Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Hebr 13,12-14 Was hätte Jesus getan?

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Judica

Was hätte Jesus getan? Hebr 13,12-14

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2002

'Marina Oswald Porter in Minsk', 1959
'Harvey Oswald'

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen. Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir. Hebr 13,12-14

Im Jahre 1963 wurde der Präsident der USA, John Kennedy, erschossen. Der Attentäter hieß Lee Harvey Oswald, der einige Tage später auch Opfer eines Attentats wurde. Seine Witwe war eine sowjetrussische Frau mit Namen Marina. Diese Frau konnte so gut wie kein Englisch sprechen, aber sie wollte trotz allem, was passiert war, in Amerika bleiben. Eine presbyterianische Kirchengemeinde in dem Bundesstaat Michigan schrieb einen Brief an die Witwe und lud sie dazu ein, in ihre Gemeinde zu kommen. In dem Brief hieß es: Gemeindeglieder würden eine Wohnung für sie besorgen und ihr helfen, Englisch zu lernen, damit sie ihr Leben neu anfangen könnte. Diese versöhnliche Geste erregte Aufmerksamkeit. Die Gemeinde wurde mit Briefen überflutet, die Verärgerung und Unverständnis zum Ausdruck brachten. Es hieß: Wie kann eine christliche Gemeinde eine Frau aufnehmen, die vermutlich eine Kommunistin und deshalb Atheistin ist, deren Mann einen abscheulichen Mord begangen hatte? Eine Frau schrieb: „Ich habe nie erlebt, dass eine Kirchengemeinde jemals so etwas getan hätte.“ Der Pfarrer dieser Gemeinde gab sich Mühe, jeden Brief zu beantworten. In jedem Antwortbrief schrieb er, dass er zwar die Gefühle und Emotionen verstehen konnte, die in den Briefen zum Ausdruck kamen. Aber jeder Antwortbrief des Pfarrers endete mit demselben Satz; der lautete: „Eine Sache haben Sie uns nicht klar gemacht: Was haben wir getan, was unser Herr und Heiland Jesus Christus nicht getan hätte?“

'Familie Honecker beim Spaziergang im Winter', 1977.

Es gab eine ähnliche Situation in der ehemaligen DDR, als Erich Honecker und seine Frau eine Zeitlang buchstäblich wohnsitzlos waren, und ausgerechnet von einer Pfarrfamilie aufgenommen wurden, die unter dem DDR-Regime Erich Honeckers gelitten hatte. Auch diese Familie wurde scharf kritisiert und es gab Kirchenaustritte.

Aber solche versöhnlichen Handlungen gehen auf Jesus selbst zurück. Denn auch Jesus wurde scharf kritisiert, weil er Vergebung auf eine scheinbar verschwenderische Weise zugesprochen hatte: z.B. er feierte Tischgemeinschaft mit Zöllnern, die Erpresser, Betrüger und Verräter waren, und hat sie dadurch in die Gemeinschaft mit Gott aufgenommen, oder er ließ sich von einer Prostituierten küssen, die seine Füße küsste, weil sie von seiner Gnade überwältigt war; oder er heilte Kranke am Sabbat, - was verboten war - um sie auf diese Weise sofort in die Gemeinschaft mit Gott zu bringen; und er sagte zu einer Ehebrecherin: ich verurteile dich nicht. Diese versöhnliche Zusage Jesu an die Ehebrecherin war für manche Christen so anstößig, dass die Geschichte mit der Ehebrecherin von manchen Bibeln entfernt wurde. Und wegen der Grenzenlosigkeit der Gnade, die Jesus zeigte, entstand die Entscheidung, ihn umzubringen, wie das Markusevangelium bezeugt.

Gnade ist grundsätzlich grenzenlos und vorbedingungslos: sonst ist sie nicht Gnade. Und es wird immer Menschen geben, die Gnade nicht akzeptieren können, weil sie auf Strafe und Vergeltung nicht verzichten wollen.

Denken Sie zum Beispiel an die Situation heute in dem Land, in dem Jesus wohnte. Es gibt zwischen Israelis und Palästinensern eine nicht endende Kette von Rache und Vergeltung. Frieden im Nahen Ostern wird nur dann eintreten, wenn eine Seite bereit ist, zu vergeben. Aber wenn ein Israeli oder ein Palästinenser es wagen würde, von Vergebung zu sprechen, der würde als Verräter gelten und würde sich durch seine Vergebungsbereitschaft vielleicht sogar in Lebensgefahr begeben.

