Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Martin Vorländer: Heiligabend

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Heiligabend

Himmelsgesang zwischen Pommes und Latte


Predigt gehalten von Pfarrer Martin Vorländer am 24. Dezember 2010 in der Bergkirche

Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt! Amen.

Liebe festliche Gemeinde!

Abgekämpft im Einkaufszentrum

Essenfass- und Kaffeetrink-Station kurz vor Weihnachten in einem Einkaufszentrum in oder um Frankfurt – MyZeil, NordWest- oder MainTaunusZentrum. Man schiebt sich abgekämpft durch die Menschenmassen. Haben die Leute kein Zuhause? Weihnachten kommt doch nicht überraschend. Müssen die wirklich alle genau dann Geschenke einkaufen gehen, wenn ich das will? Muss der Typ vor mir so rumschlendern? Mann, geh mir aus dem Weg! Beide Hände voll mit Tüten quetscht man sich durch die Tischreihen in der Cafeteria, kickt mit dem Fuß einen gerade noch freien Stuhl zurecht und sinkt erschöpft nieder.

Nerven behalten

Gegenüber am Tisch sitzt eine Dame und will gleich ein Gespräch anfangen: „Lecker, dieser Latte machiato, mal was anderes als Filterkaffee. Tut gut bei dem Wetter. Überhaupt, der viele Schnee!“ Man nickt mit einem etwas verzogenen Lächeln. Das Kind am Nachbartisch holt gerade tief Luft für die nächste Schreiattacke. Im Rücken spürt man die scheppernden Bässe aus dem I-Pod des Jugendlichen mit der schief aufgesetzten Justin-Bieber-Kappe. „Halleluja!“, denkt man sich. Jetzt nur die Nerven behalten, sonst werde ich noch vor Weihnachten wahnsinnig.

Halleluja ins Handy

Eine junge Frau steht auf, das Handy am Ohr. Es sieht nach einem der üblichen Handygespräche aus: Wo bist du? – Hier, am Tisch links. – Ich seh dich nicht… Ah, da bist du! Doch statt zu telefonieren tut sie den Mund auf und – singt: „Halleluja!“ Und noch mal: „Halleluja! Halleluja!“ Der junge Mann im Kapuzen-Sweatshirt, der eben noch ins Gespräch mit seiner Freundin vertieft war, springt auf seinen Stuhl und fällt mit klarer Tenorstimme ein: „Halleluja, Halleluja!“ Hinten am Bankautomat, der ältere Mann und die Frau, statt Geld zu holen, singen sie: „Der in allem mächtige Gott regiert. Halleluja!“ Der Putzmann schwenkt sein Schild „Vorsicht, frisch gewischt“ und singt: „Das Reich dieser Welt ist das Reich Gottes geworden.“ „Halleluja, Halleluja“, klingt es aus immer mehr Kehlen.

Ketchup im Mund-, Träne im Augenwinkel

Sprachlos schaut man sich um. Die Hälfte der Cafeteria ist auf den Beinen und singt Halleluja. Der anderen Hälfte bleibt der Mund vor Staunen offen stehen. Eine Frau wischt sich das Ketchup aus dem Mund- und eine Träne aus dem Augenwinkel. Ohne ihren Blick von diesen singenden Menschen zu nehmen, fasst die Mutter des Schreikindes nach der Hand ihres Kleinen - das hat ganz vergessen zu plärren. Die Cafeteria ist ein einziger Klang-Dom: „King of Kings and Lord of Lords forever and ever. Halleluja!”, “König der Könige, Herr der Herren von Ewigkeit zu Ewigkeit. Halleluja!“

Händel-Halleluja-Flash-Mob

„Händel-Halleluja-Flash-Mob“ nennt sich diese Aktion. Das Video, wie in einer Shopping Mall immer mehr Menschen das Halleluja von Georg Friedrich Händel anstimmen, ging in dieser Advents- und Weihnachtszeit als Link und per E-Mail vielfach um die Welt. Vielleicht haben Sie es auch bekommen und gesehen.

Himmelsgesang zwischen Pommes und Latte

Ein heiliger Schauer geht einem dabei über den Rücken. „Das Reich der Welt ist das Reich Gottes geworden“. Die Cafeteria mit Pommes, Latte machiato und Einkaufstüten ist auf einmal erfüllt vom Lob Gottes. Es ist, als käme ein Stück Himmel auf die Erde, mitten hinein in unsere geschäftige Alltäglichkeit. Und man selbst, ob gerade abgekämpft oder gelassen, genervt oder angeregt, ist hineingenommen in diesen Himmelsgesang.

