Archiv der Evangelisch-lutherische Dreikönigsgemeinde, Frankfurt am Main - Sachsenhausen
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Predigten von Pfarrer Phil Schmidt: Palmsonntag: Jesaja 50, 4 – 9 Eine leise Botschaft

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Times Square, 11. April 2006, Noclip

Palmsonntag

Eine leise Botschaft Jesaja 50, 4 – 9

Predigt gehalten von Pfarrer Phil Schmidt 2006

Gott der HERR hat mir eine Zunge gegeben, wie sie Jünger haben, dass ich wisse, mit den Müden zu rechter Zeit zu reden. Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel. Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? Laßt uns zusammen vortreten! Wer will mein Recht anfechten? Der komme her zu mir! Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen. Jesaja 50, 4 – 9

Der Jesajatext spricht von Hören. Es heißt: „Alle Morgen weckt er mir das Ohr, dass ich höre, wie Jünger hören. Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet.“ Dieser Text ist ein Hinweis, dass Hören mehr ist als ein akustischer Vorgang.

Zum Beispiel: es wird von zwei Freunden berichtet, die in der Nähe von Times Square in New York zu Fuß unterwegs waren. Es gab den üblichen Straßenlärm: Autos, Busse, Taxis, Hupen, Sirenen. Plötzlich sagte einer der Männer: „Ich höre eine Grille“. Sein Freund war verblüfft und fragte: „Das gibt’s nicht! Wie kannst du in diesem Lärm eine Grille hören?“ Aber die Erwiderung lautete: „Nein, ich bin ganz sicher.“ Er lauschte instensiv, dann überquerte er die Straße und ging auf eine Stelle zu, wo es Büsche gab. Er suchte in den Büschen nach und fand tatsächlich eine Grille. Dieser Mann mit den guten Ohren war zufällig ein Indianer, oder - politisch korrekt ausgedrückt - ein Ureinwohner. Sein Freund sagte: „Du hast offensichtlich eine übernatürliche Hörfähigkeit.“ Aber der Mann sagte: „Nein, meine Ohren sind nicht außergewöhnlich. Es kommt darauf an, worauf die Ohren eingestellt sind. Ich zeige dir etwas.“ Er nahm Münzen aus seiner Tasche und ließ sie auf den Bürgersteig fallen.“ Trotz des Straßenlärms gab es eine Reaktion von den Passanten: alle Personen innerhalb von 5 Metern drehten ihre Köpfe um oder schauten in den Taschen nach. Und der Mann sagte: „Sehen Sie, was ein Mensch hört, hängt davon ab, was für ihn wichtig ist.“

Diese Begebenheit kann als Gleichnis dienen. Das Wort Gottes ist eine leise Botschaft in einer lauten Welt. Und ob ein Mensch diese Botschaft hört oder nicht, hängt davon ab, was für ihn wichtig ist. Und in der Bibel gibt es ein Wort, das in unserer lauten Welt leicht zu überhören ist. Es handelt sich um das Wort „Gerechtigkeit“. Wer dieses Wort vernehmen will, braucht eine besondere Hörfähigkeit.

In dem Jesajatext geht es um die Verwirklichung der Gerechtigkeit Gottes. Dieser Text aus dem Propheten Jesaja wurde traditionsgemäß auf Jesus übertragen. Es heißt in dem Jesajatext:

„Gott der HERR hat mir das Ohr geöffnet. Und ich bin nicht ungehorsam und weiche nicht zurück. Ich bot meinen Rücken dar denen, die mich schlugen, und meine Wangen denen, die mich rauften. Mein Angesicht verbarg ich nicht vor Schmach und Speichel.“

Nachdem Jesus verhaftet wurde, wurde dieser Jesajatext an Jesus erfüllt. Denn in dem Markusevangelium wird von dem Verhör Jesu berichtet, bei dem es heißt:

„Da fingen einige an, ihn anzuspeien und sein Angesicht zu verdecken und ihn mit Fäusten zu schlagen und zu ihm zu sagen: Weissage uns! Und die Knechte schlugen ihn ins Angesicht.“

Jesus hat dieses Unrecht einfach ertragen. Wie es im Jesajatext heißt: Er wich nicht zurück; d. h. er hat nicht versucht zu fliehen. Er hat nicht versucht, sich selbst zu verteidigen oder zu rechtfertigen; er hat nicht mit Vergeltung gedroht. Er hat das Unrecht nicht nur passiv erlitten, er hat sogar seinen Rücken und seine Wange „angeboten“, wie es heißt.