'Zu seinen Füßen', 1987 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Zu seinen Füßen', 1987 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

Vergebung erregt Empörung, wenn Menschen auf Strafe nicht verzichten wollen. Und Gnade ist anstößig aus einem anderen Grund: denn Gnade stellt alle Menschen auf die gleiche Ebene. Jesus erzählte ein Gleichnis von Arbeitern in einem Weinberg, die am Ende des Tages alle einen Silbergroschen bekamen, egal ob sie eine Stunde oder den ganzen Tag gearbeitet hatten. Diejenigen, die länger gearbeitet hatten, klagten den Weinbergbesitzer an: „Diese letzten haben nur eine Stunde gearbeitet, doch du hast sie uns gleichgestellt, die wir des Tages Last und Hitze getragen haben.“ Hier spricht gekränkte Eitelkeit und hier spricht die Sünde, die sich einbildet, vor Gott besondere Ansprüche zu stellen, die erarbeitet worden sind.

Zuletzt wurde Jesus hingerichtet – teilweise wegen seiner scheinbar unverantwortlichen Vergebungsbereitschaft. Und bei seiner Hinrichtung wurde er aus der Stadt gebracht, denn Hinrichtungen durften nicht innerhalb der Stadt ausgeführt werden, und dies galt besonders für Jerusalem, die eine heilige Stadt war, und dies galt besonders für Kreuzigungen, bei denen das Opfer als verflucht galt. Eine Kreuzigung innerhalb der Stadtmauer hätte die ganze Stadt unrein gemacht. Der Text aus dem Hebräerbrief spricht diese Situation an, wo es heißt:

Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.

Es ist ein Paradox, dass Jesus die Unreinheit auf sich nehmen musste, um das Volk zu reinigen, und dass Jesus einen Fluch auf sich nehmen musste, damit ein Segen von ihm ausgeht, und dass Jesus von aller menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen werden musste, damit Menschen Gemeinschaft mit Gott finden. Er musste aus der Stadt entfernt werden, damit die Stadt heilig bleibt, obwohl Jesus selber der Inbegriff der Heiligkeit war. Und der Hebräerbrieftext fordert uns dazu auf, den Weg Jesu zu gehen. Und wer diesen Weg geht muss damit rechnen, auch etwas von der Anstößigkeit zu teilen, die Jesus erlebte.

Wie so etwas aussehen kann, wurde im Jahre 1996 vorgeführt. An Ostern vor 6 Jahren besuchten 125 Christen eine Moschee in Köln, um sich zu entschuldigen für das, was die Kreuzritter vor 900 Jahren im Namen Christi angerichtet hatten. Im Jahre 1096 war Köln eine der Städte, von denen die Kreuzzüge anfingen. Als die Kreuzritter Jerusalem drei Jahre später erreichten, richteten sie ein Blutbad an: Tausende von Juden und Muslimen wurden damals erbarmungslos lebendig verbrannt und kaltblütig abgeschlachtet. Diese Kreuzzüge waren so unbeschreiblich grausam, dass die Beziehungen zwischen Christen, Juden und Muslimen bis heute von den Ereignissen damals belastet sind. Die 125 Christinnen und Christen gaben eine Erklärung in der Kölner Moschee ab, - In Englisch, Deutsch und Türkisch - in der festgestellt wurde, dass die „Kreuzritter den Namen Christi verraten hatten, indem sie sich auf eine Weise verhielten, die gegen die Gesinnung Jesu war“. Es hieß: Indem sie das Kreuz als Wappenschild erhob, wurde die Botschaft des Kreuzes pervertiert, denn das Kreuz steht eigentlich für „Versöhnung, Vergebung und selbstlose Liebe“. Es wurde um Entschuldigung gebeten für die Abscheulichkeiten, die im Namen Christi begangen wurden, die „zutiefst bedauert“ werden. Nachdem diese Erklärung vorgelesen wurde, reagierten die 200 Muslime mit anhaltendem Beifall. Der Imam sagte in seiner Erwiderung: “Als ich hörte, was Sie vorhaben, war ich erstaunt und voller Hoffnung. Ich dachte: Wer diese Idee hatte, muss von Gott inspiriert worden sein.“ Der Imam sagte außerdem, dass Muslime wissen, dass auch sie Christen und Juden gegenüber Sünden begangen hatten, aber wussten nicht, was sie unternehmen sollten. Jetzt hatten sie von Christen ein vorbildliches Beispiel bekommen, nach dem sie sich richten könnten.

