Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Frankfurt am Main - Sachsenhausen

Predigten von Pfarrer Jürgen Seidl: Heb 10,19 - 25

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Neuburg an der Donau, Stadttheater

1. Sonnntag im Advent

Heb 10,19 - 25

Predigt gehalten von Jürgen Seidl am 02.12.2007 in der Dreikönigskirche in Frankfurt am Main

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit Euch allen. Amen.
Der Predigttext für den heutigen 1. Sonntag im Advent steht im Brief an die Hebräer im 10. Kapitel.

Weil wir denn nun, liebe Brüder, durch das Blut Jesu die Freiheit haben zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang, das ist: durch das Opfer seines Leibes, und haben einen Hohenpriester über das Haus Gottes, so laßt uns hinzutreten mit wahrhaftigem Herzen in vollkommenem Glauben, besprengt in unseren Herzen und los von dem bösen Gewissen und gewaschen am Leib mit reinem Wasser. Laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken; denn er ist treu, der sie verheißen hat; und laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken, und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen, sondern einander ermahnen, und das um so mehr, als ihr seht, dass sich der Tag naht. Heb 10,19 - 25

Der Vorhang ist offen, liebe Gemeinde. Wir kennen das aus dem Theater. Wir sitzen auf unseren Plätzen. Der Vorhang geht auf. Das Stück beginnt.

Vielleicht ist es ein heiteres und unterhaltsames Stück mit einem glücklichen Ausgang; eine Komödie, bei der es etwas zu lachen gibt. Und wir gehen anschließend fröhlich und beschwingt nach Hause, weil wir uns gut amüsiert haben.

Vielleicht bekommen wir aber auch eine Tragödie zu sehen, in der Blut fließt und Menschen zu Tode kommen; ein Stück mit einem offenen Ende; ein Stück, das Fragen aufwirft und uns nachdenklich macht oder gar ratlos.

Dann wünschen wir uns möglicherweise, dass sich der Vorhang noch einmal hebt und unsere Fragen beantwortet werden. Doch das passiert nicht. Der Dichter Berthold Brecht hat das treffend formuliert: „Wir sehn betroffen den Vorhang zu und alle Fragen offen“.

Heute öffnet sich der Vorhang für ein neues Stück: Advent und Weihnachten steht auf dem Spielplan. Nun - ganz so neu ist das Stück natürlich nicht. Es ist uns vertraut. Es wird jedes Jahr gespielt. Die meisten mögen es. Doch dieses Stück wird jedesmal neu inszeniert. Im Laufe der Zeit verändert es sich. Oder wir verändern uns und sehen das Stück mit anderen Augen. Wie Advent und Weihnachten wohl diesmal wird?

Das Bühnenbild steht jedenfalls. Die Kulissen sind aufgebaut. Der Adventskranz ist hergerichtet. Die erste Kerze brennt. Die Lichterketten wurden hervorgeholt und was sonst noch dazu gehört: Engelsfiguren, Plätzchen, die passende Musik. Nun kann das Stück wieder neu inszeniert werden. Was wird diesmal eine Rolle spielen?

Die Erwartungen und Wünsche sind in der Regel hoch. Tragisch und problembeladen soll es nicht zugehen. Eher friedlich und besinnlich, auch heiter, jedenfalls mit einem guten Ausgang: ein frohes Weihnachtsfest und einen harmonischen Jahresausklang – das wünschen wir uns.

Das gelingt mal mehr, mal weniger gut. Mitunter folgen auf hohe Erwartungen auch tiefe Enttäuschungen. Unsere Wünsche und die Realität passen nicht immer zusammen. Und daher ist mancher vielleicht ganz froh, wenn der Vorhang sich nach Weihnachten schließt und alles wieder seinen normalen Gang geht.

Heute hören wir: Der Vorhang ist offen. Jesus Christus hat ihn beiseite geschoben. Der Weg ist frei. Wir dürfen eintreten. So sagt es uns der Hebräerbrief am Beginn der Adventszeit: „Wir haben die Freiheit zum Eingang in das Heiligtum, den er uns aufgetan hat als neuen und lebendigen Weg durch den Vorhang“.