Und die große Frage in diesem Zusammenhang lautet: Warum eigentlich? In der heutigen Zeit gibt es eine Neigung, in dieser Haltung Jesu eine politische Taktik zu sehen, eine Taktik der Wehrlosigkeit. Martin Luther King und Mahatma Gandhi sahen in Jesus ein Vorbild für eine Strategie des wehrlosen Widerstands. Wehrloser Widerstand kann tatsächlich etwas bewirken, denn die Bürgerrechtsbewegung von Martin Luther King in den USA und die Unabhängigkeitsbewegung von Gandhi in Indien haben tatsächlich etwas erreicht. Oder es gab auch eine Frau in England, Emmeline Pankhurst, die am Anfang des 20. Jahrhunderts für das Wahlrecht der Frauen kämpfte. Unrecht-Erleiden war die stärkste Waffe der Frauen damals: sie wurden mit einer ungerechten Härte verhaftet und misshandelt, als sie für ihr Wahlrecht demonstrierten, und dieses erlittene Unrecht änderte das Bewusstsein der Bevölkerung. Emmeline Pankhurst sagte dazu folgendes: „Ich glaube, dass das freiwillige Opfer der persönlichen Freiheit die stärkste Anziehungskraft auf die Masse der Menschen hat, um ihre Sympathie und Phantasie zu erwecken: So war es immer; so wird es immer sein.“

Soll Jesus in diesem Zusammenhang gesehen werden? Wollte Jesus ein Vorbild sein für eine kluge Taktik der Wehrlosigkeit? Hat er sich selbst aufgeopfert, um durch eine Strategie des Unrecht-Erleidens etwas in Bewegung zu bringen?

Und die Antwort auf diese Fragen ist offenbar „Nein“ – wenn man davon ausgeht, dass der leidende Knecht Gottes, den Jesaja schilderte, für Jesus ein Leitbild war. Denn in der Fortsetzung des Jesajatextes heißt es:

Aber Gott der HERR hilft mir, darum werde ich nicht zuschanden. Darum hab ich mein Angesicht hart gemacht wie einen Kieselstein; denn ich weiß, dass ich nicht zuschanden werde. Er ist nahe, der mich gerecht spricht; wer will mit mir rechten? ...Wer will mein Recht anfechten? ...Siehe, Gott der HERR hilft mir; wer will mich verdammen? Siehe, sie alle werden wie Kleider zerfallen, die die Motten fressen.

Die Wehrlosigkeit Jesu ist nicht eine Taktik, sondern ein Zeugnis. Es geht darum, zu bezeugen, dass Gott seine Gerechtigkeit durchsetzen wird. Der Mensch darf deshalb Unrecht erleiden und steht nicht unter dem Zwang, seine eigene Gerechtigkeit durchzusetzen. Denn was wir Menschen unter Gerechtigkeit verstehen, führt unweigerlich zu arroganter Selbstgerechtigkeit, d. h. Gerechtigkeit auf Kosten anderer, Gerechtigkeit, die nur durch Verletzung anderer zu erreichen ist.

An dieser Stelle brauchen wir sensible Ohren, um die Botschaft zu hören, die gemeint ist. Es geht hier um eine Grundhaltung, die Jesus nach seiner Verhaftung bezeugte. Es geht hier nicht um eine Taktik oder eine Strategie, die allgemeingültig sind. Niemand soll sich dazu verpflichtet fühlen, sich jede ungerechte Anklage gefallen zu lassen. Niemand ist wegen Jesus dazu verpflichtet, jedes Unrecht passiv zu erleiden. Es geht hier nicht um ein allgemeingültiges Prinzip, sondern es geht hier um eine Haltung des Vertrauens, die die Gerechtigkeit Gottes bezeugt.

