Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Lukas 9,57-62 Einfältigkeit erwünscht

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Anne Sullivan (sitzend) und Helen Keller

Anne Sullivan (sitzend) und Helen Keller

Oculi

Einfältigkeit erwünscht Lukas 9,57-62

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2009

Und als sie auf dem Wege waren, sprach einer zu ihm: Ich will dir folgen, wohin du gehst. Und Jesus sprach zu ihm: Die Füchse haben Gruben, und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege. Und er sprach zu einem andern: Folge mir nach! Der sprach aber: Herr, erlaube mir, dass ich zuvor hingehe und meinen Vater begrabe. Aber Jesus sprach zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes! Und ein andrer sprach: Herr, ich will dir nachfolgen; aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind. Jesus aber sprach zu ihm: Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes. Lukas 9,57-62

Im 19. Jahrhundert gab es in der Nähe der Stadt Boston in dem Nordosten der USA eine Anstalt für Menschen, die geistesgestört waren. In der damaligen Zeit war die Betreuung solcher Menschen in einem Anfangsstadium. Um das Jahr 1880 gab es eine junge Frau in dieser Anstalt mit dem Namen Anne Sullivan, die für die Betreuer eine totale Überforderung war: diese Frau galt als ein hoffnungsloser Fall, denn sie wirkte eher wie ein Tier als wie ein Mensch. Sie wurde deshalb in dem Keller in einer Gefängniszelle eingesperrt.

Eine ältere Krankenschwester, die kurz vor der Pensionierung stand, wollte versuchen, diese Frau zu erreichen, denn sie war der Meinung, wie sie sagte, dass es für alle Kinder Gottes Hoffnung gibt. Bei den Mahlzeiten saß sie vor der Gefängnistür und schenkte der eingesperrten Frau einfach ihre Anwesenheit. Sie versuchte nicht, in die Zelle zu gehen, denn die eingesperrte Frau war dafür bekannt, dass sie Personen mit roher Gewalt angriff, die in ihre Nähe gerieten. Eines Tages hinterließ die Krankenschwester zwei kleine Kuchenstücke vor der Gefängnistür, die sie selber gebacken hatte. Am nächsten Tag stellte sie fest, dass der Kuchen aufgegessen worden war. Jeden Donnerstag hinterließ sie Kuchen für die eingesperrte Frau.

Im Laufe der Zeit stellten die Ärzte fest, dass die Frau in dem Kellerkäfig anders geworden war. Eines Tages wurde sie sogar aus ihrer Zelle befreit und nach oben gebracht zu den anderen Patienten. Nach einiger Zeit durfte sie sogar nach Hause gehen. Aber sie ging nicht nach Hause sondern wollte bleiben, damit sie anderen helfen konnte. Sie wurde später die Betreuerin einer Frau, die blind und taubstumm war (mit dem Namen Hellen Keller).

Es gab einen Moment, als diese Krankenschwester eine Möglichkeit sah, wie sie dem eingesperrten Mädchen helfen konnte. In diesem Moment hat sie eine Entscheidung getroffen, und diesen Entschluss hat sie konsequent ausgeführt. Es wäre sehr leicht gewesen, diese Entscheidung vor sich her zu schieben und dabei zu denken: ich mache mich nicht verrückt wegen einer Person, die hoffnungslos geistesgestört ist.

Diese Begebenheit kann uns helfen, den heutigen Lukastext einzuordnen. Die große Verheißung der Bibel lautet, dass Gott dabei ist, im Verborgenen eine neue Wirklichkeit herzustellen, die im Neuen Testament Reich Gottes genannt wird. Der Begriff „Reich Gottes“ bedeutet, dass Gott angefangen hat, in Jesus seinen Herrschaftsbereich auszudehnen und dass der Tag kommen wird, an dem er dieses Werk überall und endgültig vollenden wird. Und jeder, der zu Jesus gehört, kann zu diesem Reich Gottes beitragen.