Engel-Flash-Mob

So könnte man sich vorstellen, dass es gewesen sei, damals bei den Hirten auf dem Felde bei ihrer Herde. Ein Engel-Flash-Mob. Zwischen Schafsdung und Ziegen-Geblöke, bei kalten Fingern, die man wärmend ans Feuer hält, und kreisenden Gesprächen, um sich die Nacht zu vertreiben, erscheint auf einmal ein Engel, der verkündet: „Fürchtet euch nicht! Euch ist heute der Heiland geboren.“

Schaudern und Staunen

Die nervende Nachtschicht, die Sorge, dass auch kein Schaf im Dunkeln abhanden kommt, die unruhige Frage, wie es weiter geht, ob man morgen wieder eine Anstellung bekommt und sich als gemieteter Hirte verdingen kann, all das ist mit einem Mal wie weggeblasen. Da ist nur noch Schaudern und Staunen über diese himmlische Lichtgestalt in tiefster Nacht.

Noch ein Engel und noch einer

Warum taucht der Engel jetzt auf, ausgerechnet hier bei den Hirten Gott ab von aller Welt? Doch für Fragen ist keine Zeit, denn schon kommt zu dem ersten Engel noch ein Engel und noch einer und noch einer. Die ganze Menge der himmlischen Heerscharen, sie singt: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden!“ Mit einem Mal wird diese Welt zu Gottes Welt. Das Feld der Hirten ist nicht mehr nachtgrau, karg und abgegrast. Alle Dinge, die ganze Gegend ist in das Leuchten der Klarheit des Herrn getaucht. Die wettergefurchten Gesichter der Hirten selbst leuchten.

Wir sind mehr als Arbeitstiere

Und es erfasst die Hirten eine Ahnung, dass wir Menschen nicht nur Arbeitstiere sind, die sich abrackern, rennen und rennen und doch meistens nur unserer Zeit, unserer Bestimmung hinterherlaufen. Wir sind mehr: Wir sind Menschen in Gottes Welt, erleuchtet von der Klarheit des „Königs der Könige, des Herrn der Herren“. Forever and ever. Hier, jetzt und in Ewigkeit.

Wir sind mehr als Einzelwesen

Wir sind mehr – nicht nur Einzelwesen in ihren Laufrädern, die separat voneinander sich durchkämpfen und froh sind, wenn kein anderer nervt oder im Weg ist. „Euch ist heute der Heiland geboren!“, sagt der Engel. Die Weihnachtsbotschaft lässt gemeinsam aufbrechen und führt zusammen. Zur Krippe kommen Hirten und Könige, Weise und schlichte Gemüter. Kinder spielen in der Nähe der großen Tiere. Tagträumer finden sich neben Nachtschwärmern ein. Einheimische und Ausländer, Alte und Junge, Menschen und Tiere bestaunen das Wunder, das Gott uns schenkt mit der Geburt dieses Kindes, Jesus Christus.

Fürchterlich

In einer Welt, die an so vielen Enden auseinander zu fallen droht, braucht es solche starke Symbole der Verbundenheit zwischen Mensch und Mensch, Gott und Mensch. „Fürchtet euch nicht!“, sagt der Engel. Das setzt voraus, dass einiges zum Fürchten ist. „Ich finde Weihnachten einfach nur fürchterlich“, sagt ein Mann. „Die ganze Adventszeit habe ich Magenkrämpfe bei diesem Heile-Welt-Gedudele an jeder Ecke. In meinem Leben ist nichts heil und ich kann dieses Weihnachten-Familien-Seligkeits-Spiel nicht mitspielen.“

„Ich fürchte mich vor Weihnachten“, sagt eine Frau. „Es ist das erste ohne meinen Mann.“

„Wie sollen wir uns über das Kind in der Krippe freuen, wenn wir gerade selbst unser Kind verloren haben?“, sagt ein junges Paar, das gerne Eltern geworden wäre.

„Geh bitte nicht auf den Weihnachtsmarkt“, sagt ein Mann zu seiner Freundin. „Mir machen diese Terrorwarnungen Angst. Wer weiß, was passiert und wo…“

'The Adoration of the Shepherds', 1504-1505, Albrecht Dürer

Fürchterlich, diese Unsicherheit: Ist die Krise nun vorbei oder nicht? Dürfen wir aufatmen oder müssen wir doch noch ein böses Ende befürchten, das dann nicht nur irgendwelche Finanzmärkte abstrakt weit weg, sondern jeden Einzelnen trifft?

Friede auf Erden – wo denn? Wie ist das mit den kleinen Nadelstichen und handfesten Streitereien, die gerade jetzt an Weihnachten passieren in Ehen, Familien, zwischen Freunden, wenn Erwartungen und Gefühle hoch gespannt und die Nerven blank liegen? Wie ist das mit den Dauerkonflikten in der Welt? Israel und Palästina, Afghanistan, Irak… Hört das nie auf?