Es wird z. B. von einem osteuropäischen Rabbi berichtet, der in seinem Arbeitszimmer studierte. Seine Schüler suchten ihn auf und waren aufgewühlt; ein Pogrom gegen Juden war wieder ausgebrochen und die örtliche Synagoge stand in Flammen. Sie fragten den Lehrmeister: „Was machen wir jetzt?“ Und der Rabbi antwortete: „Wir machen zunächst nichts. Denn gibt es eine Gerechtigkeit Gottes, dann wird die Synagoge wieder aufgebaut. Gibt es keine Gerechtigkeit Gottes: wozu brauchen wir dann eine Synagoge?“

Auch in diesem Beispiel geht es nicht um eine Strategie der Wehrlosigkeit, oder eine Taktik des passiven Widerstands, oder ein pazifistisches Prinzip der Gewaltlosigkeit oder ein Gebot der Feindsliebe. Es geht um grundsätzliches Vertrauen. Wenn Gott wirklich Gott ist, dann wird er seine Gerechtigkeit durchsetzen. Der Vertrauende darf mit Geduld und Besonnenheit auf Gott warten – als persönliches Glaubenszeugnis. Das bedeutet nicht Passivität und Nichtstun, aber es bedeutet Verzicht auf Dinge wie hektische Betriebsamkeit, unüberlegte Tätigkeit, Rache und Vergeltung, arrogante Selbstrechtfertigung, verletzende Anklage.

Und Jesus wurde in seinem Warten auf Gott bestätigt, und zwar an dem Ostermorgen, als das Wunder der Auferstehung vollzogen wurde. Die Auferstehung Jesu war eine Demonstration, dass Gott tatsächlich die Macht hat, seine Gerechtigkeit überall und endgültig durchzusetzen – allerdings zu einer Zeit, die er allein bestimmen wird.

Ein Schotte mit dem Namen Andrew Carnegie war am Anfang des 20. Jahrhunderts der reichste Mann der Erde. Einmal wurde er von einem Sozialisten besucht, der ihn anklagte, dass es eine ungeheuere Ungerechtigkeit darstellt, dass er so reich sei. Er sagte: Gerechtigkeit bedeutet, dass Reichtum gleichmäßig verteilt werden muss. Daraufhin bat Carnegie seine Sekretärin auszurechnen, wie viel Geld er hatte. Dann schaute er in einem Lexikon nach, wie groß die Weltbevölkerung wäre. Er nahm Stift und Papier und rechnete aus, wie viel jeder Mensch bekommen würde, wenn er sein Geld auf alle Menschen der Welt verteilen würde. Zuletzt sagte er zu seiner Sekretärin: „Geben Sie diesen Herrn 16 Cents; das ist sein Anteil an meinem Reichtum.“

Eigenartigerweise kann diese Begebenheit als Gleichnis dienen für die Gerechtigkeit Gottes.

Denn Gerechtigkeit bedeutet, dass Gott seinen Reichtum gleichmäßig an alle Menschen dieser Erde verteilt. Und der Reichtum Gottes ist sein Leben, ein Leben, das er mit allen Menschen teilen will. Das Leben Gottes ist unvergängliches Leben. Die Gerechtigkeit Gottes bedeutet also, dass alle Menschen für Auferstehung und für unvergängliches Leben in ihm vorgesehen sind. Wer mit dieser Erwartung lebt, wird – wie es in dem Jesajatext heißt – nicht zuschanden werden.

Und diese Aussage sollten wir hören, in dieser lauten Welt, wenn das Leben schwierig wird: Die Botschaft, die man hören sollte, lautet: Gott wird seine Gerechtigkeit verwirklichen, darum werde ich nicht zuschanden. Deswegen sind unsere kleinen Beiträge zu der Gerechtigkeit Gottes nicht umsonst: kleine Liebesdienste, freundliche Worte, geduldige Treue – solche Tätigkeiten tragen zu der Zukunft bei, die Gott mit dieser Welt vorhat.

Möge Gott unsere Ohren wecken, dass wir hören, was wir hören sollen, nämlich dass Gerechtigkeit nicht aus Selbstrechtfertigung besteht, und nicht aus Vergeltung und nicht aus Rechthaberei, sondern Gerechtigkeit ist mit einer allgemeinen Auferstehung der Toten identisch. Dies ist die leise Botschaft, die innerhalb des Lärms dieser Welt zu vernehmen ist.

Noclip, der Urheber des Bildes 'Times Square, 11. April 2006', hat die Erlaubnis erteilt, es zu kopieren, zu verteilen und/oder zu modifizieren unter den Bedingungen der GNU Free Documentation License, Version 1,2 oder einer späteren Version veröffentlicht von der Free Software Foundation.

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