Die neue Welt Gottes wird durch Menschen geprägt, die bereit sind, im Namen Jesu zu sprechen und zu handeln. Die Bibel bezeugt, dass unsere Worte und Taten, auch wenn sie so klein wie Weizenkörner sind, eines Tages zu der großen Vollendungsernte beitragen werden, die Gott mit dieser Welt vorhat.

Es kommt nicht auf die Größe der Handlung an, sondern es kommt auf etwas an, was für unsere Ohren merkwürdig klingt: es kommt auf Einfältigkeit an. Der Begriff „einfältig“ bedeutet im heutigen Sprachgebrauch so viel wie naiv, simpel, unbedarft, gutgläubig, kindlich. Aber mit dem Begriff „einfältig“ ist vielmehr Eindeutigkeit, Einmütigkeit oder eine innere Einstimmigkeit gemeint. Wer einfältig ist, ist nicht gespalten oder verzettelt, sondern hat einen eindeutigen Weg eingeschlagen und alles ausgeblendet, was ihn von seiner Eindeutigkeit abbringen könnte.

Ein einfältiger Mensch im Sinne Jesu Christi hat irgendwann eine Entscheidung getroffen, wie er Christus dienen will, und hat seitdem nicht mehr zurückgeschaut. Solche einfältigen Menschen haben oft eine auffallende Schlichtheit und Sanftmut.

Walt Disney, 1938

Walt Disney

Wie der Begriff Einfältigkeit gemeint ist, lässt sich an einem Beispiel aus der Spielfilmindustrie veranschaulichen. Im Jahre 1937 produzierte Walt Disney den ersten abendfüllenden Zeichentrickfilm: „Schneewittchen und die sieben Zwerge“. Dieser Spielfilm gilt als einer der besten 100 Filme, die je produziert wurden. 750 Künstler arbeiteten an diesem Film. Dazu gehörte ein Zeichner mit dem Namen Ward Kimbell. Er arbeitete unter Anderem an einer Szene, bei der die Zwerge beim Suppenessen ihre Küche fast zerstörten. Diese Szene dauerte 4-1/2 Minuten. Für diese 4-1/2 Minuten hat Ward Kimbell 240 Tage gearbeitet.

Als Walt Disney diese Suppenepisode anschaute, fand er sie zwar lustig, aber er meinte, dass diese Szene nicht dazu beiträgt, die Geschichte zu erzählen, um die es geht, sondern den Erzählfluss unterbricht. Also wurde diese Episode herausgeschnitten. 8 Monate hat dieser Künstler umsonst gearbeitet. Diese Entscheidung, unerbittlich alles zu entfernen, was die Intaktheit einer Erzählung stört, ist ein Beispiel für Einfältigkeit – im christlichen Sinne des Wortes. Einfältigkeit bedeutet: es wird Entscheidungsmomente geben, in denen Kompromisslosigkeit erforderlich ist, um Intaktheit herzustellen.

Und das ist die Botschaft des Lukastextes. Jesus begegnet drei Personen, die in Frage kommen, etwas für das Reich Gottes zu tun. Bei allen drei Personen geht es um einzigartige Entscheidungsmomente. Wie oft hat ein Mensch die Gelegenheit, Jesus zu begegnen und seinen Ruf zu hören? Von allen drei fordert Jesus etwas, was unbarmherzig wirkt. Bei dem ersten sagt Jesus: bereite dich darauf vor, dass du entwurzelt oder verstoßen werden könntest, wie ich. Zu dem zweiten sagt er: du kannst nicht abwarten, bis dein Vater stirbt, du musst hier und jetzt die Entscheidung treffen, dein Leben neu zu orientieren. Zu dem dritten sagt er: du kannst es dir nicht leisten, Zeit für Verabschiedungen zu nehmen; wenn du das tust, wirst du es nicht mehr schaffen, vorwärts zu schauen.

