Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: 1. Mose 3,4-6 Wunder sind leicht zu übersehen

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Predigt: Wunder sind leicht zu übersehen

Gehalten von Pfarrer Phil Schmidt zur Silbernen Ordination: Jubiläumsgottesdienst am 14. November 1999:
1. Mose 3,4-6

Da sprach die Schlange zum Weibe: Gott weiß: an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte. Und sie nahm von der Frucht und aß und gab ihrem Mann, der bei ihr war, auch davon, und er aß.

Ein katholischer Priester, ein orthodoxer Priester und ein evangelischer Pfarrer haben zusammen Golf gespielt. Normalerweise dauert eine Golfrunde etwa 4 Stunden. Aber an diesem Tag dauerte sie 8 Stunden, weil die vorherige Gruppe außergewöhnlich langsam spielte. Als die drei Geistlichen fertig waren, gingen sie zu der Verwaltung, um sich über die vorherige Gruppe zu beschweren. Denn Leute, die so furchtbar langsam spielen, gehören nicht auf einem Golfplatz. Aber dann erfuhren sie etwas Erstaunliches; die Personen aus der vorherigen Gruppe waren alle blind. Es war also ein Wunder, dass sie überhaupt eine Runde Golf gespielt hatten. Der katholische Priester sagte: „Blind! Das ist unglaublich! Wir haben ein Wunder erlebt! Das muss ich dem Vatikan melden.“ Der Orthodoxe sagte: „Blind! Das ist unglaublich! Ich muss sofort zur Kirche gehen und ein Lob- und Dankgebet sprechen!“ Der Evangelische sagte: „Blind! Das ist unglaublich! Warum spielen sie dann nicht in der Nacht?!“

Diese kleine Anekdote will eine menschliche Eigenart veranschaulichen, die wir in der evangelischen Kirche gut kennen. Wir Evangelische haben eine Neigung zur Ehrfurchtslosigkeit. Wir haben eine Neigung, die Wunder zu übersehen, die direkt vor unseren Augen vorkommen. Wir haben eine Neigung, eher das zu sehen, was uns ärgert und was schief gegangen ist. Der Evangelische in der Anekdote, der fragte: Warum spielen diese Blinden nicht in der Nacht? veranschaulicht diese Haltung. Er sieht nicht das Wunder, er sieht nur das, was ihn persönlich belastet.

Aber diese Haltung ist so alt wie Adam und Eva. Die Geschichten von Adam und Eva sind nicht historische Geschichten; denn es geht nicht darum, zu berichten, was vor 4000 oder 6000 Jahren im Garten Eden vorkam, sondern es geht darum, zu berichten, was jeden Tag überall und immer wieder vorkommt.

Adam und Eva lebten buchstäblich in einem Paradiesgarten – also besser geht’s nicht. Aber haben sie Gott dafür gedankt und ihre Möglichkeiten ausgenutzt? Nein, denn sie dachten: „Es mag sein, dass es uns gut geht, aber vielleicht könnte es uns noch viel besser gehen, denn von einem Baum dürfen wir nicht essen. Was will uns Gott vorenthalten? Und dieser einzige verbotene Baum wurde für sie wichtiger als die Tausende von Bäumen, die ihnen zur Verfügung standen.

Und unsere Situation als Kirchengemeinde ist vergleichbar. Denn eine Kirchengemeinde ist wie ein Paradiesgarten; es gibt viele Angebote, die uns zur Verfügung stehen - Angebote, die sogar einen Vorgeschmack des Paradieses bieten. Denken Sie zum Beispiel an die Bibel: die Bibel ist ein Wunder und produziert Wunder in denen, die sich mit ihr befassen. Die Bibel ist das meist verbreitete Buch der Menschheitsgeschichte. Denn die Bibel enthält einen unermesslichen Reichtum an Gnade und Kraft. Das hat z.B. Martin Luther erlebt, als er sich mit den Römerbrief auseinandersetzte. Als er versuchte, den Text zu verstehen, erlebte er ein Wunder der Gnade: plötzlich verstand er eine Wahrheit über Gott, für die er vorher blind war; plötzlich kam es ihm vor, als ob er im Paradies wäre, wie er berichtet. Und was er erlebte, kann jedem von uns passieren. Es ist mir auch so ergangen, wie Luther; bei mir passierte das Wunder der Gnade im Jahre 1968, als ich mich mit dem letzten Buch der Bibel befasste.

