Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Jürgen Seidl: Ich steh an Deiner Krippen hier (EG 37)

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'Geburt des Kindes', 1986 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

'Geburt des Kindes', 1986 - Walter Habdank. © Galerie Habdank

Heiligabend

Ich steh an Deiner Krippen hier (EG 37)

Predigt gehalten von Pfarrer Jürgen Seidl am 24.12.2007 in der Dreikönigskirche in Frankfurt am Main

„Ich steh an Deiner Krippen hier, o Jesu du mein Leben“. Nach der Predigt, liebe Gemeinde, werden wir dieses Lied gemeinsam singen. Ein sehr persönliches Weihnachtslied. Es ist nicht so populär und berühmt wie "O du fröhliche" oder "Stille Nacht". Kein Kaufhaus benutzt es als musikalische Untermalung in der Adventszeit. Dazu ist seine kunstvolle Melodie, die wohl von Johann Sebastian Bach stammt, zu ruhig und verhalten. Der lutherische Pfarrer und Lieder-Dichter Paul Gerhardt hat den Text verfasst. In diesem Jahr haben wir seinen 400. Geburtstag gefeiert.

Das Lied war ursprünglich gar nicht für den Gemeinde-Gottesdienst gedacht, sondern für die private Hausandacht, für die persönliche Betrachtung des Einzelnen. Jeder kann mit diesem Lied an die Krippe treten, dort innehalten und sich in das Wunder von Weihnachten versenken.

In Gedanken steht Paul Gerhardt an der Krippe, in der das Jesuskind liegt. Er betrachtet die Szene im Stall von Bethlehem. Und er ist hingerissen, von dem, was er da sieht. Er kommt aus dem Staunen nicht heraus. Andere haben nur einen kurzen Blick auf die Krippe geworfen und sind schon wieder weg, wundern sich vielleicht noch etwas, warum da einer solange verweilt; was gibt’s denn da schon groß zu sehen? Doch Paul Gerhardt steht immer noch da und schaut voll Freude. Es ist als ob die Zeit still steht. Manchmal stehen Eltern so an der Wiege ihres neugeborenen Kindes, betrachten es mit zärtlichen Blicken, achten auf jede Kleinigkeit und können sich von diesem wunderbaren Anblick gar nicht losreißen. So schaut Paul Gerhardt ganz gebannt auf das Jesuskind, und kann sich nicht satt sehen.

Die uns vertrauten Figuren der Weihnachtsgeschichte kommen dabei nicht in den Blick. Maria und Josef, Ochs und Esel im Stall, die Hirten mit ihren Schafen, die Engel und die Weisen aus dem Morgenland mit ihren Geschenken – mit keinem Wort werden sie erwähnt. Paul Gerhardt hat nur Augen für das Kind. Aber was heißt da „nur“? Diese Beschränkung ist eine Konzentration auf das Entscheidende, ein Blick für das Wesentliche. So hat es einst auch Martin Luther mit seiner Parole „Christus allein“ gemeint. Und der Lutheraner Paul Gerhardt folgt ihm darin.

Paul Gerhardt

Doch was ist so besonderes an diesem Neugeborenen? Was gibt es da zu sehen in der Krippe? Paul Gerhardt sieht in diesem Kind das Geheimnis der unbegreiflichen Liebe Gottes. Darum steht er solange da. Darum schaut er so gebannt. Und indem er sich in den Anblick dieser Liebe versenkt, kommt er zu sich selbst und findet das Leben - sein Leben, das was sein Leben ausmacht und bestimmt, was es hält und trägt und ihm Sinn gibt.

In diesem Kind erschließt sich ihm das Geheimnis des Lebens, erschließt sich ihm die Mitte und das Ganze seines Daseins. Im Bild des Kindes in der Krippe kann er sich selbst mit neuen Augen anschauen: als einen von Gott geliebten Menschen, dem im Glauben an Jesus Christus ein erfülltes Leben geschenkt wird. Und darum betet er dieses Kind an und sagt zu ihm: „O Jesu, du mein Leben“.