Die Szene, auf die der Hebräerbrief hier anspielt, wirkt wie aus einer sehr modernen Inszenierung. Da schreitet ein Mann feierlich durch einen Raum und geht langsam auf einen Vorhang zu. In der Hand hält er ein kostbares Gefäß voll mit Blut. Er schiebt den Vorhang beiseite, betritt den dahinterliegenden Raum, in dem ein merkwürdiger Kasten steht und gießt das Blut auf den Boden. Dabei rezitiert er religiöse Texte. Das wirkt seltsam und befremdlich. Aber in modernen Theater - Inszenierungen geht es ja oft etwas seltsam zu.

Die geschilderte Szene gehört allerdings zu einem sehr alten Stück. Vor unseren Augen spielt sich eine Art antikes Drama ab. Der Ort der Handlung ist der Tempel von Jerusalem. Dort hing vor dem Allerheiligsten ein Vorhang. Gott war verhüllt. Der Zutritt zu ihm war verwehrt. Nur einmal im Jahr gab es für einen einzigen Menschen eine Ausnahme. Am Versöhnungstag betrat der Hohepriester das Allerheiligste. Er allein. Und er opferte dort das Blut geschlachteter Tiere für die Sünden des Volkes.

Der Versöhnungstag war ein Bußtag, ein Tag der Umkehr und Neubesinnung. Die Menschen dachten über ihr Leben nach. An diesem Tag wurde nichts mehr unter den Teppich gekehrt. Da kam alles auf den Tisch, all die Widersprüche und Ungereimtheiten des Lebens, alles was sich aufgebaut hatte an Schuld und Versagen zwischen den Menschen und zwischen Gott und seinem Volk.

Und dann wurde all das vor Gott bereinigt. Das war befreiend und entlastend. Die Menschen konnten aufatmen. Sie konnten sich erlöst von allen Belastungen und Verfehlungen neu dem Leben zu-wenden. Es wurde ein neuer Anfang gemacht.

Dazu bietet auch die Adventszeit Gelegenheit. Die Adventszeit ist eine Vorbereitungszeit. Sie lädt uns ein, über unser Leben nachzudenken und alles aus dem Weg zu räumen, was zwischen uns und Gott steht. „Macht hoch die Tür“ haben wir zu Beginn gesungen, „die Tor macht weit. Es kommt der Herr der Herrlichkeit“. Vom Einzug Jesu in Jerusalem haben wir gehört. Eine eindrückliche Inszenierung. Jesus reitet auf einem Esel. Er kommt als ein Friedefürst. Die Menschen jubeln ihm zu: „Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe!“ (Mth 21,9b).

Gott ist in Jesus Christus zu uns gekommen. Nun ist der Weg frei. Wir können unsererseits mit allem, was uns beschäftigt, zu Gott kommen. In der Geschichte Jesu Christi hat sich ein ganz ähnliches Drama abgespielt wie einst im Tempel von Jerusalem. Der Hebräerbrief vergleicht Jesus mit dem Hohenpriester, der sich mit dem Opferblut in die Nähe Gottes wagt. Nur hat Jesus keine Tiere geopfert, sondern aus Liebe zu uns sein eigenes Leben dahingegeben. Ein dramatisches Stück also. Es geht um Liebe und Leidenschaft, um Leben und Tod und es fließt Blut. Doch am Ende geht es gut aus: "Durch das Blut Jesu haben wir die Freiheit zum Eingang in das Heiligtum."

Und darum kann es ruhig so anfangen wie im Theater. Wir setzen uns hin und schauen zu. Wir sehen wie sich der Vorhang öffnet und wie Jesus Christus als Hoherpriester in das Allerheiligste geht. Als Jesus Christus am Kreuz starb, zerriß der Vorhang im Tempel "in zwei Stücke von oben an bis unten aus" (Mk 15,38). Von oben, vom Himmel, von Gott her wird das Trennende beseitigt. Der Tod Jesu macht uns den Weg zu Gott frei.

'Christus als Schmerzensmann', Lukas Cranach der Ältere

Mich hat das an ein Bild von Lucas Cranach erinnert. In der Frankfurter Cranach-Ausstellung im Städel ist es derzeit leider nicht zu sehen. Es ist das Altarbild der Herderkirche in Weimar. Da sieht man Christus am Kreuz hängen. Ein Blutstrahl tritt aus seinem Körper und trifft in einem Bogen genau auf den Maler, der sich selbst unter das Kreuz gemalt hat. Das sieht unwirklich aus und erinnert auch etwas an ein modernes Theaterstück. Das Blut Christi trifft uns, sagt Cranach mit diesem Bild, sein Tod betrifft uns. Was da geschieht, hat mit uns zu tun.

