“
Es geht also um Kraft. Es geht nicht um etwas Abstraktes, es geht um die Kraft, die man braucht, um die Herausforderungen des Alltags zu überstehen.
Und diese Kraft kommt durch die Anwesenheit Gottes unter seinem Volk in der Kirche. Die kirchlichen Strukturen sind dazu da, damit Gott unter seinem Volk dauerhaft wohnen kann. Darum geht es. Gott will nicht bloß, dass einzelne Personen anständig glauben und leben. Gott will dauerhaft unter seinem Volk wohnen – sogar bis in die Ewigkeit hinein. Deswegen gibt es Sakramente und Ämter. Deswegen muss Geld ausgegeben werden, damit Menschen ausgebildet werden, die das Evangelium nicht verfälschen und die Sakramente abschwächen; und bei diesem Vorhaben ist es unvermeidbar, dass Geld verschwendet wird. Das muss die Kirche in Kauf nehmen, wenn sie eine dauerhafte Wohnstätte Gottes sein soll.
Früher hat Gott in einem Zelt in der Wüste gewohnt, und dann in dem Tempel in Jerusalem. Jetzt wohnt Gott überall da, wo Christen sich in seinem Namen versammeln, um Bibelauslegungen zu hören, verbindliche Glaubensinhalte zu bekennen und Sakramente zu feiern. Ob es uns gefällt oder nicht – Gott wohnt innerhalb unserer fehlerhaften kirchlichen Strukturen. Denn Gott will unter uns wohnen – nicht abstrakt, sondern mit handgreiflicher Konkretheit – so konkret wie Brot und Kelch, so konkret wie eine Kirchenvorstandssitzung, so konkret wie ein Vikar, der eine so miese Predigt hält, dass er damit eine Frau zum Weinen bringt.
Aber nur so bekommen wir Anteil an dem Leben und an der Kraft Gottes. Alles andere wäre Selbstbetrug. Möge Gott uns helfen, in den fehlerhaften Personen und Strukturen unserer Kirche den lebendigen Gott zu erkennen und anzufassen, der dauerhaft unter uns wohnen will.
Die Abbildung der Ikone des Apostels Petrus, zweite Hälfte des 16. Jhds., sowie die Photographie von Egiraldo, 2008 wurden unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht.
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Die Abildung 'Zwölf Apostel überragt von Christus Pantokrator in einem Medaillon, 21. Jahrhundert', Хрюша, 2009 wurde unter den Bedingungen der Creative Commons "Namensnennung-Weitergabe unter gleichen Bedingungen 3.0 Unported"-Lizenz veröffentlicht.
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