Geburtstort: Bruchbude

„Welt ging verloren, Christ ist geboren“, werden wir am Ende des Gottesdienstes beim „O du fröhliche singen“. Schauen Sie sich auf unserem Liedblatt die Krippe an. Die Welt ist nicht heil, in die Gott als ein Kind hineingeboren wird. Gottes Geburtstort ist eine Bruchbude. Das Dach ist löchrig, die Mauern sind von Unkraut überwachsen und zum Teil eingestürzt. Das Kreuz der Holzbalken im Dachgiebel deutet an, welche Grausamkeit auf den hier neugeborenen König wartet. Das Kind liegt in dieser zugigen Hütte nackt und bloß. So nackt und bloß, wie man sich im Leben fühlen kann, nicht nur als Kind. Auch wenn man erwachsen und arriviert ist und meint, seine Laufbahn im Leben gefunden zu haben, gibt es Ereignisse, die einen mit einem Schlag schutzlos dastehen lassen.

Leben – eher windiger Stall als Palast

Selbst wer sagen kann: Schaut her, mein Leben: ein glänzender Palast! Selbst diese Glücklichen wissen, dass es verdammt schnell nass reingehen kann. Der ganze Palast nützt nichts, wenn die Fundamente des Lebens ins Wanken geraten. Unser Leben ist wie dieser Stall auf dem Holzschnitt, den Albrecht Dürer gemacht hat: brüchig, fragmentarisch, nie ganz fertig. Wir bauen daran, basteln, manchmal bricht etwas ab, dann bauen wir an anderer Stelle weiter.

Genau da will Gott wohnen

Ein Palast ist unser Leben nur selten. Aber das muss es auch nicht sein. Gott will Wohnung in unserem Leben nehmen, das ist die Botschaft von Weihnachten. Gott kommt mitten in den Brüchen unseres Lebens zur Welt. Er kommt in eine Notunterkunft. Nichts scheint perfekt, nichts vollkommen. Aber Christus kommt genau in dem Haus zur Welt, das unser Leben ist.

Mensch aus Fleisch und Blut

Wenn damals in Bethlehem Gott in ein kleines Kind eingetaucht ist, in einen Menschen aus Fleisch und Blut, dann heißt das, ein vergehender menschlicher Körper ist schön genug, um Gefäß des Göttlichen zu sein. Dann heißt das, wir sind geliebte und wunderbare Menschen. In unserem Haus kann das Licht wohnen. In unserem Haus kann das Leben wohnen. In unserem Haus kann Gott wohnen.

Gut genug, groß genug, weit genug

Fürchtet euch nicht, sagen die Engel. Fürchtet euch nicht zu vertrauen. Das Haus Eures Lebens, wie immer es aussieht, ist gut genug, ist groß genug, ist weit genug, ist frei genug, damit Gott darin wohnen kann. Gott kommt uns mit Liebe entgegen.

'Weihnachtsbild über dem Altar in der Bergkirche'

Kein Kind in der Krippe?

Lassen Sie zum Schluss Ihren Blick wandern vom Liedblatt hin auf das Weihnachtsbild, das wir hier über dem Altar vor Augen haben. Kinder der Gemeinde haben es vor gut 40 Jahren gemalt. Manche heute Abend unter uns waren damals dabei und erinnern sich noch genau: den Stern, den Hirten habe ich gemalt. Es gibt sogar eine Dame, die verschmitzt gestanden hat, dass es sie immer gestört hat, dass kein Kind in der Krippe zu sehen ist. Da hat sie sich einmal eine Leiter genommen, ist hoch gestiegen und hat vorsichtig wenigstens andeutungsweise einen Kopf ins Stroh gezeichnet, so dass sie heute weiß: Es liegt ein Kind in der Krippe.

Hirten, Schafe und zu klein geratene Elefanten

Auf dem Altarbild sehen Sie die große Bewegung, die Weihnachten auslöst: ein Strömen hin zur Krippe. Nicht Spaltung und Entzweiung, sondern Verbundenheit und Liebe sind es, was die Welt im Innersten zusammenhält. Hirten, Schafe, etwas klein geratene Elefanten sind auf dem Weg. Und darüber ein Sternenhimmel, wie er üppiger und individueller nicht sein könnte: Sterne mit zwei, drei, fünf, vielen Zacken, in klarer Form oder auch etwas aus der Form geraten.

Sterne in Form oder auch aus der Form

So dürfen wir als Gottes Menschen sein: in Form oder auch mal aus der Form geraten, aber jeder und jede mit eigenem Leuchten. So kommt der Himmel auf die Erde und fängt an zu singen in unseren Einkaufszentren, Ställen, Häusern oder auch Paläste, damit wir aus voller Kehle oder mit brüchiger Stimme einstimmen in den Engelsgesang: Halleluja! Ehre sei Gott in der Höhe und auf Erden Frieden! Amen.

Das Gemälde 'The Adoration of the Shepherds', 1504-1505, Albrecht Dürer, ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.

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