Die Bibel kann einen in den Himmel versetzen. Aber man muss die Möglichkeiten nutzen, die da sind. Wir haben in unserer Gemeinde noch einen Bibelgesprächskreis; in einer Gesprächsrunde schließt sich die Bibel auf eine Weise auf, die durch privates Lesen in der Bibel nicht möglich ist. Die Bibel ist wie ein Baum im Paradiesgarten. Die Bibel ist ein Wunder, das wir direkt vor Augen haben – buchstäblich direkt vor Augen in jedem Gottesdienst – da liegt sie im Mittelpunkt des Altars – aber dieses Wunder wird übersehen und nicht als Wunder erkannt, weil es diese Neigung in uns gibt, nur das zu sehen, was einen ärgert oder was einem scheinbar fehlt.

Ein anderes Angebot unserer Gemeinde, das ein Wunder darstellt, ist unser viel geschmähter Gottesdienst. Der evangelische Gottesdienst wird von vielen als Belastung erlebt, als etwas, was man vermeiden sollte, als etwas Langweiliges und Totes. Aber unser evangelischer Gottesdienst ist ein Wunder; er ist wie ein Baum im Paradiesgarten, der einen Vorgeschmack des Himmels bietet. Denn die Liturgie des Gottesdienstes hat den christlichen Glauben über die Jahrhunderte in seiner Vollständigkeit bewahrt. Das kann die Predigt allein nicht schaffen.

Ich erinnere mich an ein Gemeindeglied in der Gemeinde in San Francisco, in der ich konfirmiert wurde. Dieser Mann war früher von der Kirche entfremdet, aber dann kam ein Wendepunkt in seinem Leben und er trat in die Kirche ein. Als ich ihn kennenlernte, leitete er mit seiner Frau eine Jugendgruppe, zu der ich gehörte. Einmal sagte er etwas, was wir Jugendliche überhaupt nicht begreifen konnten. Er sagte, dass die Liturgie für ihn wichtiger sei als die Predigt. Damals habe ich ihn überhaupt nicht verstanden, denn die Liturgie war für mich damals ein noch größeres Leiden als die Predigt. Es war schlimm genug, einer Predigt zuzuhören, aber die Liturgie war scheinbar nur etwas, was da war, damit der Gottesdienst lange genug dauerte, um die volle narkotische Wirkung zu haben, die vorgesehen war. Aber jetzt verstehe ich ihn. Denn die Worte und Handlungen der Liturgie haben eine unermessliche Kraft. Aber man muss mit dieser Liturgie langfristig leben, um diese verborgene Wunderkraft zu entdecken.

Was mir geholfen hat, diese verborgene Kraft zu entdecken, war, dass ich Gottesdienste in verschiedenen Ländern erleben durfte. Als ich vor 27 Jahren den ersten deutschen Gottesdienst erlebte, fühlte ich mich sofort zu Hause, denn die liturgischen Worte waren mir vertraut. Und genauso zu Hause war ich auf der karibischen Insel Barbados (wo die Armee mich hin versetzte), als ich Ende der 60er Jahre dort meinen ersten anglikanischen Gottesdienst erlebte. Diese weltweite Gemeinschaft, die entsteht und miteinander verbunden ist, weil liturgische Traditionen jahrhundertelang gleich bleiben, ist ein Wunder.