An der Krippe stehend sieht er ein Kind, dessen Geburt ihn ganz persönlich betrifft - obwohl es schon lange vor ihm geboren wurde: „Da ich noch nicht geboren war, da bist du mir geboren und hast dich mir zu eigen gar, eh ich dich kannt, erkoren.“ Das ganze Wesen dieses Kindes ist liebende Zuwendung. Gott hat ihn schon gesehen, er hat schon an ihn gedacht, bevor er geboren wurde. Er hat ihn erwählt und von Anfang an dazu bestimmt, sein Kind zu sein. So wie werdende Eltern in froher Erwartung das Kinderzimmer einrichten und sich auf die Geburt ihres Kindes freuen - so weiß Paul Gerhardt sich von Gott schon im voraus angenommen und geliebt. Gott hat sich schon Gedanken gemacht, wie er ihm ganz nahe kommen kann, wie er sein Gott werden kann als er noch gar nicht auf der Welt war.

Diese Erkenntnis verdankt sich einem biblischen Psalm. In Psalm 139 heißt es: „Deine Augen sahen mich als ich noch nicht bereitet war und alle Tage waren in dein Buch geschrieben, die noch werden sollten und von denen keiner da war“ (Ps 139,16). Der Beter dieses Psalmes begreift: Gott rief mich einst ins Leben. Er kannte mich schon als es mich noch gar nicht gab. Denn schon da war ich ein Gedanke Gottes.

Vor Gott ist nichts verborgen. „Spräche ich: Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein“, heißt es weiter in diesem Psalm, „so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag“ (Ps 139,11.12). Gott erhellt auch noch die tiefsten Dunkelheiten des Lebens.

In diesem Licht werden auch die schmerzlichen Erfahrungen nicht übersehen, die zu unserem Leben gehören. Darum redet Paul Gerhardt auch von den Todesnächten, die uns manchmal umfangen. Nächte, in denen die Traurigkeit Raum greift und kein Ende nehmen will. Er selbst musste ja oft die schmerzliche Erfahrung machen, dass sein Herz im Leibe weint und keinen Trost finden kann, wie es in der fünften Strophe heißt.

Kein menschliches Schicksal ist von Enttäuschungen frei. Uns allen widerfährt, was mit unseren Vorstellungen von uns selbst und von einem gelingenden Leben nicht zusammenpasst. Paul Gerhardt erlebte im dreißigjährigen Krieg die Verwüstung Deutschlands. Sein Bruder starb an der Pest. Mit zwölf Jahren verlor Paul Gerhardt den Vater, mit vierzehn die Mutter. Vier seiner fünf Kinder überlebten das Kindesalter nicht. Seine Frau Anna Maria stirbt vor ihm, und der verwitwete Pfarrer steht mit seinem fünf Jahre alten Sohn alleine da.

Doch der Glaube an Jesus Christus hat auch diese Dunkelheiten seines Lebens erhellt. Und Paul Gerhardt bekennt: „Ich lag in tiefster Todesnacht, du warest meine Sonne, die Sonne, die mir zugebracht Licht, Leben, Freud und Wonne." Das sind Worte des Glaubens. Eine innere Befreiung aus Not und Angst hat er erlebt. Das Leben wendet sich zum Guten. Die Verheißung des Propheten Jesaja erfüllt sich: „Das Volk, das im Finstern wandelt sieht ein großes Licht; und über denen die da wohnen im finstern Land, scheint es hell!“ Jesus Christus ist gekommen, Licht in die Dunkelheit zu bringen: in die Dunkelheit von Traurigkeit und Angst, von Schuld und Verzweiflung, von Krankheit und Tod.

Durch den Glauben an Jesus Christus leuchtet Licht auf und neue Zuversicht entsteht, wo finstere Nacht war. Diesen Glauben erlebt Paul Gerhardt als Geschenk: „Oh Sonne, die das werte Licht des Glaubens in mir zugericht“. Das Kind in der Krippe ist sein Sonnenschein, sein ein und alles. Es schenkt ihm neues Vertrauen zu Gott und neue Freude am Leben.

Und nun überlegt Paul Gerhardt, was er denn seinerseits dem Kind schenken könnte; dem kleinen Kind, in dem ja der große Gott selbst zu ihm gekommen ist, der Schöpfer des Himmels und der Erden, der doch schon alles hat, der alles gemacht hat, auch ihn selbst. Und Paul Gerhardt merkt: ich kann ihm ja nur schenken, was er mir gegeben hat. Und ich will ihm das Kostbarste schenken, das ich habe: mein Leben, mein Herz, mein Vertrauen, meine Liebe, mein Denken und Fühlen - mich selbst.