Und daher sollen wir nicht länger nur zuschauen wie im Theater. Wir sollen mitspielen. Wir sollen uns selbst auf den Weg machen. „Laßt uns hinzutreten“, fordert der Hebräerbrief uns auf, „laßt uns festhalten an dem Bekenntnis der Hoffnung und nicht wanken. Laßt uns aufeinander achthaben und einander ermahnen“.

Die Ermahnungen des Hebräerbriefes sind Durchhalteparolen. Sie richten sich an Christen, die in ihrem Glauben müde geworden sind. Christen waren eine kleine verfolgte Minderheit, die nicht recht wußte wie es weitergehen sollte. Immer mehr Menschen kehrten der Kirche den Rücken. Darum ermahnt der Hebräerbrief: „Laßt uns aufeinander achthaben und nicht verlassen unsere Versammlungen, wie einige zu tun pflegen.“

Können wir uns darin wiederfinden? Die Zahl der Christen ist auch in Frankfurt kontinuierlich zurückgegangen. Seit 2006 machen römisch-katholische und evangelische Christen zusammen weniger als 50% der Stadtbevölkerung aus. Kirchen werden umgewidmet oder abgerissen. Dafür werden Moscheen gebaut. Einigen ist da unbehaglich zumute. Doch Frankfurt ist weder für seine Kirchen noch für seine Moscheen bekannt, sondern für seine Hochhäuser. Und an diesen Bauten kann man ablesen, was den meisten Menschen in unserer Gesellschaft wirklich wichtig ist: nicht der Glaube an den Gott der Bibel oder den Gott des Korans, sondern der Glaube an das Geld und an Macht und Einfluß.

Können uns die Ermahnungen und Durchhalteparolen des Hebräerbriefes in dieser Situation weiterhelfen? Aufeinander achthaben und einander ermahnen – das klingt doch sehr nach Kontrolle und Bevormundung.

Aber vielleicht können wir das ja auch anders hören: Da interessiert sich jemand für mich, der nimmt mich zur Kenntnis, dem bin ich wichtig, dem ist es nicht egal, wenn ich plötzlich wegbleibe, der will, dass es mir gut geht, der achtet auf mich, der will, dass ich den Weg zu einem erfüllten Leben finde. Nicht umsonst ist das ja auch ein beliebter Trauspruch: „Laßt uns aufeinander achthaben und uns anreizen zur Liebe und zu guten Werken.“ Da wird mir nicht nur etwas zugemutet, sondern auch etwas zugetraut.

Und so ermuntert und ermutigt kann ich meine eigene Rolle in diesem Stück finden. „Glaube, Liebe, Hoffnung“ heißt das Stück. Es ist das Spiel des Lebens. Im Glauben an Jesus Christus leben wir in der Liebe, die wir bei ihm erfahren haben. Wir halten fest am Bekenntnis der Hoffnung. Wir halten fest an dem, was uns Halt gibt, was uns trägt und tröstet und ermutigt.

Darum laßt uns herzutreten. Der Vorhang ist offen. Der Eintritt ist frei. Das Licht Gottes scheint in der Finsternis. Es ermutigt uns zu einem Leben in seiner Nähe. Wir gehen in diese Adventszeit mit unseren Wünschen und Ängsten, mit unserer Sehnsucht nach Leben und Frieden und mit der Verheißung der Treue Gottes: Unsere Hoffnung ist nicht umsonst. Alles wird gut.

Amen

Die Abbildung des Vorhangs im Stadttheater Neuburg an der Donau, Andreas Praefcke, 2004, wurde unter der GNU-Lizenz für freie Dokumentation veröffentlicht. Es ist erlaubt, die Datei unter den Bedingungen der GNU-Lizenz für freie Dokumentation, Version 1.2 oder einer späteren Version, veröffentlicht von der Free Software Foundation, zu kopieren, zu verbreiten und/oder zu modifizieren.
Das Gemälde 'Christus als Schmerzensmann', Lukas Cranach der Ältere, ist im public domain, weil sein copyrigth ebgelaufen ist.

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