Wenn wir das Vater Unser sprechen, zum Beispiel, sprechen wir dasselbe Vater Unser, das die Jünger Jesu sprachen; wir sprechen dasselbe Vater Unser, das Augustin und Franz von Assisi und Martin Luther und Martin Luther King gesprochen haben. Dasselbe Vater Unser wird jeden Sonntag in Peking, in Johannesburg, in Santiago, in Sydney gesprochen. Und dasselbe gilt für andere Elemente der Liturgie: die Psalmen, die Bekenntnisse, die Einsetzungsworte, die liturgischen Worte, die wir singen; solche Texte verbinden uns mit Christen an allen Orten und aus allen Zeiten. Und auch deshalb haben sie eine verborgene Kraft.

Aber der Gottesdienst enthält mehrere Wunder. Jesus sagte zum Beispiel: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ In jedem christlichen Gottesdienst ist Jesus als der Auferstandene persönlich anwesend, was auch ein Wunder darstellt. Aber unsere Situation ist vergleichbar mit der Situation der Emmausjünger. Am ersten Ostersonntag waren sie unterwegs und Christus, der Auferstandene, war mit ihnen, aber sie haben seine Anwesenheit nicht wahrgenommen. Wie es heißt: „Ihre Augen wurden gehalten, dass sie ihn nicht erkannten.“ Diese Emmausjünger haben nur vor Augen gehabt, was sie durch die Kreuzigung scheinbar verloren hatten; sie haben nicht erkannt, das ein Wunder direkt vor ihnen stand. Erst durch eine lange Bibelauslegung und eine Abendmahlsfeier in der Anwesenheit dieses Auferstandenen sind ihre Augen aufgegangen. Manchmal muss man also etwas Geduld und Ausdauer aufbringen, bis ein Wunder erkennbar wird. So ist es mit dem Gottesdienst. Vielleicht wird man 100 Gottesdienste besuchen und erst im 101. Gottesdienst werden die Augen aufgehen für die Wunder, die da sind.

Und auch die Menschen, die den Gottesdienst aufsuchen, sind ein Wunder. Denn Glaube ist nicht etwas, was wir Menschen in uns selbst produzieren, sondern etwas, was der Geist Gottes uns schenkt. Und auch Glaube, der so klein ist wie ein Senfkorn, kann Berge versetzen, hat Jesus gesagt. Das heißt: auch Glaube, der nur darin besteht, dass ein Mensch die Wahrheit über Gott sucht, - ohne zu wissen, ob es etwas gibt, was zu finden ist – so ist das auch eine Gnade und ein Wunder. Wenn 30 Leute in einem Gottesdienst sind, egal wie schwach sie im Glauben sind, sind das 30 Pfingstwunder.

Vor 20 Jahren habe ich in einer Predigt eine Begebenheit erzählt, die ich heute wiederholen möchte. (Das ist ein Vorteil, wenn man 25 Jahre in einer Gemeinde ist: irgendwann kann man anfangen, Anekdoten zu wiederholen, denn die Gemeinde, die vor 20 Jahren zugehört hat, existiert nicht mehr oder – falls jemand von damals heute noch da ist – wird sich nicht mehr daran erinnern können.) Es wird von einer Frau berichtet, die in Florenz die Uffizien-Galerie aufsuchte. Nachdem sie einmal durchgegangen ist, sagte sie zu einem Wächter: „Ich verstehe das nicht; diese Gemälde sollen Meisterwerke sein, aber sie sehen so langweilig aus: Ich sehe nichts Außergewöhnliches hier“. Der Wächter erwiderte: „Gnädige Frau, diese Bilder müssen sich nicht mehr bewähren; sie haben sich über die Jahrhunderte bewährt; der Zuschauer muss sich ihnen gegenüber bewähren.“ Und dasselbe gilt für die Wunder, die uns zur Verfügung stehen: die Bibel, die Sakramente, das Gesangbuch, der Glaube, so wie er in unserer Liturgie formuliert ist – solche Dinge haben sich längst als Wunder erwiesen; jetzt werden wir auf die Probe gestellt: werden wir die Gnade erkennen, die uns als Reichtum geschenkt worden ist? Denn wenn wir diesen Reichtum nicht erkennen und Gott nicht dafür danken, wird unsere Entwicklung als christliche Gemeinschaft blockiert. Es gibt so etwas wie eine seelische Verkrüpplung, die entsteht, wenn man nur auf das fixiert ist, was einem fehlt oder was einen ärgert und deshalb keine Augen dafür hat, was einem geschenkt worden ist.