Das will er ihm geben: „Ich komme, bring und schenke dir, was du mir hast gegeben. Nimm hin, es ist mein Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, nimm alles hin und lass dir’s wohlgefallen“. Das sind Worte der Liebe. Auf die erfahrene Liebe Gottes antwortet er mit Gegenliebe. Denn einander lieben heißt doch: sich einander schenken.

Darum will Paul Gerhardt Gott ganz in sich aufnehmen. Er wünscht sich, sein Inneres würde so tief und weit werden, dass es den sich aus Liebe hingebenden Gott erfassen könnte: „O dass mein Sinn ein Abgrund wär und meine Seel ein weites Meer, dass ich dich möchte fassen“. Das sind Worte grenzenloser Sehnsucht.

'Anbetung der Hirten', c. 1644, Georges de La Tour

Doch wie soll das gehen? Wie kann ein kleiner Mensch den großen Gott erfassen? An der Krippe stehend sieht Paul Gerhardt staunend, wie klein sich Gott für uns macht. Gott nimmt Wohnung unter uns Menschen. Er kommt zu denen, die ein verzagtes Herz haben und kaum noch Gutes zu erhoffen wagen. Er ist auch für die da, die ihn zynisch herausfordern oder ihn resigniert ablehnen. Und er kommt den Menschen nahe, die einzig von ihm alles erwarten und sich mit nichts anderem mehr abspeisen lassen.

Gott wurde in diesem Kind für uns geboren und ist am Ende für uns gestorben, damit wir vom Bösen erlöst werden und ein neues Leben anfangen. Nicht nur vor der Krippe, auch vor dem Kreuz können wir daher letztlich nur staunend, dankend und anbetend stehen bleiben. Auch davon redet Paul Gerhardt: „Du hast dich bei uns eingestellt, an unsrer Statt zu leiden, suchst meiner Seele Herrlichkeit durch Elend und Armseligkeit.“

Gottes Herablassung in unsere Armut ist das Zeichen seiner uns verändernden Liebe. Der Apostel Paulus hat es so gesagt: „Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich ist, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich würdet“ (2 Kor 8,9). Gott hat sich in der Geburt Jesu Christi untrennbar mit unserem Menschsein verbunden, um das Leben des Menschen wieder seiner eigentlichen Bestimmung zuzuführen, um es ganz mit dem göttlichen Reichtum seiner Liebe zu erfüllen.

Und darum endet das Lied Paul Gerhardts mit der Bitte: „So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“ Paul Gerhardt hat im Licht des Glaubens Gottes Liebe in Jesus Christus erkannt. Und nun möchte er ihn in seinem Herzen tragen - das ganze Jahr über und das ganze Leben hindurch. Er möchte Jesus Christus Raum geben in seinem Leben, seine Gegenwart wahrnehmen und darüber froh und dankbar sein, weil er gesehen und erfahren hat, was Gott uns mit seinem Sohn an Weihnachten schenkt.

Paul Gerhardt hat in diesem Weihnachtslied seine ganz persönliche Erfahrung im Glauben aufgeschrieben. Vielen Menschen sind seine Verse zu einer Quelle des eigenen Glaubens geworden. Andere haben sich wohl auch geärgert über sein stures und konsequentes Gottvertrauen, das zu den eigenen Fragen und Zweifeln oft so gar nicht passen will. Sein Lied ist gleichwohl eine bleibende Einladung mit einzustimmen, sich die Liebe Gottes gefallen zu lassen und sie zu erwidern.

Weihnachten beginnt in der Tiefe des Herzens. Es berührt uns im Inneren und strahlt aus in das ganze Leben: „So lass mich doch dein Kripplein sein; komm, komm und lege bei mir ein dich und all deine Freuden.“

Amen

Die Abbildung von Paul Gerdardt ist im public domain, weil sein copyright abgelaufen ist.
Die Abbildung 'Anbetung der Hirten', c. 1644, Georges de La Tour, und dessen Reproduktion gehört weltweit zum "public domain". Das Bild ist Teil einer Reproduktions-Sammlung, die von The Yorck Project zusammengestellt wurde. Das copyright dieser Zusammenstellung liegt bei der Zenodot Verlagsgesellschaft mbH und ist unter GNU Free Documentation lizensiert.

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