Es geht hier nicht um moralische Grundsätze: Jesus will nicht behaupten, dass es allgemein gut ist, entwurzelt, pietätlos und nur vorwärtsschauend zu sein. Es geht um Entscheidungsmomente, die nicht verspielt werden dürfen

Die Krankenschwester, die am Anfang erwähnt wurde, hatte einen Entscheidungsmoment, als sie beschloss: ich werde mich vor den Käfig der geistesgestörten Frau immer wieder hinsetzen und immer wieder für sie Kuchen backen, bis etwas Gutes passiert. Für Menschen, die Christusnachfolge nicht kennen, wirken solche Entscheidungen überspannt. Die Bereitschaft, etwas für Jesus zu tun, kann dazu führen, dass man Dinge tut, die dem sogenannten gesunden Menschverstand widersprechen.

Ein gutes Beispiel dafür ist ein Polizeihauptmeister in Lübeck mit dem Namen Manfred Wnuk. Er hat irgendwann entdeckt, wie er der Sache Jesu dienen könnte: nämlich durch die Verteilung von Bibeln an gefasste Straftäter. Über 1000 Taschenexemplare hat er im Laufe der Jahre schon verschenkt. Er hat dabei folgendes festgestellt: „Hoffnungslose erhalten durch Jesus und die Freundlichkeit des Neuen Testaments neuen Mut.“

Auch die Brandstifter des Lübecker Synagogenbrandes vom März 1994 haben von ihm eine Bibel bekommen. Als die vier Täter in die Haft überführt wurden, saß dieser Polizist mit ihnen auf den hinteren Sitzen des Polizeiautos und betete mit ihnen. Bevor sie eingeschlossen wurden, drückte er jedem eine Bibel in die Hand. „Ich wollte ihnen dadurch ein Stück Hoffnung geben – die wussten doch gar nicht, was sie taten“ sagte er dazu. Dieser Polizist gilt sicherlich unter seinen Kollegen als Spinner oder Fanatiker. Aber er nimmt es in Kauf, ein Außenseiter zu sein, weil er seinen Weg gefunden hat, auf dem er Jesus nachfolgen kann. Man merkt an seinen Bemerkungen, dass er einfältig ist: für Außenstehende wirken seine Ansichten kindlich-naiv, aber innerlich ist seine Haltung eindeutig und er wirkt wie einer, der Intaktheit gefunden hat.

Entscheidungsmomente sind meistens unauffällige Momente. Der Moment, als ich die Entscheidung traf, Theologie zu studieren, war völlig unscheinbar. Ich hatte gerade einen langatmigen Gottesdienst mit einer ideenlosen Predigt erlebt. Hinterher, als ich etwa 100 Meter von der Kirche entfernt war, sagte eine innere Stimme: „Du könntest es genauso gut machen.“ Und in diesem Moment dachte ich: ich sollte versuchen, Theologie zu studieren und sehen, wo das hinführt. So kann die Begegnung mit Jesus aussehen.

Der Ruf in die Nachfolge sieht manchmal beiläufig aus. Dieser Ruf hängt scheinbar mit Zufällen zusammen. Wenn die Predigt an diesem Tag zufällig ansprechend gewesen wäre, würde ich vielleicht heute nicht hier stehen. Und wenn ich mich nicht sofort danach nach den Adressen von theologischen Seminaren erkundigt hätte, hätte mein Leben vielleicht auch eine ganz andere Richtung genommen. Es wäre sehr leicht gewesen, zu sagen: ich muss endlich wieder einen Brief an meine Eltern schreiben, oder ich will zuerst einen Kinofilm anschauen; die Suche nach einer theologischen Ausbildungsmöglichkeit hat noch viel Zeit. Entscheidungsmomente sind kurzlebig.

Möge Gott uns allen helfen, die Momente zu erkennen, in denen Jesus zu uns spricht und uns eine Möglichkeit eröffnet, wie wir ihm nachfolgen können und dem Reich Gottes dienen. Amen.

Das Bild 'Helen Keller mit Anne Sullivan' ist ein Pressefoto der George Grantham Bain collection, das von der Library of Congress 1948 gekauft wurde. Laut dieser Bibliothek sind keine Restriktionen bakannt, dieses Photo zu nutzen.
Das Bild von Walt Disney wurde (oder wird hiermit) von seinem Autor als gemeinfrei veröffentlicht. Dies hat weltweite Gültigkeit.

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