Und warum werden Wunder übersehen? Die Geschichte von Adam und Eva bietet eine Antwort auf diese Frage. Was Eva erlebt hatte, als sie vor dem verbotenen Baum stand, wird genau berichtet. Es heißt: Da sprach die Schlange zum Weibe:...an dem Tage, da ihr davon esset, werden eure Augen aufgetan, und ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist. Und das Weib sah, dass von dem Baum gut zu essen wäre und dass er eine Lust für die Augen wäre und verlockend, weil er klug machte.

Hier haben wir eine Erscheinung, die wir heute kennen: die sogenannte Erlebnisgesellschaft. Die Menschen heute sind erlebnisorientiert und haben deshalb wenig Geduld mit Dingen, die nicht sofort ein Erlebnis bieten. Eva sieht hier die Möglichkeit, sofort durch ein sinnliches Erlebnis den vollen Durchblick zu bekommen. Wenn Eva heute lebte, würde sie sich sagen: Warum sollte ich einen christlichen Gesprächskreis aufsuchen und warum sollte ich mich auf einen jahrelangen Lernprozess einlassen, wenn man sofort den schlauen Durchblick bekommen kann? Deswegen gibt es Menschen, die – was ihren Glauben betrifft - sich lieber durch Fernsehberichte bilden lassen, denn da bekommt man den schlauen Durchblick innerhalb einer Stunde vermittelt, und alles leicht verdaulich präsentiert; man braucht nicht die Bequemlichkeit der Wohnung zu verlassen. Adam und Eva bevorzugten den verbotenen Baum, der eine sofortige Erwachsenenbildung versprach, anstatt geduldig die 1000 andere Bäume im Garten Eden auszuprobieren. Dementsprechend wird der Gottesdienst manchmal allein nach dem Kriterium beurteilt, ob er ein sofort spürbares, sinnliches Erlebnis bietet oder nicht.

Aber die Wunder Gottes sind nicht identisch mit Erlebnissen. Ein Wunder ist nicht unbedingt ein Erlebnis. Ein Erlebnis kann man mit den Sinnen wahrnehmen. Ein Wunder kann man zuerst nur mit den Augen des Glaubens wahrnehmen; vielleicht wird ein Wunder zu einem Erlebnis, aber nicht notwendigerweise.

Wir haben als Gemeinde in erster Linie Wunder zu bieten – nicht unbedingt Erlebnisse, obwohl sie auch vorkommen – sondern Wunder der Gnade. Und wir sind in dieser Hinsicht als Gemeinde noch reich an Möglichkeiten: wir haben viele Angebote und wir haben einen Stamm von Menschen, die unsere Gottesdienste und unsere Gruppen mit Treue und Beständigkeit aufrechterhalten. Aber es ist keine Selbstverständlichkeit, dass wir diesen Reichtum erhalten. Was nicht geschätzt wird, kann uns verloren gehen.

Möge Gott uns helfen, die Wunder zu sehen, die direkt vor unseren Augen sind, damit wir als Gemeinde nicht stagnieren, sondern weiterhin lebendig bleiben, und uns weiterhin in die Richtung bewegen, die für uns vorgesehen ist – von Innen nach Außen – und vorwärts, nicht rückwärts – in die Zukunft Gottes hinein.