Diese Erklärung in der Moschee in Köln war die erste Station einer sogenannten „Versöhnungswanderung“, die den 3000 Km-Weg nachgehen sollte, den die Kreuzritter nahmen: Richtung Osten durch Europa, durch die Balkanländer, durch die Türkei bis Jerusalem. Unterwegs sollten Synagogen und Moscheen besucht werden, in denen Christen um Entschuldigung bitten würden für das, was ihre Vorfahren taten.

Gemälde von der Kreuzigung Jesu, 1869

Die christliche Gruppe, die diesen Versöhnungsweg ging, musste mit Kritik und Unverständnis rechnen – und zwar von Kirchenmitgliedern. Es wird Christen geben, die sagen: Wie können Christen heute die Schuld übernehmen für Sünden, die vor 900 Jahren begangen wurden? Aber nach christlicher Auffassung hat Jesus, obwohl er unschuldig war, die Schuld der Menschheit aus allen Zeiten auf sich genommen, als er am Kreuz hing. Deswegen ist es denkbar, dass seine Nachfolger so etwas nachahmen.

Und es wird Christen geben, die diese Erklärung in der Moschee für eine unterwürfige Anbiederung halten. Aber Jesus war dadurch aufgefallen, dass er sich offenbar keine Gedanken machte, ob es würdelos ist und als Anbiederung ausgelegt werden könnte, wenn er sich von einer Prostituierten die Füße küssen lässt oder wenn er eine Mahlzeit mit Betrügern und Erpressern teilt oder ehemalige Terroristen in seinen Jüngerkreis aufnimmt.

Es wird Christen geben, die sagen: die Muslime sollten sich zuerst entschuldigen für ihre Terroristen. Aber die entscheidende Frage hier lautet: was hätte Jesus getan? Und Jesus ist dadurch aufgefallen, dass er die Initiative ergriff; er hat nicht gewartet, bis die Menschen Reue zeigten, sondern hat ihnen vorbedingungslos Gemeinschaft und Frieden mit Gott angeboten. Und deswegen galt Jesus zuletzt als unrein und musste aus der heiligen Stadt und von dem heiligen Volk entfernt werden.

Es ist scheinbar erniedrigend, um Vergebung zu bitten und Schuld einzugestehen. Man kommt sich dabei schmutzig vor. Und es kostet Überwindung, versöhnlich zu sein, wenn man verletzt worden ist. Aber Jesus hat vorgemacht, welchen Weg seine Nachfolgerinnen und Nachfolger zu gehen haben.

Möge Gott uns helfen, den Weg Jesu zu gehen, dass auch wir Gnade und Vergebung anbieten, auch in Situationen, in denen Gnade und Vergebung anstößig und unverantwortlich erscheinen – so wie Jesus das getan hat.

Die hier abgebildeten Photos von Harvey und Marina Oswald-Porter sind in den Vereinigten Staaten gemeinfrei, da sie von einem Beamten oder Angestellten einer US-amerikanischen Regierungsbehörde in Ausübung seiner dienstlichen Pflichten erstellt wurden und deshalb nach Titel 17, Kapitel 1, Sektion 105 des US Code Werke der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika sind.
Das Photo 'Familie Honecker beim Spaziergang im Winter', 1977, wurde im Rahmen einer Kooperation zwischen dem Bundesarchiv und Wikimedia Deutschland aus dem Bundesarchiv für Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt. Das Bundesarchiv gewährleistet eine authentische Bildüberlieferung nur durch die Originale (Negative und/oder Positive), bzw. die Digitalisate der Originale im Rahmen des Digitalen Bildarchivs
Das Gemälde von der Kreuzigung Jesu, 1869, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
* Wir danken Frau Friedgard Habdank sehr herzlich, dass sie uns die Bilder ihres Mannes auf so großzügige und kostenlose Weise zur Verfügung gestellt hat.
© Galerie Habdank, www.habdank-walter.de

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